Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich.
Robert Walser1
In den vergangenen Jahrzehnten sind Jürgen Habermas viele Etiketten angeheftet worden: »Verfechter der Moderne« und »Der Meister der Kommunikation«, »Öffentliches Gewissen der politischen Kultur« und »Hegel der Bundesrepublik«, »Macht am Main«, »Frankfurter Feuerkopf« und »Praeceptor Germaniae«, um nur einige zu nennen.2 Dass sich diese Reihe nicht durchweg schmeichelhafter medialer Zuschreibungen problemlos fortsetzen ließe, zeigt, welch hohen Nachrichtenwert Habermas hat und dass mit Blick insbesondere auf sein Wirken als Wissenschaftler und Zeitdiagnostiker wahrlich kein Mangel an Publizität herrscht. Warum also auch noch eine Biographie über diese Persönlichkeit schreiben, zumal eine, die weder den (eher unbekannten) Privatmann Jürgen Habermas ins Zentrum stellt noch das Ziel hat, einem »Meisterdenker« zu seinem 85. Geburtstag ein Denkmal zu setzen? Schließlich leben wir in Zeiten, von denen Habermas selbst sagt, sie habe Helden ebenso wenig nötig wie Antihelden. Was den Soziologen in die Arme der Biographienforschung getrieben und veranlasst hat, sich erneut als Biograph zu versuchen, ist die Überzeugung, dass sich an den sichtbaren Spuren einer Lebensgeschichte wie der von Jürgen Habermas besonders gut studieren lässt, was gleichsam die Pointe der soziologischen Betrachtungsweise seit ihren Anfängen ist: die Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Wie wird die Person im Lebenszusammenhang mit anderen zum Individuum, das nur im Prozess der Auseinandersetzung mit und in seiner Zeit 12die Einzigartigkeit und Besonderheit ihrer Biographie zu kreieren vermag?
Gewiss, die Verführung ist groß, gerade diese Biographie als außergewöhnliche Erfolgsgeschichte ins Bild zu setzen. Das aber käme nicht nur einer Retuschierung der zum Teil ja bekannten Schattentöne dieser Lebensgeschichte gleich, sondern auch der jedenfalls auf den ersten Blick bürgerlich-konventionelle Lebenslauf von Habermas spricht dagegen. In Gesprächen hat er immer wieder betont, sein mehr oder weniger geradliniger Werdegang sei nicht aus dem Rahmen dessen gefallen, was seiner Generation geschichtlich widerfahren und dem Einzelnen möglich gewesen sei, um unter Bedingungen einer wiedergewonnenen Freiheit persönliche Ambitionen zu verwirklichen. Würde man diese Selbstbeschreibung für bare Münze nehmen, so käme man im Fall der Vita von Habermas vielleicht zu dem Ergebnis, hier habe sich eine stufenweise Entwicklung von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt vollzogen, eben ganz im Sinne einer Normalbiographie. Es stimmt, dass seine Lebensgeschichte durch eine kontinuierliche Lebensführung auf der Grundlage weitgehend gesicherter Lebensumstände charakterisiert ist: Kindheit, Schule, Studium, Heirat, Kinder, Beruf etc. Und wie im Leben anderer Menschen gibt es auch bei ihm Brüche, Rückschläge und Zäsuren. Worin also liegt das Unverwechselbare dieses Existenzverlaufs – das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen?
Ohne Zweifel springt ins Auge, dass Jürgen Habermas eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat; mit seinen Monographien und Aufsatzbänden, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden sind, hat er sich als Wissenschaftler eine enorme nationale und internationale Reputation erworben und als Autor eine große Resonanz nicht nur in der akademischen Welt gefunden. So gesehen liegt die Schlussfolgerung nahe, die Biographie von Habermas sei im Grunde die Biographie seines Werks. Aber dieses Leben ist deshalb so faszinierend, weil es eben mehr ist als ein Stapel gelehrter Bücher, weil dieser Mann immer wieder den geschützten Raum der Universität verlassen hat, um in die Rolle des streitbaren Debat13tenteilnehmers zu schlüpfen und auf diesem Wege Einfluss auf die Mentalitätsgeschichte dieses Landes zu nehmen und, wie man wohl hinzufügen darf, auch genommen hat. Insofern ist der Nachvollzug lebensgeschichtlicher Ereignisse gewissermaßen der Basso ostinato für das eigentliche Hauptanliegen dieser Biographie: die Darstellung des verschlungenen Ineinanders von Haupt- und Nebenberuf, der Wechselbeziehung zwischen den Denkentwicklungen des Philosophen und den Interventionen des öffentlichen Intellektuellen vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse.
Wie auch immer der Biograph seine Akzente setzt, er macht sich einer Anmaßung schuldig. Zu ihr muss er sich bekennen. Denn zum biographischen Forschen und Schreiben gehört notwendigerweise ein Moment von Indiskretion, ja, man könnte die biographische Recherche sogar als einen feindseligen Akt bezeichnen. Der Biograph kann nicht umhin, privates Leben zum Gegenstand seines neugierigen Blicks zu machen. Mehr noch: Er wühlt im Leben des Biographisierten und muss dabei eigenmächtig die Wahl treffen, welche Ereignisse er im Detail betrachten oder doch nur streifen möchte, welche Geschehnisse er meint ganz aussortieren zu können. Er muss also die Entscheidung treffen, welche Augenblicke des Lebens übersprungen, welche Verstrickungen ausgelassen werden und ob und, wenn ja, wo er Leerstellen mit Mitteln der »exakten Phantasie« (Theodor W. Adorno) ausfüllt.
Der Biograph ist in diesen Momenten gar nicht so weit entfernt vom Romancier. Wie Max Frischs Hauptfigur in Mein Name sei Gantenbein tappt auch er im Dunkeln, was die beim Rückblick auf ein Leben gewonnenen Einsichten genau bedeuten – »Was ist wirklich geschehen?« Um einer Lebensgeschichte mit ihren Brüchen und Widersprüchen habhaft zu werden, verhält sich der Biograph wie die Blindheit vortäuschende Hauptfigur in Frischs Roman: »Ich stelle mir vor.«3 Und dann beginnt die Suche nach der Geschichte der Geschichte, bei der der Biograph gegenüber dem Schriftsteller den Vorteil haben mag, sich auf ein Korpus von Quellen zu beziehen, die ihn beim Erzählen leiten.
Folglich kann eine Biographie bestenfalls Glaubwürdigkeit, nie 14jedoch Gewissheit bieten. Das Vorhaben, die Abläufe eines realen Lebens eins zu eins in einer Biographie abzubilden, und sei es in verkleinertem Maßstab, ist meines Erachtens von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Insofern erhebt diese Biographie keinen solchen Wahrheitsanspruch. Folglich muss eine Erwartung, die manche Leser an dieses Genre haben, enttäuscht werden: dass der Biograph den Leserinnen und Lesern eine Art vertraulichen Umgang mit dem Objekt der biographischen Neugier eröffnet oder gar mit sensationellen Enthüllungen aufwartet.
Das vorliegende Buch wirft Schlaglichter auf das Leben und die markanten Denkbewegungen von Jürgen Habermas und bricht dabei mit der Illusion, das Authentische der Person gleich einem Portrait einfangen zu können. Stattdessen stehen distinkte Textsorten im Mittelpunkt dieser biographischen Studie. Prosaischer ausgedrückt: Es geht in erster Linie um die Tat und in zweiter Linie um den Täter. Ich lese vor allem die Spuren, die Habermas als Autor im weitesten Sinne hinterlassen hat, und zwar als Philosoph und als eine Verkörperung jener Spezies von Intellektuellen, die, gleichsam als Täter, das Politische antreibt.
Der institutionelle Ort dieser Spuren sind natürlich die Archive, darunter mein eigenes Habermas-Archiv, das sich aus einer über viele Jahre systematisch aufbereiteten Sammlung von für aussagekräftig erachteten Quellen zusammensetzt: den zugänglichen Veröffentlichungen von Habermas, Teilen seiner Korrespondenz, Interviews und autobiographischen Fragmenten und dem Großteil seiner Artikel in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Kulturzeitschriften seit 1953. Dazu kommen Photographien und andere Abbildungen sowie zahlreiche Gesprächsprotokolle mit Weggefährten und Zeitzeugen.4 Wie die in diesem Archiv zusammengetragenen und aus anderen Archiven herangezogenen Quellen ausgewählt, systematisch zusammengestellt und dann ausgewertet wurden, war abhängig von der spezifischen Fragestellung dieser Biographie: Wie wurde Habermas einerseits zum Philosophen der kommunikativen Vernunft und anderseits zum einflussreichen öffentlichen Intellektuellen?15
Was die Diskurspraxis des Intellektuellen angeht, so steht nicht Habermas' Persönlichkeit im Zentrum der Betrachtung, sondern mein Blick richtet sich auf seine konkreten Interventionen im öffentlichen Raum. Ein wesentlicher Aspekt gilt dabei der Frage, wie sich die Polarisierungen entwickeln, die sich im Zuge der Kämpfe um Aufmerksamkeit und intellektuelle Deutungshoheit herausbilden, an denen Habermas immer wieder teilgenommen, ja, die er zum Teil entfacht hat. Des Weiteren frage ich, welcher diskursiven Mittel – oder ideenpolitischen Strategien – er sich als Protagonist intellektueller Kontroversen bedient. Und schließlich: Wie konturiert sich in den Prozessen intellektueller Interventionen die Position von Habermas, dem die Funktion eines opinion leader des, wenn man es so nennen möchte, linksliberalen Lagers zugeschrieben wird?
Das für Habermas' Wirken typische Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention strukturiert diese Biographie, die fast durchweg auf eine rein individualbiographische Perspektive verzichtet und sich mit Spekulationen, was Habermas bei dieser oder jener Gelegenheit wohl »gedacht« oder »gefühlt« haben mag, zurückhält. Sie zielt vielmehr darauf ab, Interdependenzen von Lebens- und Werkgeschichte im Kontext der Zeitgeschichte zu veranschaulichen.
Welche Rolle spielt dabei die Haltung des Biographen zu seinem Gegenstand? Die...