Der einsame K2 – mit Hermann Buhl am Baltoro, 30 Jahre früher
Schscht – schscht schscht – schscht die Schneereifen schleifen durch im Sonnenlicht glitzerndes Pulver, über herausragende Eisrippen, Bodenwellen.
Vor mir, trotz der Mühe in dynamisch abgezirkelter Bewegung, mit kurzen Schritten – Hermann Buhl. Seine kleine, fast zierliche Gestalt, deren Energie man spürt, während sie sich vorwärtsschiebt, durch das unregelmäßige Gelände des Godwin-Austen-Gletschers. Vor mir der graue, breitkrempige Filzhut über dem Rucksack, die feingliedrigen Hände, die sich bei jedem Hochheben der schmalen, über den Schnee schleifenden ovalen Holzreifen auf die Skistöcke stützen, um das Gleichgewicht zu halten – den vorausspähenden Blick aus den immer wachen Augen Hermanns, mit dem er das Gelände prüft, kann ich nur ahnen. So tasten wir uns vorwärts, an langen Reihen spitzer Eisgestalten vorbei, wie durch einen märchenhaften, im Zauber erstarrten Wald. Freie Flächen dazwischen, der Moränenrücken, verschneit …
Wir sind allein, hier im Herzen des Karakorum, umgeben von gewaltigen Gletschern, einer vielfältigen, wilden Welt aus Eis und Stein, Bergspitzen, Granittürmen, Phantasiegestalten – die tausend Meter und darüber in den Himmel aufragen, einige noch viel mehr …
Außer Hermann und mir und unseren drei Gefährten im Basislager gibt es im Mai 1957 keinen Menschen am Baltorogletscher.
Marcus Schmuck und Fritz Wintersteller aus Salzburg und unser jetzt »arbeitsloser« Verbindungsoffizier Captain Quader Saeed, der schon seit vielen Wochen von einem etwas bunteren Leben in Lahore träumt, gehören mit uns zur einzigen Expedition im Umkreis von etlichen hundert Kilometern in der ganzen Saison. Wir sind allein im Bereich des riesigen, 58 km langen Eisstroms des Baltoro, der mit seiner Bergwelt zu den schönsten und einsamsten Plätzen der Erde gehört. Unzählige Seitengletscher führen zwischen Gipfel von atemberaubender Größe und Steilheit hinein, zu Linien, deren Harmonie unerklärlichen Zauber ausstrahlt, zu Plätzen, wo niemand die Frage nach dem »Warum« stellt, weil die Antwort so klar vor ihm steht.
Mein Traum, einmal im Leben im Himalaja zu sein, zu den höchsten Gipfeln der Erde aufzusteigen, ist schließlich in Erfüllung gegangen – ich bin 25 Jahre alt. Hermann Buhl hat mich mitgenommen, nachdem mir mit der Überwindung der Riesenschaumrolle an der Königsspitze die damals wildeste Eiskletterei der Alpen gelang. Ich bin überglücklich – weiß, dass ich alles in diese Chance setzen werde …
Während wir unsere Spur, vom kilometerweiten Concordiaplatz des Baltoro kommend, nun in bald 5000 m Höhe über den verschneiten Seitengletscher ziehen, der seinen Namen dem Kartografen Godwin Austen verdankt, einem der ersten Erkunder um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, denke ich daran, dass Adolf Schlagintweit, der erste Europäer, von dem man sicher weiß, dass er in die Nähe des Baltoro gelangte, nirgends in die Namensgebung eingegangen ist. Hingegen erhielt der uns jenseits des Concordiaplatzes gegenüberliegende, mit vielen parallel verlaufenden feinen Linien bedeckte Seitengletscher den Namen des Reisenden G. T. Vigne – auch wenn er ihn nie betreten hat, und Martin Conway, der Leiter der ersten Expedition, die 1892 im Karakorum auch bergsteigerische Ziele verfolgte, wurde später Lord und erhielt einen rund 6000 m hohen Schneesattel »gewidmet«.
Im Vergleich zu ihnen sind wir keine »Entdecker« mehr – und sind es doch: jeder für sich. Wenn du so in menschenleeres Land zwischen riesigen Bergen vorstößt, wird dir das Herz weit, empfindest du beim Blick um die nächste Ecke gewiss nicht anders als die Ersten, die hier waren. Denn noch herrscht die Stille zwischen den Gipfeln, reicht die Spannung wie ein Gewölbe von Berg zu Berg, scheinen dir manche Tage ein Geschenk des Himmels! So wie dieser heute …
Über uns ragt der Broad Peak – auf den noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hat. Der dreigipflige Achttausender erhebt sich wie ein Drachenrücken, dessen Schuppen in den Himmel stehen. Für mich umwittert Geheimnis die dunklen Felsen … noch nie hat jemand sie berührt … Ich bin glücklich, dass der Berg das Ziel unserer Expedition ist.
Doch heute gehen Hermann und ich auf den K2 zu … Immer näher wächst vor uns in unglaublicher Regelmäßigkeit die größte Pyramide der Erde auf. 8611 m1 haben die Messungen der Kartografen ergeben, rund 240 m niedriger als der Everest, doch um vieles schwieriger. Zweifellos einer der schönsten Berge, die es gibt.
Die internationale Expedition von Oscar Eckenstein – zu der auch die Österreicher Pfannl und Wessely gehörten hat 1902 den ersten bergsteigerischen Vorstoß unternommen und gelangte am Nordostkamm an einem Gratgipfel über 6500 m. Doch 1909 eröffnete dann die große Expedition des Herzogs der Abruzzen an der felsigen Südostrippe des K2 (Abruzzensporn) die Route, die sich später als die beste herausstellen sollte. Man gelangte freilich nur bis 6250 m. Dafür glückte es dem Herzog und seinen Bergführern, an der Chogolisa bis knapp 7500 m vorzustoßen – ein Höhenweltrekord für viele Jahre! Nur rund hundertfünfzig Meter hätten zum Gipfel gefehlt! –
Hermann Buhl ist stehen geblieben und blickt zu dem schimmernden Trapez aus Eis und Schnee in 30 km Entfernung hinüber … »Ein schöner Berg«, murmelt er.
Das sieht aus wie ein gewaltiges Dach im Himmel … denke ich. Doch schon wendet Hermann sich wieder dem K2 zu: »Schade, dass der schon bestiegen ist. Aber es müsste großartig sein, ihn zu überschreiten – – den Felsgrat links hinauf und rechts über den Sporn hinunter.« Und dann erklärt er mir alles über den Abruzzensporn, den Weg der Erstbesteiger, alles, was er weiß über die riesige Expedition der Italiener vor drei Jahren. Neun Hochlager! Und 5000 m Fixseil sollen sie am Sporn angebracht haben. Ardito Desio, ein Geologieprofessor, habe die Expedition geleitet, Lacedelli und Compagnoni, zwei von den elf Bergsteigern, hätten schließlich den Gipfel bezwungen: ein nationales Ereignis, das ganz Italien in einen Taumel der Begeisterung versetzt habe. Ja, die beiden seien mit Sauerstoff gestiegen – aber: Zuletzt sei ihnen der doch ausgegangen – und sie hätten trotzdem nicht aufgegeben! Er lacht: »Du siehst, es geht auch ohne!« Und er spricht von Mallory und Irvin, die 1924 vom Gipfelgang am Everest nicht mehr zurückgekommen waren – obwohl sie es mit Sauerstoffgeräten versuchten. Davon, dass man neun Jahre später einen Pickel auf 8500 m gefunden hat und noch heute darüber rätselt, ob sie ihr Ziel erreicht haben. Und er erzählt von Norton, der am Everest ohne Sauerstoffgerät über diese Höhe hinauskam, und von Fritz Wiessner, dem, ebenfalls »ohne« aufsteigend, 1939 am K2 auch nur noch etwas über zweihundert Meter fehlten! Hermann ist lebhaft geworden, seinen Augen, den Handbewegungen seh ich’s an: Er würde am liebsten auch gleich ohne Sauerstoffgeräte und Hochträgerhilfe – im »Westalpenstil«, wie er das nennt den K2 angehen. »Der K2 ist schön«, sagt der Hermann und blickt wieder hinauf. »Ja – – man müsste den linken Grat hinauf und den rechten hinunter«, murmelt er versonnen.
Aber der Berg sieht so himmelhoch aus wie sonst keiner, wir sind nur winzige Pünktchen vor diesem Felsklotz, der wie ein Kristall schimmert, weil Schnee und Eis ihn bedecken. Nein, ich habe eigentlich kein Verlangen. Ich bin glücklich mit unserer Wahl: Der Broad Peak ist noch unbestiegen – und beinahe sechshundert Meter niedriger als der K2. Für unser Vorhaben, das viele für eine Verrücktheit halten, besser geeignet als der zweithöchste Berg der Erde. Im Weitergehen denke ich an unseren Achttausender: 1954 hat es den ersten und einzigen Versuch an ihm gegeben – eine deutsche Expedition unter der Leitung von Dr. Karl Herrligkoffer. Er verlief abenteuerlich: Beim Aufstieg über die von Eislawinen bedrohte Route fanden Bergsteiger plötzlich gewaltige Blöcke vorm Zelt, an einem spiegelblanken Eiswall von rund 500 m Höhe glitt der Österreicher Ernst Senn aus, sauste mit der Geschwindigkeit eines Bobfahrers in die Tiefe und kam unverletzt im sanften Schnee eines Hochplateaus zum Stillstand. Eisige Herbststürme gaben der Mannschaft schließlich in rund 7000 m Höhe den Rest, zwangen sie zum Aufgeben.
Im spiegelnden Eis des »Walls« haben wir vor Tagen noch ein Depot der Deutschen entdeckt: Eierlikör, Magenbitter, Ausrüstung und … eine drei Jahre alte, aber noch immer vortrefflich schmeckende Salami! Dazwischen gab es noch eine Büchse mit zartem italienischen gerollten Speck! Sie hatte offensichtlich eine Odyssee zwischen dem K2-Basislager und den Höhen des Broad Peak hinter sich – ehe die Delikatesse drei Jahre später in unseren Mägen landete. Ehrlich gesagt, es ist eigentlich pure Neugier, warum wir diese Exkursion zum K2 unternehmen: Wer weiß, welche Leckerbissen es dort im italienischen K2-Lager noch gibt …
Aber wir werden enttäuscht: Sosehr wir auch suchen, wir finden keine Spur vom Basislager. Weiß, weit und rein ist der Gletscher, auch auf der Moräne zeigt sich nichts. So drehen wir schließlich um und watscheln auf unseren Tellern zurück …
Neugierde hatte uns auch in den Lawinenwinkel...