Revolution in Murnau
Im Sommer 1908 kehren Kandinsky und Münter nach München zurück. In Murnau, einem alten Ort am Staffelsee im bayerischen Alpenvorland, beziehen sie Quartier in einem Gasthaus. Mit ihren russischen Künstlerfreunden Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin malen sie die folgenden Herbstwochen in dem pittoresken Dorf und seiner voralpinen Umgebung. Dann lassen sie sich in München-Schwabing nieder und verbringen künftig das Frühjahr und den Sommer in Murnau (bis 1914). Am Ortsrand erwirbt Münter eine kleine Villa mit Blick auf den Kirchhügel und das Murnauer Moos. Im «Russen Haus» wird später auch das Buch Der Blaue Reiter erarbeitet (1911/12).
Kandinskys Auseinandersetzung mit der bayerischen Landschaft führt zu einer radikalen Wende. In kurzer Zeit entwickelt er seine eigene Bildsprache und löst die Farbe und später auch die Form vom Bezug auf ein Motiv. Das Ziel der Abstraktion wird nun umgesetzt, und fünf Jahre später markiert die Komposition VII (1913) den Höhepunkt und Abschluss dieses bahnbrechenden Prozesses. Darin interagieren Farbe, Form und Linie als autonome Grundelemente (Abb. 24).
Kandinskys für die Entwicklung der modernen Malerei höchst bedeutende Periode von 1908 bis 1914 umfasst rund 750 bildnerische Arbeiten (Gemälde, Papierarbeiten, Druckgrafik), viele Gedichte und einige Libretti für unrealisierte Bühnenstücke. Parallel organisiert er mehrere Gruppenausstellungen für die Neue Künstlervereinigung München und den Blauen Reiter, verfasst Aufsätze und Essays, publiziert die Bücher Über das Geistige in der Kunst, Der Blaue Reiter, Klänge sowie Kandinsky 1901–1913 und bewältigt obendrein eine umfangreiche Korrespondenz und ein großes Lektürepensum.
Seine radikalen Bilder bringen ihm harsche Kritik ein, er wird sogar diffamiert. Dennoch gelingt ihm der Durchbruch, und er erhält zahlreiche Ausstellungsmöglichkeiten, sogar in Japan und den USA. Dann stoppt der Weltkrieg diese enorm produktive Phase und seine rasante Karriere. Als Angehöriger einer feindlichen Nation muss Kandinsky im August 1914 mit seiner geschiedenen Frau das Land kurzzeitig verlassen, reist in die Schweiz und wird von Münter begleitet. In einem seiner letzten Gemälde vor der Emigration, Improvisation Klamm (1914), ist im Durcheinander von Farbe und Form ein winziges Paar in bayerischer Tracht erkennbar (Abb. 25) – vermutlich das Künstlerpaar, hat Kandinsky damals in Murnau doch häufig bayerische Tracht getragen. Das Paar schaut in einen übergroßen Farbwirbel mit zwei angedeuteten Himmelsleitern. Aus dem impressionistischen Farbenparadies ist die dramatische Bildvision von Untergang und Neubeginn geworden.
Nach Moskau kehrt Kandinsky allein zurück, während Münter den Krieg in Schweden und Dänemark übersteht. Ein letztes Mal verbringen sie 1916 in Stockholm einige Monate zusammen und bestreiten gemeinsam mehrere Ausstellungen. In Moskau malt Kandinsky das Trachtenpaar dann noch einmal, jetzt im halbabstrakten Wirbel der Metropole zwischen Sonnenstrahlen und Gewitterschlund (RB 605). Kurz darauf verliebt er sich in die junge Offizierstochter Nina Nikolajewna Andrejewskaja, die er 1917 heiratet. Die Beziehung mit Gabriele Münter war schon seit Jahren belastet. Obwohl er 1922 wieder in Deutschland lebt, kommt es zu keinem Wiedersehen mit ihr, zumal sie seine zurückgelassenen Werke und Dokumente gegen seinen Willen behalten hat; später spricht er sie ihr zum großen Teil zu. Im Murnauer Haus wird sie dann alles vor den Nazis verbergen und zuletzt der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, übergeben (1957).
Innere Notwendigkeit
Was war der Auslöser für Kandinskys abrupte künstlerische Wende? Rückblickend hat er sich für die Lehre von Jawlensky bedankt, dem ehemaligen Studienkollegen bei Azbè in München. Dieser setzte sich schon früh mit van Gogh, Paul Gauguin und der Avantgarde auseinander. Nach der Teilnahme mit Kandinsky am Pariser Salon d’Automne (1905), wo erstmals Werke der Fauves präsentiert wurden, verarbeitete er deren Neuerungen, während Kandinsky an seinen russischen Fantasien festhielt und bei der angeblich raffinierten Farbgebung und Formbrillanz von Henri Matisse einen Mangel an Innerlichkeit kritisierte.
Als die Freunde in Murnau wieder zusammenkommen, tauchen sie in die bayerische Voralpenlandschaft ein und malen, zusammen mit ihren Partnerinnen, wie der Gauguin-Kreis im bretonischen Pont-Aven, van Gogh in Arles oder Matisse und André Derain im südfranzösischen Collioure. Jetzt entfaltet Kandinsky, was er farbtheoretisch vorbereitet hat. Die Beschäftigung mit der französischen Avantgarde, der er in München wiederbegegnet ist, wird nun produktiv. Es ist Jawlenskys verinnerlichte Version der französischen Farbmalerei, die ihm die Möglichkeit zur abstrakten Synthese seiner Impressionen und Fantasien eröffnet. Das melancholische innere Glühen von Jawlenskys Buntfarben unterscheidet sich stark von der mediterranen Farblichtatmosphäre der Fauves, was Kandinskys Bedürfnis nach seelischer Tiefgründigkeit entspricht. Auch er löst die freien Buntfarben nun vom Motivbezug und beginnt den Pinselduktus zu rhythmisieren. Wie der ‹symbolistische Fauve› Jawlensky transformiert er die Malerei zu einem expressiven Farbgeschehen.
Auch Werefkin und Münter entwickeln ihre persönlichen Ausdrucksmittel in Murnau eigenständig weiter, obwohl Werefkin das Malen zur Förderung des Lebensgefährten lange aufgegeben hat und Münter Kandinskys Schülerin gewesen ist. Die bildnerischen Differenzen der vier Künstler nehmen im Laufe der gemeinsamen Arbeit zu. Es entsteht keine symbiotische Stilverbindung wie bei Robert und Sonja Delaunay oder bei Jean Arp und Sophie Taeuber-Arp oder gar eine Kollektivform wie bei den Neoimpressionisten, den Fauvisten, Kubisten, Futuristen oder der Brücke. So würdigt Kandinsky auch die «rein weibliche Begabung» von Münter und ihre «bescheidene», «nachdenkliche» und vom «intimen Gefühl durchtränkte» eigenständige Malerei (GS 493 f.).
Das entspricht einer Haltung, wie sie dann das Buch Der Blaue Reiter proklamieren wird. Kein «Ismus», sondern die Vielfalt und Freiheit persönlicher Ausdrucksmittel ist das gemeinsame Anliegen. Der Vergleich mit der Brücke zeigt dennoch eine Verwandtschaft der Murnauer Künstler. Ihre Arbeiten sind motivisch nämlich nicht bestimmt von der Liebe zur kreatürlichen Nacktheit und zur Leiblichkeit der Frau, vom abgründig Mondänen der Großstadt, vom frivolen Tanz und Drogenrausch, von Zirkus und Varieté und von primitivistischer Wildheit. Es sind einfache Landschaften und Dorfansichten, intime Interieurs und freundschaftliche Porträts. Während die Brücke-Künstler ihre expressive Kunst der jugendlichen Lebensreform angleichen, richten die Murnauer den Lebensalltag auf ihre künstlerische Arbeit aus und beschäftigen sich beispielsweise mit der lokalen Volkskunst statt mit afrikanischer Stammeskunst. Mit der schrillen Großstadt-Revolution der Brücke kontrastiert ihre geistige Revolution im Murnauer ‹Paradies›.
Weder ästhetische Normen noch «praktisch-zweckmäßige» Beweggründe hätten den Maler zu leiten, meint Kandinsky, sondern sein «Grenzengefühl» und «künstlerischer Takt» (ÜG 89). Man solle der eigenen Empfindung und Intuition vertrauen, der inneren Stimme und dem Gewissen folgen. Alle künstlerischen Mittel seien daher erlaubt, vorausgesetzt, man wählt sie aus «innerer Notwendigkeit» (ÜG 137). Seit der Antike ist der Begriff der ‹inneren Notwendigkeit› von Platon und Boethius über Spinoza, Goethe und Schiller bis zu Hegel, Wagner und van Gogh verwendet worden, um die Eigengesetzlichkeit des Daseins, der Natur, der Geschichte und dann der Kunst zu bezeichnen. Nicht zwangsläufig muss subjektive Freiheit also Innovation bedeuten. Auch die Anwendung bestehender Mittel ist für Kandinsky legitim, wenn sie dem Ausdrucksbedürfnis entspricht – seine Rezeption...