Einleitung: Leben und Werk
Bürgerlicher Wohlstand und Lebensstil ermöglichen Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno eine unbeschwerte, beschützte und glückliche Kindheit. Niemand konnte deshalb ahnen, dass er später eine Tradition mitbegründen wird, die unter dem Namen »Kritische Theorie« gerade bürgerlichen Gewissheiten ihre Selbstverständlichkeit nehmen sollte. Am 11. September 1903 wird ›Teddie‹, so sein Spitzname, in Frankfurt am Main geboren. Dort wächst er im behüteten Umfeld familiärer Geborgenheit, materieller Sicherheit und geistiger Förderung auf. Im Odenwaldidyll Amorbach verbringt die Familie die Sommer, das ihm seitdem als die Wirklichkeit gewordene Utopie gilt, mit der Welt eins zu sein. Neben der Mutter, einer geborenen Calvelli-Adorno della Piana, widmet sich besonders deren unverheiratete Schwester Agathe der musikalischen und literarischen Bildung des Hochbegabten. Mit 17 beginnt Adorno das Philosophiestudium in Frankfurt, wo Hans Cornelius sein Lehrer und Förderer wird. Bereits mit 21 wird er mit einer Arbeit über Husserls Phänomenologie promoviert. 1931 habilitiert Adorno sich mit der Schrift Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Noch im gleichen Jahr hält er seine Antrittsvorlesung »Die Aktualität der Philosophie« als Privatdozent für Philosophie.
Doch schlagartig bekommt die Idylle Risse. Adornos Vater, ein stadtbekannter Weinhändler, ist Jude. 1935 machen die Nürnberger Gesetze Adorno zum ›Halbjuden‹. Es folgen der Entzug der Privatdozentur, Publikationsverbot und polizeiliche Einschüchterungen. Adorno wird Augenzeuge der ersten Verhaftungswellen und Emigrationen jüdischer und oppositioneller Bürger*innen. Seine Beobachtungen drückt er in dem komponierten Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe (in Anspielung auf die gruselige Gegenfigur in Mark Twains Tom Sawyer) aus. Dort heißt es im »Lied vom Zusehen«: »Einer ist tot gegangen, / einer hat’s getan, / zwei haben zugesehen, / alle sind schuldig, / solange sie nicht reden«. Wegen ihrer Gleichgültigkeit trägt die schweigende Mehrheit die Verbrechen mit.
Von der beobachteten Gleichgültigkeit geht jener verstörende Impuls aus, der sein Denken fortan bestimmen sollte. Erschüttert wurde die bürgerliche Selbstgewissheit, dass materieller Wohlstand, kulturelle Tradition und geistige Bildung vor der Kälte gegenüber dem Schicksal der anderen schützen. Die bürgerlichen Werte haben Bürgerinnen und Bürger nicht von der Passivität abhalten können, mit der sie die Barbarei des Nationalsozialismus geschehen ließen. Nicht minder als die NS-Verbrechen hat die Gleichgültigkeit, die sie erst möglich machte, dem Vertrauen in Moral, Bildung und Wissenschaft den Boden entzogen.
Im Sommer 1934 emigriert Adorno nach Oxford, wo er sich am Merton College für ein Promotionsprojekt über Husserl einschreibt, das später unter dem Titel Zur Metakritik der Erkenntnistheorie veröffentlicht werden wird.
Nach vier Jahren siedeln er und seine Frau Gretel nach New York über. Zunächst arbeitet er am von Paul Lazarfeld geleiteten Radio Research Project in Princeton; später erhält er eine Anstellung am Institute of Social Research, dessen Direktor Max Horkheimer ist. Diesem folgt Adorno im November 1941 nach Los Angeles. Hier kommt es zur ertragreichen Zusammenarbeit mit Horkheimer und damit zur eigentlichen Geburtsstunde der Kritischen Theorie: Im kalifornischen Exil entsteht die von beiden gemeinsam verfasste Dialektik der Aufklärung, das Gründungsdokument der Kritischen Theorie. Auch schreibt Adorno hier das später erfolgreichste Buch dieser Denkrichtung, die Horkheimer gewidmeten Minima Moralia.
Zwei Einsichten aus Adornos Emigrationszeit prägen nachhaltig das Selbstverständnis der Kritischen Theorie: Erstens ist jene Gleichgültigkeit, die die NS-Barbarei möglich gemacht hatte, das Grundmerkmal jeder Gesellschaftsordnung, die vom ökonomischen Profitinteresse bestimmt wird. Gleichgültigkeit nimmt in ihr verschiedene Gestalten an. Die ›Kulturindustrie‹ beispielsweise bewirkt, dass die Betroffenen sich gleichgültig gegenüber ihren eigenen Interessen an einem guten Leben verhalten. Statt der Profitökonomie, die ihnen ein gutes Leben vorenthält, die Stirn zu bieten, geben sie sich mit deren oberflächlichen Ersatzangeboten zufrieden.
Zweitens bedarf es der empirischen Sozialforschung, um den »Zusammenhang politischer Ideologien mit einer bestimmten psychologischen Beschaffenheit derer, die sie hegen«, zu untersuchen. Theorien müssen durch »das Gewicht dessen […], was Empirie heißt,« geerdet werden und im empirischen Forschungsprozess anhand von Datenerhebungen überprüfbar sein. Dabei müssen wirtschaftliche, soziale, politische und psychologische Faktoren mit berücksichtigt werden, die die geäußerten Meinungen der Befragten bestimmen und die zugleich den Befragten verborgen bleiben.
1949 kehrt Adorno nach 15-jähriger Emigration an die Universität Frankfurt zurück, um zunächst als außerordentlicher Professor und ab 1957 als Ordinarius für Philosophie und Soziologie zu lehren. 1959 übernimmt er die Leitung des Instituts für Sozialforschung, das nach Frankfurt umgezogen bzw. zurückgekehrt war. Rückblickend beurteilt er die Emigrationsjahre für seine Neuorientierung im Nachkriegsdeutschland als ausschlaggebend. »[E]ntprovinzialisiert« und »von naturgläubiger Naivetät befreit« habe ihn vor allem
»die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: daß sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren. […] Drüben lernte ich ein Potential realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum vorfindlich ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher. Dem amerikanischen Leben eignet, trotz der viel beklagten Hast, ein Moment von Friedlichkeit, Gutartigkeit und Großzügigkeit, das von […] den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland […] aufs äußerste sich abhebt.«
Verstärkt mischt sich Adorno in die öffentlichen Debatten um die Demokratiedefizite und Vergangenheitsverdrängung in der jungen Bundesrepublik ein. In seinem Engagement drückt sich das Selbstverständnis einer Philosophie aus, die gleichermaßen Wissenschaft und Aufklärung sein will. Adorno verstand sich als Forscher und zugleich Intellektueller, der die öffentliche Kontroverse bewusst sucht. Diese Einheit von Theorie und Praxis steht im Kontrast sowohl zum Elfenbeinturm einer Wissenschaft, die sich gegen öffentliche Themen abschottet, als auch gegen einen Aktivismus, der Veränderungen ohne theoretische Reflexion herbeizuführen können glaubt: Damit Gesellschaftskritik in der Praxis wirksam wird, bedarf es, nur scheinbar paradox, der Theorie. Sie erfordert nicht nur eine Gesellschaftstheorie, in der die Strukturen des Sozialen, der Politik und Ökonomie untersucht werden. Sie muss zudem auf Augenhöhe mit dem Problemniveau der klassischen Philosophie sein und dabei über deren Antworten kritisch hinausgehen. Philosophische Grundlagenreflexion dient dabei dazu, zwischen Theoriealternativen zu unterscheiden, die jeweils andere Zeitdiagnosen und Lösungsansätze nach sich ziehen. Mit seiner Verankerung von Praxis in Theorie widerspricht Adorno insoweit der elften Feuerbach-These von Marx. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.« Die Welt zu verändern sei dem Marxismus, so Adornos Kritik, aber gerade selbst deshalb misslungen, weil sie die Welt zu wenig interpretiert habe:
»Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.«
Obwohl Theorie und Praxis für Adorno zusammengehören, hat er sie nie miteinander vermischt. Strikt wird getrennt zwischen der wertfreien Wissenschaft, deren Zweck Erkenntnis ist, und einer effektiven Einflussnahme, die der Durchsetzung von Zielen dient. Nur eine solche Arbeitsteilung scheint Theorie und Praxis miteinander versöhnen zu können.
Auch als akademischer Lehrer verstand es Adorno, Verschiedenes zusammenzuführen. Lehre und Forschung waren für ihn derartig eng miteinander verwoben, wie es in heutigen Bachelor- und Master-Studiengängen undenkbar wäre. Insbesondere seine Vorlesungen dienten als ein Laboratorium, in dem die Grundgedanken für Werke wie die Negative Dialektik und die Ästhetische Theorie entwickelt wurden. Die Vorlesungen werden deshalb in dieser Einführung ausdrücklich mitberücksichtigt.
Adorno äußerte sich bei seiner Rückkehr aus dem Exil begeistert über die Talente, Interessen und Neugier der Studentinnen und Studenten. Ab 1967 kommt es jedoch verstärkt zu Konfrontationen mit der Studentenbewegung, die in der von ihm veranlassten polizeilichen Räumung des besetzten Instituts für Sozialforschung gipfelten. Am 6. August 1969 stirbt Adorno während eines Urlaubs in Zermatt an den Folgen eines Herzinfarkts.
Adornos Werk umfasst Schriften...