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Kant. Eine Einführung

Schnädelbach, Herbert - Logik und Ethik - 19511

AutorHerbert Schnädelbach
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2018
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl195 Seiten
ISBN9783159613420
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Immanuel Kant ist nicht nur der wirkungsmächtigste Philosoph des ausgehenden 18. Jahrhunderts, er ist der klassische Philosoph der Moderne. Herbert Schnädelbach führt in Kants Gesamtwerk ein: in seinen Ausführungen zu Aufklärung und Wissenschaft, zu Metaphysik und kritischer Vernunft, zu praktischer Vernunft und Urteilskraft und er zeichnet die Nachwirkungen des großen Denkers bis heute nach. Eine knappe, gut verständliche Einführung, die sich besonders an Studenten im Grundstudium richtet.

Herbert Schnädelbach, geb. 1936, lehrte Philosophie in Frankfurt, Hamburg und Berlin.

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Leseprobe

Kant, der klassische Philosoph der Moderne


Im Jahr 2004 jährte sich der Todestag Immanuel Kants zum 200. Mal, und auf vielfältige Weise wurde seiner gedacht. Was für ein Name – kantig und erzprotestantisch! Nicht herzerwärmend wie die Namen Mozarts oder Goethes, sondern ehrfurchtgebietend und einschüchternd. Kant ist schwer und dunkel: Wer weiß schon, was das Wort »transzendental« bedeutet oder was er mit dem legendären »Ding an sich« meinte? Und dann erscheint Kant vielen als der Philosoph mit dem erhobenen Zeigefinger, der die Pflicht um ihrer selbst willen eingefordert haben soll – typisch deutsch also – und deswegen sogar in die Geschichte des Präfaschismus eingeordnet wurde. (Vgl. Ebbinghaus 81 ff.) In jüngerer Zeit wurde er überdies als rationalistisches Monstrum hingestellt, dessen Lebenslauf zeige, wohin zu viel Vernunft führt. (Vgl. Böhme/Böhme)

Überhaupt dienen die skurrilen Geschichten über den alten und senil gewordenen Kant bis heute dazu, sich seiner zu erwehren und aus seinem Schatten zu entfliehen: »Seht, er war auch nur ein Mensch!« So ist das öffentliche Andenken an ihn wohl mehr Pflicht als Neigung, eine publizistische Verpflichtung, die dem allgemeinen Kulturkalender folgt, und da wäre es blamabel, wenn man eine Geistesgröße vergessen hätte.

Ganz anders verhält es sich im philosophischen Diskurs; die daran teilnehmen, braucht man nicht an Kant zu erinnern. Hier ist er allgegenwärtig, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht leicht zu erklären ist. Nimmt man einmal Platon aus, für den Ähnliches gilt, so fällt auf: Keiner unserer »Großen«, von Aristoteles bis Hegel, Nietzsche und Heidegger, kann so unumstritten beanspruchen, im Kontext unseres eigenen Denkens zu Wort zu kommen, wie Kant, und darum füllen Arbeiten über ihn ganze Bibliotheken; nicht die Forschung erhält Kant am Leben, sondern Kant die Forschung und damit zahllose Forscher in Amt und Brot. Goethe und Schiller sagten dazu: »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / Setzt! Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu tun.« (Goethe I, 210) Sein Werk hat alles überlebt, was seitdem als philosophische Revolution daherkam, und trotz seiner Verwurzelung im 18. Jahrhundert bewies es immer erneut, dass es unüberholbar ist. Nicht dass wir alle seine Antworten und Auskünfte einfach übernehmen könnten, aber was Kant sagte, fordert bis heute ständiges Gehör; kein anderer Philosoph wurde so oft »überwunden«, um sich danach bald wieder unüberhörbar zu Wort zu melden.

Was nicht veralten will, nennen wir »klassisch«. In diesem Sinne ist Platon der klassische Philosoph schlechthin; durch ihn wissen wir überhaupt erst, was Philosophie ist. Wir lesen ihn nicht wegen seiner positiven Theorien, die schon sehr lange nicht mehr zu überzeugen vermögen, sondern wegen der rätselhaften und unausschöpflichen Kraft seiner Schriften, unser eigenes Fragen anzuregen und zu bereichern. Überhaupt sind wohl die Fragen der Philosophie bestes Teil. Kant schreibt dazu: »Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle« (B 82), und er erbrachte selbst diesen Beweis in Form der berühmten vier Fragen, auf die sich ihm zufolge das gesamte »Feld der Philosophie« bringen lässt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« (Log A 25) Das sind klassische Fragen, weil nicht zu sehen ist, wie man es als Philosophierender unterlassen könnte, sie zu stellen. Im Unterschied zu Platon können wir aber bei Kant das, was er lehrte, nicht einfach auf sich beruhen lassen; seine Antworten gehen uns unvermindert an, und darum blieb es keinem bedeutenden Philosophen seit Kants Lebzeiten erspart, sich auch dann zuerst einmal mit ihm zu befassen, wenn er sich von ihm abwenden wollte. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Philosophiegeschichte in die Zeit »vor Kant« und »nach Kant« einzuteilen, und wir denken alle, wenn wir nicht bloß Philosophiehistoriker sein wollen, »nach Kant«, d. h. unter Bedingungen, die er ermittelt und zu respektieren gelehrt hat.

So ist Kant der philosophische Klassiker unserer Epoche – der klassische Philosoph der Moderne. Und doch ist Kant nicht modern im Sinne dessen, was gerade in Mode ist; sein Denken ist nicht der »letzte Schrei«, nicht der Inbegriff des Neuesten und Fortgeschrittensten, denn manches davon hat sich inzwischen als zeitbedingt und wissenschaftsgeschichtlich überholt erwiesen. »Moderne« kann hier nur als der Zustand gemeint sein, den unsere Kultur im Zuge der Neuzeit schließlich angenommen hat. Es ist Kants epochale Leistung, erkannt zu haben, was Modernität für unsere Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns bedeutet, und dies betrifft die Art der Fragen ebenso wie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Beantwortung. Wir können heute relativ unumstritten drei Strukturmerkmale angeben, die moderne Kulturen kennzeichnen: vollständige Reflexivität, Profanität und Pluralität, und bei Kant lässt sich beobachten, wie sich diese Trias in geradezu unwiderstehlicher Weise auch im Innenraum einer Philosophie durchsetzt, die an der Zeit ist und ihre Zeit in Gedanken erfasst.

Seitdem es Menschen gibt, leben sie als Kulturwesen, aber das wussten sie sehr lange Zeit nicht. Kulturen sind reflexiv, wenn sie sich vom bloß Natürlichen zu unterscheiden wissen und damit als Kulturen erfassen; die Unterscheidung zwischen der Menschenwelt und einem »Draußen« wird in elementarer Form bereits in den Mythologien getroffen, und sie ist auch die Wurzel des uns geläufigen Begriffs der Natur. (Vgl. Schnädelbach 1991, 517 f.) Vollständig reflexiv sind Kulturen, wenn sie sich bei ihrer Selbstinterpretation nicht länger auf etwas beziehen können, was Kultur und damit menschlicher Verfügung entzogen wäre – seien es Dämonen, Götter oder »die« Natur. So ist in der Moderne die Kultur in allen Dingen ganz auf sich selbst verwiesen; sie ist ihr eigenes Subjekt, denn es gibt hier keine höhere Instanz als das kulturelle »Wir«. Dass Kant gleichwohl die klassischen philosophischen Fragen in der Ich-Form formuliert, steht dazu nicht im Widerspruch, denn das »Wir« besteht ja, wenn es nicht selbst wieder zur einer mythischen Größe erhoben wird, faktisch aus lauter Einzelnen, die nur deswegen ›wir‹ sagen können, weil sie auch ›ich‹ zu sagen vermögen. So beginnt die Philosophie der Neuzeit seit René Descartes (15961650) ganz selbstverständlich mit dem seiner selbst bewussten Ich-Sagen: »Ego cogito, ergo sum (Ich denke, also bin ich)«, und dies ist der Raum der philosophischen Reflexion, in der sich die Reflexivität moderner Kulturen spiegelt; die Philosophie in einer Kultur, die sich anschickt, ihre eigene Subjektrolle zu übernehmen, ist notwendig Philosophie der Subjektivität.

Dabei wird zunächst der methodische Ausgang vom individuellen Bewusstsein nicht als Gefährdung der Allgemeingültigkeit der philosophischen Ergebnisse angesehen, weil man bis ins 19. Jahrhundert glaubt, von einer allgemeinen Menschennatur ausgehen zu können, die garantiert, dass das, was ich als Individuum im Medium des »Ich denke« über mich sicher wissen kann, auch für alle anderen gilt; in diesem Sinn spricht auch Kant vom »Bewußtsein überhaupt« (Prol A 82) als dem Garanten des philosophischen Wir-Sagens. Erst durch einen weiteren Aufklärungsschritt wurde es zum Problem: durch den Historismus, der erkennt, dass das, was Menschen über sich wissen, stets durch die jeweiligen historischen und kulturellen Verhältnisse bedingt ist, in denen sie leben; so ersetzt er das kantische »Bewußtsein überhaupt« durch das »historische Bewusstsein«, das als Bewusstsein vom Historischen sich selbst als ein historisches erfasst. (Vgl. Schnädelbach 1983, 51 ff.)

Dieser methodische Individualismus ist freilich keine bloß theoretische Veranstaltung. Wenn man sich fragt, was einen Philosophierenden dazu bewegen könnte, sich gegen allen Common Sense zunächst einmal ganz auf sein Ego und sein Bewusstsein zurückzuziehen, dann finden wir bei Descartes die Antwort: Es ist der Zweifel – nicht um des Zweifels willen, sondern auf der Suche nach einem Wissen, das auch subjektiv gewiss ist. Subjektive Gewissheit aber meint Autonomie im Wissen, unabhängig von der Macht der Traditionen und Autoritäten, und damit etwas eminent Praktisches, nämlich vernünftige Selbstständigkeit in allen Dingen. So ist die subjektive Vernunft als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie notwendig zugleich kritische Vernunft, die nichts gelten lassen möchte, was sie nicht selbst einzusehen vermag. Kant zeigte dann, dass dies notwendig die Selbstkritik der Vernunft einschließt, dass es also keine vernünftige Philosophie ohne Vernunftkritik geben kann; deswegen die gigantische Arbeit seiner drei »Kritiken« – der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft. So reicht die vollständige Reflexivität der Kultur, die sich um 1800 im Westen durchzusetzen beginnt, in Kants Werk bis in die innere Struktur dessen hinein, was die Philosophie als unsere Vernunft zu explizieren versucht.

Vollständig reflexive Kulturen sind zugleich profane Kulturen. Profan ist das Weltliche, das, was im Vorhof des Heiligen verbleibt,...

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