31Kapitel 1
Die permanente Flut.
Über ein Bonmot der Madame de Pompadour
Wäre die Menschheit unserer Tage in den »höher entwickelten Ländern« – lassen wir den Ausdruck für einen Augenblick unkommentiert – imstande, sich auf einen einzigen Satz zu einigen, der ihre Gesinnung ausspricht, sie würde vermutlich das Bonmot: après nous le déluge wiederholen, das der Marquise de Pompadour zugeschrieben wird.
Die geistvolle Dame, während einiger Jahre die offizielle Geliebte Ludwigs XV., später seine wichtigste Ratgeberin und die heimliche Regentin Frankreichs, soll es im November 1757 bei einem abendlichen Fest formuliert haben, als die Nachricht von der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht bei Roßbach gegen die zahlenmäßig unterlegene Streitmacht Friedrichs II. von Preußen eintraf. Man kann sich noch heute recht gut vorstellen, wie die Gastgeberin, vermutlich bei einer Veranstaltung am Hof von Fontainebleau, entschlossen, die Laune ihrer Besucher nicht in Gefahr zu bringen, von einer Sekunde zur nächsten Zuflucht nahm zu der hysterisch-galanten Heiterkeit, die von alters her zu den Requisiten der höfischen Konversation gehört. Von dieser Regung, scheint es, ließ sie sich die Wendung diktieren, deren strahlende Skrupellosigkeit sich ins Gedächtnis der Nachwelt einprägte.[1]
32Nach uns die Sintflut! Einmal mehr bewies die später von Goethe gepriesene »Gelegenheit« ihre dichterische Begabung, sollte sich für diesmal auch eine nicht ungefährliche Enthüllung aus ihr ergeben. Die volatile Dame hatte in ihrem Jahrzehnt an der Seite des Königs gelernt, das Protokoll zu befolgen, indem sie unmerklich mit ihm spielte. Von der höfischen Etikette zur Improvisation am Abgrund war es für sie in diesem Augenblick nicht mehr als ein Schritt.
Spätere Generationen wollten in dem Ausspruch das Testament des französischen Adels lesen, wenn nicht sogar das Schlußwort des aristokratischen Weltalters. Die leichtsinnigen Klassen folgender Zeiten haben sich das rasch dahingesprochene Diktum zu eigen gemacht. Sehr wohl wissen die Reichen und Übermütigen seither, daß Sorglosigkeit eine Fiktion ist, die Kosten verursacht. Wer nicht zur Flucht von vorn bereit ist, neigt zu Melancholie und Übergewicht. Die Miene muß heiterer sein als die Lage – das versteht jeder, der von Berufs wegen lächelt. Die Unbesorgten, die Bedenkenlosen, die Enthemmten von heute feiern zwischen Sankt Moritz, Dubai und Moskau kein Fest, bei dem das geflügelte Wort der Marquise nicht in der Luft läge. Man kann es ruhigen Tons konstatieren: Mit ihm hat die fröhliche Wissenschaft vom Leben in bodenloser Zeit begonnen.
So gut wie nie hat man bedacht, daß Madame de Pompadour, vormals Frau Le Norment d’Etiolles, geborene Poisson, sich mit ihrer frivolen Bemerkung als eine treue Tochter des aufgeklärten Jahrhunderts erwies. Die Pointe ihres Ausspruchs begreift erst, wer in ihm den neuen Zeitgeist wahrnimmt, der unter der Herrschaft Ludwigs XV. an Kontur gewann, um sich nach 1789 zur Führungsmacht im Reich der Ideen aufzuschwingen. Dieser Geist übte sich ein in die noch ungewohnten Wendungen der Geschichtsphilosophie – jener ungelenk optimistischen Schule des Denkens, die aus dem zerfaserten Werden der Menschheit ein 33zusammenhängendes Curriculum machen wollte. Ja, sie ging unverhohlen darauf aus, einen Lehrgang zu etablieren, der aus der rohen Vergangenheit durch eine immer strebend bemühte Gegenwart in eine aufgehellte Zukunft weisen mußte. Mit der Einübung in Begriffe von aufsteigender Entwicklung begann die futuristische Wende, die den Modernen – nach passéistischen Jahrtausenden – den Vorrang der Zukunft auferlegte.
In den Tagen von Madame ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit, um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon verstanden haben, daß aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl, auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende ins Noch-nicht werden die ungeborenen Generationen hören. Es sind die Literaten der lumières, die aus jedem Zeitgenossen einen Bürger der Zukunft machen möchten und aus jedem Ungeborenen einen Studenten, eingeschrieben im Studiengang Evolution.
Niemand weiß besser als Madame de Pompadour, daß sie, ginge es um Prinzipien, das Gegenteil dessen hätte sagen müssen, was sie effektiv vorbrachte. »Nach uns« – was könnte anderes folgen als eine aufgehellte, eine strahlende Zukunft? Gelegenheit und Grundsatz-Ansprache divergieren jedoch. Madame folgt dem Impuls der Laune, und die Laune hat meistens recht. Die Zukunft ist mitten unter uns. Doch für die Laune wird der Unterschied zwischen Fortschritt und Untergang eine Sekunde lang zur Bagatelle. 34Nach uns – was nun? Zum Teufel, die Sintflut! Madame ahnt nicht, daß sie das politisch inkorrekte Reden erfunden hat.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich in den mentalen Ökosystemen Europas die Umdeutung des Verhältnisses von Vergangenheit und Zukunft, die den Modernen den kühnsten, den unfaßbarsten, den unausdenkbarsten Gedanken eingibt, der seit der Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies in Menschengehirnen keimte: Mit einem Mal scheint vorstellbar, es könnten die wichtigsten Ereignisse, im Bösen wie im Guten, jene sein, die noch nicht stattgefunden haben. Unbemerkt »entwickeln« sich solche Ereignisse im Schoß der Gegenwart, um eines nicht ganz fernen Tages ins Manifeste, Handgreifliche durchzubrechen. Folglich würden von da an die Enden, nicht mehr die Anfänge, über den Sinn der Vorgänge in der Mitte entscheiden. Es wären die Zukünfte, die wirklich zählten, und nicht die Herkünfte. Nun fiele das Schwergewicht des Seins nicht länger auf die Vergangenheit; die mythische Gegend, wo die alten Rechte, die Ursprungsmächte, die Stiftungen heimisch sind, verliert zunehmend an Bedeutung. Auch ist die Gegenwart nicht mehr die Fortsetzung eines immergültigen Damals im Medium aktuellen Lebens. Hegel hatte es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden«.[2] Seit Zeit und Zukunft ins Denken drängen, bilden Vergangenheit und Gegenwart die Inkubationszeit eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen Namen am Horizont auftaucht: das Neue.
Wie wäre es, wenn wirklich erst das unerwartet Neu-Gekommene, das nie zuvor Geschehene und völlig Unerwiesene uns dereinst entschlüsselten, was das Heutige, das Gestrige und das Alte davor bedeutet haben werden? Muß 35nicht tatsächlich die Sintflut über uns hinweggerollt sein, bevor wir imstande sein werden zu begreifen, auf welchen Festen wir uns in jüngeren, blinderen Jahren zerstreuten? Soll nicht die alte Welt zugrunde gehen, damit die Nachgeborenen zu erkennen vermögen, auf wie unhaltbaren Voraussetzungen das Versunkene errichtet war? Madame de Pompadour brauchte den Vorwurf unangebrachter Harmlosigkeit nicht zu fürchten. Die Leserin Montesquieus, Voltaires und Diderots ahnte, wie sehr es schon in ihren Tagen galt, mit dem Ungeheuren zu rechnen, das in der verhüllten Zukunft schlummerte.
Nachgeborenen blieb vorbehalten zu erkennen, daß, wer damals »Sintflut« sagte, die Revolution gemeint haben mußte. Nie war es leichter, nachträglich klüger zu sein. Zugleich war es nie beschämender, zugeben zu müssen, man habe vom Ausmaß des Kommenden nichts geahnt. Der Geschichtsdeuter Alexis de Tocqueville besaß bereits genügend Abstand zu den tumultuarischen Jahren, die auf das Endspiel der bourbonischen Monarchie folgten, um am Beginn des ersten Kapitels von Der alte Staat und die Revolution von 1856 zu notieren:
»Nichts ist geeigneter, Philosophen und Staatsmänner zur Bescheidenheit zu mahnen, als die Geschichte unserer Revolution, denn es gab niemals ein größeres, ein länger und besser vorbereitetes und trotzdem weniger vorhergesehenes Ereignis.«[3]
»Nach uns die Sintflut«: Blickt man nach gut zweihundertfünfzig Jahren auf die bezeichnete Szene im November 1757 36zurück, drängt sich der Eindruck auf, Madame de Pompadour habe weit mehr prophezeit, als ein einzelner ihrer Zeit zu sehen und zu fassen fähig war. Wer die Sintflut willkommen hieß, damit ein galantes Fest keine Unterbrechung erleide, legte ein Nicht-sehen-Wollen an den Tag, in dessen Kern sich zugleich eine beunruhigende Hellsicht verbarg – um von dem Aufflackern eines defaitistischen Zynismus und einem Hauch korrupter Verspieltheit nicht zu reden. Nur sechsunddreißig Jahre liegen zwischen dem hysterisch-heiteren Kommentar der Marquise zur Niederlage der französischen Truppen bei Roßbach und jenem schicksalhaften Januartag des Jahres 1793, an dem das von Doktor Guillotin wortreich empfohlene Fallbeil das Haupt vom Rumpf Ludwigs XVI. trennte. Rechtzeitig hatten die »Königsmörder« dafür Sorge getragen, daß kein unsterblicher Träger der Monarchie mehr existierte, der in seinem Nachfolger auferstehen könnte: Am 21. September 1792 hatten sie das radikal politisch Neue, die Republik, verkündet. Ein neuer Kalender war am folgenden Tag in Kraft getreten, um die Tiefe des Bruchs mit der Vergangenheit zu bezeugen; mit dem nie zuvor...