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Geschichte des politischen Denkens

Zwölf Porträts und acht Miniaturen

AutorOtfried Höffe
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl417 Seiten
ISBN9783406697159
FormatePUB/PDF
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Unsere heutige politische Ordnung ist nicht nur das Ergebnis von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Sie ist wesentlich von dem Denken geprägt, das diese Entwicklungen bald kommentiert, bald kritisiert, bald auch provoziert. In zwölf Porträts und acht Miniaturen stellt der Philosoph Otfried Höffe die großen politischen Denker von der Antike bis ins 20. Jahrhundert vor. So sehr sich die politischen Verhältnisse gewandelt und die Debatten sich geändert haben - viele Fragen sind die gleichen geblieben, auch wenn sie sich in neuem Zusammenhang stellen: Wie funktioniert ein Gemeinwesen; welche Strukturen und Hierarchien herrschen in ihm vor? Wie erwirbt man Macht; wie erhält oder stürzt man sie? Unter welchen Bedingungen ist politische Herrschaft gerecht? Solche Fragen haben sich schon Platon und Aristoteles, Machiavelli und Hobbes, Kant und Hegel gestellt. Ihre Werke wenden sich nicht bloß an akademische Zunftgenossen, sondern ebenso an die Öffentlichkeit ihrer Zeit. Und dank der Originalität, Radikalität und Konsequenz ihrer Gedanken sind zahlreiche Begriffe, Prinzipien und Argumentationsfiguren dieser Denker bis heute aktuell.

<p>Otfried H&ouml;ffe lehrte u.a. in Fribourg, Z&uuml;rich, Sankt Gallen und T&uuml;bingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet. Bei C.H.Beck erschien zuletzt: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015). H&ouml;ffe ist Tr&auml;ger des Bayerischen Literaturpreises (Karl-Vossler-Preis) f&uuml;r wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.</p>

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Leseprobe

Einleitung: Die lange Vorgeschichte


Gemeinwesen sind für die Menschen so wesentlich, dass sie sehr früh zum Gegenstand ihrer Überlegungen werden, in die wiederum politische Interessen eingehen. Kein Kulturraum kann sich hier eines Exklusivrechts und kein politischer Denker einer uneingeschränkten politischen Neutralität rühmen. Im Gegenteil finden wir politisches Denken mit politischem Interesse, also ein im emphatischen Sinn politisches Denken, in vielen Kulturen und Epochen. Exemplarisch sei das klassische China genannt, das in den Zeiten schwerer politischer Krisen des 6. bis 3. Jahrhunderts v. Chr. drei einflussreiche Richtungen hervorbringt: den sozial engagierten, eher konservativen Konfuzianismus, den gesellschaftskritischen Daoismus und den «rechts- und staatsfrommen» Legismus bzw. Legalismus.

Obwohl also vielerorts politische Überlegungen entstehen, beginnt das politische Denken im engeren Sinn bei den Griechen. Dieser Behauptung liegt kein ungebührlicher Ethnozentrismus zugrunde. Sie trifft vielmehr in einem wörtlichen Sinn zu: Die in alle europäischen Sprachen eingegangenen, so gut wie unübersetzbaren Fremdwörter der «Politik», des «Politischen» und der «Politiker» gehen nicht bloß auf die antiken Griechen zurück. Sie beziehen sich auch auf die von ihnen erfundene Form eines Gemeinwesens, die Polis. Nicht zuletzt setzen erst die Griechen die Verfasstheit ihres Gemeinwesens einem streng methodischen Denken aus. Dieses Denken, eine von Begriffen und Argumenten getragene Reflexion, ist zu einem Vermächtnis geworden, das mittlerweile, im Zuge einer kulturellen Globalisierung, in aller Welt studiert wird.

Die griechischen Gemeinwesen wie Athen, Korinth und Theben sowie viele Dutzend weitere Einheiten waren nach heutigen Verhältnissen klein: ummauerte Städte, oft nur Städtchen, mit einem dazugehörigen Stück Land. Diese Stadtrepubliken, Poleis, sprechen wir gern als Demokratien an. Für sie selbst ist etwas anderes entscheidend: die isonomia, eine politische Ordnung (-nomia) rechtlicher und politischer Gleichheit (iso-). Diese ermöglicht den Bürgern eine politische Selbstorganisation, deren Grad an Bürgerbeteiligung wohl von keiner späteren Demokratie je wieder erreicht wird. Gleichberechtigt sind allerdings nur die Bürger im engen und strengen Sinn, nicht die Frauen, ohnehin nicht die Sklaven, auch nicht jene Bürger anderer griechischer Gemeinwesen, die niedergelassenen Ausländer, die Metöken («Beisassen»), zu denen in Athen auch Aristoteles gehört.

Der Grieche findet jedenfalls seine Identität in erster Linie als Bürger seiner Polis. «Politik» heißt, was in seiner Polis geschieht: unter seinen Augen, unter seiner Mitwirkung und ohne besondere Experten. Die griechische Polis kennt weder ein Parlament mit gewählten Abgeordneten noch professionelle Politiker, Parteien oder einen Juristenstand. Erst an zweiter Stelle fühlt sich der Grieche als Hellene, der mit den anderen Hellenen durch die Sprache, die Religion, die reiche Literatur, das Orakel von Delphi und «Nationalfeste» wie die Olympischen, die Pythischen, Nemeischen und Isthmischen Wettkämpfe, nicht zuletzt durch das Militärbündnis gegen Persien verbunden ist.

Die Träger dieses politischen Denkens sind nicht wie in anderen Kulturen charismatische Propheten oder Priester, auch keine Richter, ohnehin keine Universitätsdozenten. Es sind zunächst die Dichter. In allen Schichten bekannt und anerkannt, gehören die Epen von Homer, die Ilias und die Odyssee, und Hesiods Theogonie («Götterentstehung») zur kulturellen Bildung jedes Griechen. In ihnen spielen göttliche Mächte eine herausragende Rolle. Die Rechtsordnung gilt als sakral, zugleich als Vorbedingung humanen Lebens und bedarf wegen ihres göttlichen Ursprungs keiner kritischen Reflexion.

Weitere Orte politischer Überlegungen sind die von Chorlyrikern wie Simonides und Pindar verfassten Preislieder auf Götter und Menschen. Sie werden vor der gesamten Bürgerschaft vorgetragen, so wie die Tragödien eines Aischylos, etwa die Orestie und die Perser, die eines Sophokles mit der Antigone und Euripides’ Medea vor der ganzen Stadt aufgeführt werden. Auch in dieser Hinsicht, der allgemeinen Kenntnis ihrer großen Literatur, dürfte das politische Denken der Griechen weit demokratischer als das aller Nachfolger sein.

Einen aristokratischen, vornehmlich bildungsaristokratischen Zug bringen erst professionelle Wanderlehrer herein, die Sophisten, ferner Geschichtsschreiber wie Herodot und Thukydides. Die Sophisten wie Gorgias (483–374 v. Chr.) und Protagoras (481–411 v. Chr.), nach Sokrates angeblich Wortverdreher, sind in Wahrheit in einer Person Aufklärer, Gelehrte und Intellektuelle und werden als solche hochgeachtet. Einer Gesellschaft, die weder Schulen noch Hochschulen kennt, bieten sie ihre Dienste gegen Honorar an. Wegen der Herausforderungen ihrer Zeit, wegen sozialer und politischer Strukturveränderungen, stellen sie nicht mehr das geordnete All, den Kosmos, sondern jetzt den Menschen in den Mittelpunkt: sein Reden und Handeln, sein Gemeinwesen und die Rechtfertigung politischer Macht. Sie entdecken dabei den agonalen, auf den Sieg der eigenen Sache ausgerichteten Charakter der Rede.

Dafür, für die Sprache als Machtinstrument, entwickeln sie eine für die demokratische Politik unerlässliche Kunst, die der Argumentation und Rhetorik. Sie erleichtert ihren Schülern, der wohlhabenden Jugend, in der Volksversammlung und vor Gericht erfolgreich aufzutreten. Auf die Sophisten geht die für das politische Denken seitdem entscheidende Frage nach der Alternative von Naturrecht und bloß positivem Recht zurück: Gibt es für das Recht und die politische Ordnung etwas, das «von Natur aus» (physei), das heißt, für alle Menschen und alle Zeiten, gilt und ihrer Verfügung entzogen ist? Oder verdanken sich alle Verbindlichkeiten der Gewohnheit und (willkürlichen) Vereinbarung einer bloß positiven Satzung (nomô)?

Der Weg zu den ersten veritablen Philosophen des Politischen, zu Platon und Aristoteles, ist also lang. Es ist ein Glücksfall, dass sie, zwei der überhaupt größten Denker der Menschheit und Kirchenväter der abendländischen Philosophie, auch überragende politische Denker sind. Ihre Überlegungen entfalten sie auf einem derart hohen begrifflich-argumentativen Niveau, dass das nachfolgende politische Denken zu einem Großteil aus Fußnoten zu Platon und Aristoteles besteht.

Zu den Gründen der überragenden Bedeutung gehört nicht nur der Vorlauf von vier Jahrhunderten politischen Denkens. Platon und Aristoteles verfügen auch über einen ungewöhnlichen Reichtum an politischer Erfahrung: Sie kennen die vielfältigen Wandlungen der Athener Verfassung, zusätzlich die Verhältnisse anderer griechischer Gemeinwesen. Sie haben die zahlreichen griechischen Koloniegründungen im Blick, die zugleich Experimentierfelder der Politik waren. Schließlich sind ihnen die Verhältnisse der Perser und der Meder sowie die von Karthago vertraut, was ihnen eine einzigartige Verbindung von Empirie und «Theorie» ermöglicht.

Ein Defizit fällt auf: Die «nicht-politischen» Ordnungen bleiben so gut wie unberücksichtigt. Weder die Stammesverbände (Ethnien) Griechenlands noch die wichtigen Kultverbindungen (Amphiktyonien) und Kriegsbündnisse (Symmachien) nehmen einen wesentlichen Raum ein; die praktizierte panhellenische Solidarität spielt in der politischen Theorie von Platon und Aristoteles eine geringe Rolle. Infolgedessen kommen die schon damals möglichen Ansätze zu kurz, das Denken auf jene größeren und offeneren Lebensverhältnisse auszurichten, die später in den hellenistischen Reichen und vor allem heute, dank der industriellen und der bürokratischen Revolution, der Bevölkerungsexplosion und der neuen Kommunikationsmittel, unübersehbar sind.

Nicht zuletzt ist an eine weitere Eigenart zu erinnern: Mit ihrer Neigung, die «öffentlichen» und die «privaten» Angelegenheiten eng zusammenzurücken und die Selbstverwirklichung in der agonalen Mitarbeit an der politischen Gestaltung zu suchen, ist die Polis in erster Linie eine Personengemeinschaft. Anders als heute hat für sie der Bereich des Politischen mehr Lebenswelt- als Systemcharakter; und von einer Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat kann keine Rede sein.

...
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch417
Über den Autor417
Impressum4
Widmung5
Inhalt7
Vorwort11
Einleitung: Die lange Vorgeschichte15
1. Platon (428/27–348/47 v. Chr.): Soll der Philosoph König sein?19
2. Aristoteles (384–322 v. Chr.): Der Mensch – ein politisches Tier47
Zwischenspiel: Anfänge eines Kosmopolitismus?75
3. Cicero (106–43 v. Chr.): Politisches Denken in Rom77
Zwischenspiel: Politisches Denken im Neuen Testament92
4. Augustinus (354–430): Jerusalem statt Babylon96
Zwischenspiel: Islam – Hellenisierung einer politischen Religion119
5. Ab? N?sr al-F?r?b? (um 870–950): Islamische Philosophenherrschaft122
Zwischenspiel: Weltliche kontra geistliche Gewalt135
6. Thomas von Aquin (1224/5–1274): Der gute Fürst141
7. Dante Alighieri (1265–1321): Weltmonarchie160
8. Marsilius von Padua (1275/80–1342/43): Säkulare Friedenstheorie174
Zwischenspiel: Wilhelm von Ockham – Ein politisches Sparsamkeitsprinzip184
9. Niccolò Machiavelli (1469–1527): Provisorische Amoral186
Zwischenspiel: Politische Utopie, christlicher Fürstenspiegel, Völkerrecht203
10. Thomas Hobbes (1588–1679): Politik in Zeiten der Bürgerkriege209
11. Baruch de Spinoza (1632–1677): Rationalismus der Freiheit229
12. John Locke (1632–1704): Erzvater des Liberalismus241
Zwischenspiel: Europäische Aufklärung259
13. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): «Frei geboren und doch in Ketten»265
14. Alexander Hamilton (1757–1804), John Jay (1745–1829), James Madison (1751–1836): Die geistige Grundlage einer konstitutionellen Demokratie286
15. Immanuel Kant (1724–1804): Der Weltbürger aus Königsberg298
Zwischenspiel: Deutscher Idealismus320
16. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831): Kampf um Anerkennung323
17. John Stuart Mill (1806–1873): Liberalismus plus Utilitarismus343
18. Karl Marx (1818–1883): Kritik der politischen Ökonomie360
19. Friedrich Nietzsche (1844–1900): Antipolitik als Politik371
Zwischenspiel: Herrschaftstypologie und Begriff des Politischen383
20. John Rawls (1921–2002): Politische Gerechtigkeit388
Ausblick: Weltrechtsordnung406
Literatur zur Vertiefung409
Personenregister410
Sachregister415

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