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Pierre Bourdieu

Eine systematische Einführung

AutorHans-Peter Müller
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl372 Seiten
ISBN9783518736920
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Schon zu Lebzeiten ein soziologischer Klassiker, hat das Werk Pierre Bourdieus bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Wer seine Schriften gelesen hat, sieht die Welt mit anderen Augen. Doch wie nähert man sich einem derart vielschichtigen und umfangreichen ?uvre? Hans-Peter Müllers Einführung liefert einen systematischen Überblick über das Werk und präsentiert Bourdieus begrifflichen Baukasten und seine empirischen Studien in einer Weise, die Einsteigern und Kennern einen zuverlässigen Wegweiser bietet und zugleich Lust darauf macht, von einem der großen Soziologen und kritischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu lernen.

<p>Hans-Peter Müller ist Professor em. für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschienen:<em> Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung</em> (stw 2110) und <em>Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität</em> (stw 2251, hg. mit Tilman Reitz)</p>

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Leseprobe

11Einführung:
Leben und Werk


1. Einleitung


Schon zu Lebzeiten war Pierre Bourdieu (1930-2002) ein soziologischer Klassiker. Als Nachfolger von Raymond Aron am prestigereichen Collège de France hatte er bereits 1981 die Spitze der wissenschaftlichen Hierarchie seiner Disziplin erklommen, denn diese ruhmreiche Institution nimmt nur einen Kandidaten aus jedem Fach oder jeder Disziplin als Professor in seine heiligen Hallen auf, dann aber auf Lebenszeit – die ultimative Auszeichnung im wissenschaftlichen Feld Frankreichs. So konnte Bourdieu, distinktiv herausgehoben und für alle sichtbar, in seiner Person die ganze französische Soziologie verkörpern: »La sociologie, c’est moi!«

Von 1964 bis 1992 gab er die Buchreihe Le sens commun bei Les Éditions de Minuit heraus, von 1989 bis 1998 die Zeitschrift Liber, von 1996 bis 2002 die Buchreihe Raisons d’agir und von 1997 bis 2002 die Buchreihe Liber bei Les Éditions du Seuil. 1975 gründete er mit seiner Forschungsgruppe die Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales, deren Geschicke er bis zu seinem Tod lenkte.

Als Intellektueller unterbreitete er soziologische Zeitdiagnosen, prangerte in La misère du monde mit dem bekannten französischen Priester Abbé Pierre das Elend der Pariser Vorstädte an, half verfolgten algerischen Intellektuellen, stellte sich an die Spitze der Schülerproteste in Frankreich, engagierte sich kritisch in der Globalisierungsdiskussion, diskutierte mit Hans Haacke die Situation der zeitgenössischen Kunst und war, darin Jean-Paul Sartre vergleichbar, stets da präsent, wo es brannte.

Das Werk aus vierzig Jahren Arbeit ist dementsprechend breit gefächert und umfangreich. Es umfasst 37 Bücher, und »Hyper-Bourdieu«, die Webseite von Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich, führt unglaubliche 1800 Publikationen auf. Gisèle Sapiro und Maurizio Bustamante (2009) haben den globalen Übersetzungsbetrieb untersucht und herausgefunden, dass bis zum Jahr 2008 347 von Bourdieus Werken in 34 Sprachen und 42 Ländern übersetzt wurden. Wie kann man ein so umfangreiches Werk schaffen? Erstens muss man sehr fleißig und diszipliniert sein, viel forschen, arbeiten und sein Leben der Wissenschaft, hier: der Soziologie, widmen. 12Zweitens sollte man eine große Forschungsgruppe von talentierten jungen Leuten um sich scharen, um Kollektivprodukte zu schaffen, denn so wachsen der Publikationsradius und die Sichtbarkeit des Meisters. Drittens ist es wichtig, dass die kollektiv geleistete Forschungsarbeit und deren Ergebnisse am Ende stets in eine Monographie münden. Obgleich Resultat kollektiver Forschung, trägt sie am Ende häufig nur den Namen »Bourdieu«. Viertens muss man an ein und demselben Problem immer weiterarbeiten, denn das heißt, einen Text vielfach umzuschreiben und ihn dann unter jeweils neuem Titel erscheinen zu lassen. Fünftens muss man rege in alle Sprachen der Welt übersetzt werden. Sechstens – und das ist entscheidend – muss man etwas zu sagen haben, so dass die (Fach-)Welt schon ungeduldig auf den nächsten großen Wurf wartet. Voilà, das sind die Operationsprinzipien eines großen Œuvres.

Bourdieus Einfluss übersteigt die Fachgrenzen der Soziologie, sein Werk ist vielfältig anschlussfähig in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wird breit rezipiert, umfänglich diskutiert[1] und vielfach ausgezeichnet. So ist Bourdieu der erste Soziologe, der vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) im Jahre 1993 die Goldmedaille erhielt. Außerdem verliehen ihm die Freie Universität Berlin (1985), die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1996), die Universität Athen (1996) und die Universität Ioensuu (Finnland, 1998) die Ehrendoktorwürde. Die University of California in Berkeley zeichnete ihn mit dem 13Erving-Goffman-Preis (1996) aus, die Stadt Ludwigshafen mit dem Ernst-Bloch-Preis (1997) und das Royal Anthropological Institute in London mit der Huxley Memorial Medal (2000). 2001 wurde er korrespondierendes Mitglied der Britischen Akademie. Preise, Ehren und Würdebezeigungen zuhauf. Kurz: Er war der Soziologe, Wissenschaftler und Intellektuelle schlechthin.

Das ist indes nur die eine Seite, die Hochglanzfassade des »Wissenschaftsunternehmens Bourdieu«. Die Kehrseite dieser Medaille ist die ambivalente Haltung ihm gegenüber. Bourdieu ist kontrovers: Er lässt weder kalt noch gleichgültig, sondern spaltet. Es gibt die glühenden Anhänger und die vehementen Kritiker. Wer »für Bourdieu« ist, sieht in ihm den größten und prominentesten Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur Frankreichs, sondern weltweit. Seinem Werk hat die Soziologie entscheidende neue Impulse zu verdanken in fast allen Feldern, in denen er und seine Mitstreiter geforscht haben. Wer »gegen Bourdieu« ist, sieht in ihm und seinem Schaffen die typische Hybris der Soziologie am Werk: Für die einen ist er ein Wiedergänger von Émile Durkheim und dessen Soziologismus, der auch glaubte, alles erklären zu können. Für die anderen sind seine Arbeiten von einem überkommenen Neomarxismus in der Nachfolge von Antonio Gramsci, Georg Lukàcs und Louis Althusser inspiriert. Insgesamt wird sein autoritärer Gestus des Omniszientismus moniert, der in Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit einen regelrecht totalitären Zug anzunehmen geeignet ist. Bourdieus Rede verträgt keine Widerrede. Seine kritische Soziologie, der nichts heilig zu sein scheint, reagiert selbst nur sehr ungnädig auf etwaige Kritik.

Soziologismus, Neomarxismus und Omniszientismus – diese Vorwürfe markieren nur die schrillsten Töne der Kritik. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren auch viele Einwände gegen seine Art der Theorie- und Begriffsbildung, seine Methoden und seine Analysen erhoben worden.

Kurz und gut: Bourdieu war schon zu Lebzeiten ein Klassiker, aber Person und Werk waren niemals unumstritten. Bourdieu hätte wohl in dieses Lamento eingestimmt, wenn auch mit etwas anderer Akzentsetzung. Trotz aller Aufmerksamkeit, die seiner Forschung zuteilwurde, fühlte er sich chronisch miss-, ja regelrecht falsch verstanden. Es war nicht bloße Koketterie oder gar Obsession, immer wieder zu betonen, dass niemand ihn richtig zu lesen verste14he. Um etwaige Missverständnisse abzubauen, musste der Diskurs über seine Arbeiten mit eigenen Kommentaren und Erläuterungen vorangetrieben werden. Resultat dieser interpretativen Diskursmanie: weitere und neue Fragen. Jeder Interviewband zur Klärung in erzieherischer Absicht verdichtete also den Nebel, der sein Werk mehr und mehr umhüllen sollte. Die Vorstellung von der Einheit und Bewegung seiner Forschung ging zusehends verloren. Trotz allem gab Bourdieu (1989b: 8) die Hoffnung nicht auf, dass jemand »aus meinen Ausführungen, und sei es für kurze Momente, eine zusammenfassende Sicht meines Werkes zu gewinnen vermag, das, auf der Ablehnung des schulmäßig-akademischen Systematisierens begründet, sich so leicht nicht preisgibt – nicht einmal seinem Autor selbst«.

Was tun angesichts dieser verfahrenen Situation? Labyrinthisch und unabgeschlossen, wie sein Œuvre sich präsentiert, muss jeder Überblick notwendig vereinfachend und unvollständig, aber auch jeder Versuch, seine Soziologie möglichst analytisch rein herauszuschälen, willkürlich und verzerrend ausfallen. Aus der Not eine Tugend machend, können wir nur »Probebohrungen« an seinem Werk vornehmen, in der Hoffnung, die Eigenart seines Denkens, zentrale Begriffe und Theoreme sowie einschlägige Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus seinen Arbeiten zu gewinnen. Selbst wenn das gelingt, ist das nicht der ganze, aber vielleicht der charakteristische Bourdieu.

Nach einem Blick auf seine Biographie und die Konturen seines Werkes soll im ersten Teil dieses Buches sein soziologischer Ansatz anhand seines »analytischen Baukastens« vorgestellt werden. Das schließt seine Grundformel von »Struktur – Habitus – Praxis« ebenso ein wie die Grundbegriffe von sozialem Raum, Kapital, Klasse und Feld. Ohne eine solche theoretische und methodologische Vororientierung lässt sich sein Werk nur schwer verstehen. Im zweiten Teil sollen dann die wichtigsten empirischen Studien vorgestellt werden. Zunächst wenden wir uns seiner Bildungssoziologie zu, die vor allem das Verhältnis von Bildung und sozialer Ungleichheit untersucht. Zu diesem Zweck konsultieren wir zunächst seine frühen empirischen Studien zur Illusion der Chancengleichheit und zu den Erben, um dann seine späteren institutionellen Analysen Homo academicus und La Noblesse d’Etat zu behandeln. In einem zweiten Schritt betrachten wir seine Analysen zum sozialen 15Raum und zu sozialen Klassen. Hier steht seine bahnbrechende Studie über Die feinen Unterschiede im Mittelpunkt. Im dritten Schritt zeichnen wir seine zentralen Analysen sozialer Felder nach: Beginnend mit dem kulturellen Feld, diskutieren wir vor allem seine Studie über die Literatur, die wohl die umfassendste Feldanalyse darstellt. Danach wenden wir uns in einem vierten Schritt dem ökonomischen Feld zu und analysieren anhand seiner Studie von Eigenheimbesitzern die sozialen Strukturen der Wirtschaft. Im fünften Schritt vollziehen wir seine Überlegungen zum politischen Feld nach, abschließend analysieren wir in einem sechsten Schritt die Rolle der Intellektuellen und die Formen der Kritik. Nacheinander betrachten wir seine politische Kritik und seine ideologiekritische Intervention gegen die neoliberale Globalisierung – »Das Modell Tietmeyer«. Danach schauen wir auf seine soziale Kritik und sein gesellschaftliches Engagement am Beispiel der großen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
[Cover]1
[Informationen zum Buch / zum Autor]2
[Impressum]4
Inhalt5
Vorwort9
Einführung: Leben und Werk11
1. Einleitung11
2. Leben (1930-2002)15
3. Werk20
I. Der analytische Baukasten25
1. Die Grundformel des Ansatzes: Struktur, Habitus und Praxis27
2. Die Konstruktion des sozialen Habitus37
3. Die Konstruktion des sozialen Raums: gesellschaftliche Kapitalsorten und soziale Klassen44
3.1 Das Modell der Kapitalsorten47
3.2 Die Logik der Klassenanalyse und das Modell der Klassen58
4. Die Konstruktion der sozialen Felder72
4.1 Der Begriff des Feldes72
4.2 Die Konfiguration der Felder81
4.3 Feld und Feldanalyse86
4.4 Der analytische Baukasten – kritisch betrachtet88
II. Die empirischen Studien93
5. Bildung und soziale Ungleichheit95
5.1 Einleitung95
5.2 Bildung und soziale Reproduktion97
5.3 Akteure und Institutionen sozialer Ungleichheit98
5.4 Das französische Bildungssystem und die Institutionen höherer Bildung101
5.5 Die Illusion der Chancengleichheit103
5.6 »Titel und Stelle«109
5.7 »Homo academicus«112
5.8 »Der Staatsadel«128
5.9 Bildung und Gesellschaft141
6. Soziale Klassen und Lebensstile143
6.1 Einleitung143
6.2 Klasse und Klassifikation146
6.3 Soziologie der Erkenntnis: Doxa, Orthodoxie und Heterodoxie147
6.4 Soziologie der Ästhetik: Klasse und Geschmack154
6.5 Grundzüge einer kulturellen Ethnographie Frankreichs162
6.6 Fazit: Klassen und Lebensstile174
7. Kultur und kulturelle Feldanalysen: Das literarische Feld183
7.1 Einleitung183
7.2 Aufbau und Struktur einer vollständigen Feldanalyse: »Die Regeln der Kunst«189
7.3 Das Konzept des Feldes und die Besonderheiten des kulturellen, künstlerischen und literarischen Feldes191
7.4 Methodische Fragen: Zur Soziologie kultureller Werke194
7.5 Das literarische Feld: Genese und Wirkungsweise196
7.6 Flaubert als Analyst von Flaubert218
7.7 Fazit: Bourdieus Analyse des literarischen Feldes223
8. Das ökonomische Feld229
8.1 Einleitung229
8.2 Der Häusermarkt234
8.3 Zur Logik des Produktionsfeldes236
8.4 Die Kaufentscheidung: »Ein Vertrag unter Zwang«240
8.5 Der Eigentumssinn: Mieten oder kaufen?242
8.6 Das Konzept des ökonomischen Feldes244
8.7. Fazit: Ökonomische Ökonomie versus Ökonomie der ymbolischen Güter und der symbolischen Gewalt250
9. Das politische Feld255
9.1 Einleitung255
9.2 Politik und Kultur259
9.3. Die Doxosophen und die öffentliche Meinung263
9.4 Die Konstitution des politischen Feldes267
9.5 Staatsadel und Machtfeld276
9.6 Fazit: Das politische Feld286
10. Die Intellektuellen und die Kritik288
10.1 Einleitung288
10.2 Ideologiekritik: Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung294
10.3 Sozialkritik: Das Elend der Welt304
10. 4 Feministische Kritik: Die männliche Herrschaft306
10.5 Medienkritik: Über das Fernsehen315
10.6 Intellektuelle Kritik: Die Intellektuellen und die Gesellschaft321
10.7 Fazit: Soziologie und Intellektuelle330
Epilog:
337
Literaturverzeichnis343
Zeittafel364
Abbildungsverzeichnis366
Namenregister367
Sachregister370

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