Kapitel 2
Die drei Stadien im Leben eines Jungen
Jungen wachsen nicht einfach glatt und problemlos heran. Es genügt nicht, sie mit Müsli zu füttern, die Wäsche zu waschen und darauf zu warten, dass sie eines Tages als Männer aufwachen! Vielmehr muss man ein bestimmtes Programm befolgen. Jeder, der regelmäßig mit Jungen zu tun hat, ist immer wieder erstaunt, wie sie sich verändern und wie sehr ihre Stimmungen und Antriebskräfte im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen sind. Entscheidend ist es deshalb, zu verstehen, wann wir ihnen wie beizustehen haben.
Aber immerhin gibt es Jungen schon sehr lange und wir sind nicht die Ersten, die mit ihnen zu tun haben. Alle Kulturen der Welt standen vor der Aufgabe, Jungen aufzuziehen und Lösungen dafür zu finden. Erst in den vergangenen so überaus ereignisreichen Jahrzehnten haben wir es verpasst, einen für die Bedürfnisse unserer Söhne geeigneten Plan zu ihrer Erziehung zu erarbeiten. Wir waren schlicht zu sehr damit beschäftigt, andere Dinge zu tun!
Die drei Stadien im Leben eines Jungen sind zeitlos und global gültig. Wann immer ich mit Eltern darüber spreche, entgegnen sie, dass diese drei Stadien ihre eigene Erfahrung bestätigen.
Die drei Stadien auf einen Blick
1 Das erste Stadium
reicht von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr und umfasst jenen Lebensabschnitt, in dem ein Junge vornehmlich der eigenen Mutter gehört. In diesen Jahren ist er »ihr« Junge, auch wenn der Vater in seinem Leben durchaus eine große Rolle spielt. In dieser Phase geht es in erster Linie darum, dem kleinen Jungen viel Liebe und Sicherheit zu geben und ihm das Leben als eine hoffnungsvolle, viel versprechende Erfahrung »schmackhaft« zu machen.
2 Die zweite Phase
umfasst die Zeit zwischen dem sechsten und dem vierzehnten Lebensjahr. In diesem Stadium möchte der Junge aus eigenem Antrieb lernen, was es heißt, ein Mann zu sein. Deshalb orientiert er sich jetzt zunehmend an den Interessen und Aktivitäten seines Vaters. (Gleichwohl hat seine Mutter weiterhin eine erhebliche Bedeutung, und auch die Welt konfrontiert den »jungen Mann« zunehmend mit ihren Forderungen.) In dieser Phase geht es darum, bestimmte Kompetenzen und Fertigkeiten zu entwickeln und zu einem freundlichen und auch spielerisch begabten Jüngling heranzuwachsen — kurz: eine ausgeglichene Persönlichkeit zu entwickeln. In diesem Alter entwickelt ein Junge allmählich ein Gefühl dafür, was es heißt, ein Mann zu sein, und ist stolz auf diese Männlichkeit.
3 Die letzte Phase
umfasst die Jahre zwischen vierzehn und dem Erwachsenenalter. In dieser Zeit braucht der Junge den Rat und die Unterstützung männlicher Mentoren, damit er zu einem voll entwickelten Mann heranwachsen kann. Mami und Papi treten jetzt ein wenig zurück, aber sie müssen dafür sorgen, dass es im Leben ihres Sohnes einige gute männliche Mentoren gibt, damit er für die Entwicklung seines Selbst nicht nur auf seine ebenso hilfsbedürftigen Altersgenossen angewiesen ist. Das Ziel besteht nun darin, in einem immer engeren Kontakt mit der Welt der Erwachsenen Selbstachtung und bestimmte Fertigkeiten zu erwerben sowie zugleich Verantwortung zu übernehmen.
Wichtig: Diese Stadien erfordern nicht die abrupte Abwendung des Jungen von einem Elternteil zu Gunsten des anderen. Am besten ist es, wenn sich beide Eltern während der ganzen Kindheit und in den Jahren der Pubertät intensiv um ihren Sohn kümmern. Die Stadien bezeichnen lediglich gewisse Prioritäten, etwa dass die Rolle des Vaters zwischen dem sechsten und dem dreizehnten Lebensjahr an Bedeutung gewinnt und dass männliche Leitfiguren oder Mentoren nach dem vierzehnten Lebensjahr immer wichtiger werden. Solche Mentoren sollten von den Eltern stets auf ihre Eignung und Charakterfestigkeit überprüft werden.
Wenn uns die Bedeutung der drei Stadien bewusst ist, wissen wir ziemlich genau, worauf es ankommt. So ist beispielsweise klar, dass es einem Jungen zwischen sechs und vierzehn Jahren wenig nützt, wenn sein Vater unentwegt nur arbeitet oder sich gefühlsmäßig oder auch körperlich von seiner Familie fernhält. Ist dies der Fall, wird der Junge gewiss Schaden nehmen (in diesem Jahrhundert haben die meisten Väter aber genau das getan, wie viele von uns noch aus der eigenen Kindheit wissen).
Wenn wir uns der Bedeutung der drei Stadien bewusst sind, wissen wir beispielsweise, dass unsere Söhne im Alter von fünfzehn bis siebzehn Jahren besonders auf die Unterstützung durch ihr soziales Umfeld angewiesen sind und von dort jene Resonanz bekommen müssen, für die früher Onkel und Großväter, aber auch Lehrherren zuständig waren. Viele männliche Teenager treten heute in die Welt hinaus, ohne dort die nötige Zuwendung zu finden, und verbringen ihre Jugend- und frühen Erwachsenenjahre in völlig unklaren Verhältnissen. Manche werden sogar nie wirklich erwachsen.
Es spricht einiges dafür, dass viele Probleme – besonders das bei Jungen verbreitete schlechte Benehmen, ihre Leistungsverweigerung in der Schule und ihre Konflikte mit dem Gesetz (wegen Alkohol am Steuer oder Schlägereien) – darauf zurückzuführen sind, dass wir die Bedeutung dieser Stadien verkannt und nicht zum richtigen Zeitpunkt die entsprechende menschliche Unterstützung gewährt haben.
Diese Stadien sind so wichtig, dass wir uns im Folgenden näher damit befassen und herausfinden wollen, was unsere Söhne in den verschiedenen Phasen von uns selbst erwarten können.
Von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr: Zeit der Zärtlichkeit
Babys sind Babys. Ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind, ist ihnen egal und kann auch für uns gleichgültig sein. Säuglinge lieben es, geknuddelt und gekitzelt zu werden, zu spielen und zu lachen, Dinge zu erkunden und in die Luft geworfen zu werden. Ihre Persönlichkeiten unterscheiden sich stark voneinander. Manche sind pflegeleicht — ruhig und entspannt – und schlafen viele Stunden. Andere machen viel Lärm, sind ständig wach und wollen unentwegt beschäftigt werden. Einige von ihnen sind ängstlich, leicht gereizt und brauchen immer wieder die Versicherung, dass wir da sind und sie lieben.
Besonders wichtig ist es, dass Säuglinge und Kleinkinder zu wenigstens einer Person eine besonders enge Beziehung aufbauen.
Für gewöhnlich ist diese Person ihre Mutter. Da sie dem Kind im Allgemeinen die größte Zuneigung entgegenbringt und es mit Milch versorgt, zum Teil aber auch, weil sie mit dem Säugling besonders liebevoll und beruhigend umgeht, ist eine Mutter im Normalfall am besten geeignet, dem Kleinen all das zu geben, was es braucht. Ihre eigenen Hormone (besonders das Prolaktin, das während der Stillzeit in ihr Blut ausgeschüttet wird) erwecken in ihr den Wunsch, bei ihrem Kind zu sein und ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Mit Ausnahme des Stillens können aber auch Väter alle Leistungen vollbringen, auf die ein Baby angewiesen ist, obwohl sie dabei anders vorgehen: Studien haben gezeigt, dass sie sich beim Spielen energischer verhalten und ihr Kind eher zum »Aufdrehen« veranlassen, während Mütter meist eine beruhigende Wirkung ausüben. (Wenn Väter ähnlich unter Schlafmangel litten wie vielfach die Mütter, würden sie vielleicht ebenfalls eher bemüht sein, den Nachwuchs zu besänftigen!)
Erste Geschlechtsunterschiede werden sichtbar
Einige geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen treten bereits früh in Erscheinung. Kleine Jungen reagieren weniger auf Gesichter. Weibliche Babys verfügen über einen ausgeprägteren Tastsinn. Jungen wachsen schneller und werden rasch kräftiger und sie leiden stärker unter Trennungen von ihrer Mutter. Im Kleinkindalter sind Jungen beim Spielen eher in Bewegung und nehmen mehr Platz für sich in Anspruch. Sie finden eher Gefallen daran, an Objekten herumzubasteln und sie zu manipulieren – etwa wenn sie aus Bauklötzen Hochhäuser bauen, während Mädchen mit ihren Bauten nicht so hoch hinauswollen. Im Kindergartenalter neigen Jungen dazu, ein Kind, das neu in ihre Gruppe kommt, zu ignorieren, während Mädchen einen solchen Neuling sogleich bemerken und sich mit ihm anfreunden.
Bedauerlicherweise verhalten sich Erwachsene im Umgang mit Jungen meist weniger liebevoll als mit Mädchen. Studien haben gezeigt, dass Eltern ihren kleinen Töchtern weit mehr Zärtlichkeit entgegenbringen als ihren Söhnen, und das bereits im frühen Säuglingsalter. Sie reden in dieser Phase auch weniger mit kleinen Jungen. Überdies schlagen Mütter kleine Jungen im Allgemeinen heftiger und auch häufiger als kleine Mädchen.
Wenn sich die Mutter vorwiegend um den Säugling kümmert, vermittelt sie dem kleinen Jungen einen tiefen ersten Eindruck davon, was Liebe und Intimität bedeuten. Wenn sie ihrem Sohn etwa vom zweiten Lebensjahr an klare Grenzen setzt – ohne ihn jedoch zu schlagen oder zu beschimpfen –, wird er diese Erfahrung problemlos verarbeiten können. Denn er weiß, dass er einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnimmt.
Das Interesse der Mutter und der Spaß, den sie daran hat, mit ihrem Sohn zu sprechen und ihm etwas beizubringen, tragen dazu bei, dass sein Gehirn mehr sprachliche Fähigkeiten entwickelt. Wir werden später noch sehen, dass dies für Jungen sehr...