Vortrag, gehalten am 30. November 2010 in der Universität Köln
Theater ist überflüssig. Theater ist überflüssig und teuer. Die deutsche Theaterlandschaft ist teuer und überflüssig und aus der Zeit gefallen. Da kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Warum aber treibt dann ein drohender Theaterabriss innerhalb kürzester Zeit 50.000 Bürger zur Unterschrift gegen einen Ratsbeschluss (der Stadt Wuppertal), warum lässt die Kürzung von Theaterzuschüssen einen stolzen Stadtstaat (Hamburg) plötzlich erbärmlich dastehen, warum besuchen Jahr für Jahr 300.000 Zuschauer die Kölner Bühnen? Was hält uns und unser Publikum fest an diesem Medium?
Geht es hier um betreutes Arbeiten für eine Horde lebensuntüchtiger Drückeberger? Geht es darum, dem Zuschauer ein vergrößertes Wohnzimmer mit Kostümen und Schmuck zu tapezieren? Geht es darum, sich vor den relevanten Dingen der Welt zu verkriechen, indem man sich den Eindruck der Teilhabe am Leben künstlich verschafft, an einem Ort des Als-ob? Oder geht es auf der Bühne darum, wie es Artaud einst formulierte, als Verbrennender vom Scheiterhaufen herab den Zuschauenden letzte Zeichen zu geben? Geht es um die verzweifelte heroische Geste oder um den ewigen Kindergarten?
Theater ist live. Das einzigartige Spezifikum des Theaters liegt auf der Hand. Der lebendige Moment, nicht medial vermittelt, nicht konserviert und nicht unendlich wiederholbar. Dazu ein paar Gedanken, die vielleicht Offensichtliches formulieren, aber dabei helfen sollen, sich einem Phänomen zu nähern.
Theater entsteht im Augenblick und ist im nächsten Moment auch wieder verschwunden. Oft denken wir, das sei schade, doch in Wirklichkeit ist es ein befreiender Sachverhalt. Denn seinetwegen muss man sich während der Arbeit nie die Frage stellen, was wohl die Nachwelt darüber denkt, oder ob das, was man tut, zukunftsträchtig ist oder nicht. Ähnliches gilt für die Vergangenheit. Theater benutzt zwar Stoffe der Vergangenheit, muss sich ihrer Geschichtlichkeit aber nicht verpflichtet fühlen. Das ist ein Privileg. Theater kann, sozusagen über dem Zeitkontinuum schwebend, unabhängig vom Prüfstand der Geschichte und unbelastet vom zukünftigen Urteil, sich in wüsten Behauptungen Abend für Abend immer neu erfinden. Diese Unabhängigkeit von Zukunft und Vergangenheit macht den Theatermacher und hoffentlich auch den Zuschauer unendlich frei. Frei für anarchistische Behauptungen und wilde Assoziationen, die vielleicht nur einen kleinen Augenblick Bestand haben, aber gerade deswegen ein neues Licht auf die Dinge werfen können.
Ich bin recht spät das erste Mal ins Theater gegangen. Da war ich schon 15, und es hat mein Leben verändert. Es ging auf der Bühne um eine jener Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn – und während die beiden Bühnenfiguren miteinander diskutierten, stritten, kämpften, wurde mein Verlangen immer größer, aufzuspringen und dazwischenzurufen: »Ja, ja, genau so ist es! Nein, nein, das stimmt doch gar nicht!« Der Impuls hat mich geradezu zerrissen, aufgewühlt, aus der Reserve gelockt. Das war eine Aufforderung: Du kannst eingreifen, du musst eingreifen! Mach es! Ruf was! Die Vereinbarung, dass das Publikum still zuschaut, während die da oben spielen, weckt im Theater die unbedingte Lust, sich einzumischen. So werden Affekte, Leidenschaften, Gedankenprozesse, Erregungen evoziert und provoziert, wie, so scheint mir, an keinem anderen Ort.
Nach diesem ersten Theaterabend folgte eine lange Bahnfahrt mit der KVB. Ich saß da mit meinen Freundinnen, wir waren aufgewühlt und redeten die armen anderen Fahrgäste schwindelig. Keiner kann das Theater verlassen und einfach schweigen: Man muss darüber reden. Und sei es nur, um seinem Ärger Luft zu machen. Kein anderes Medium zwingt einen so sehr zum Reden wie das Theater. An der Endhaltestelle der Linie 1 hatten wir damals 15-Jährigen die Erfahrung gemacht, dass ästhetische und intellektuelle Auseinandersetzungen extrem lustvolle Vorgänge sind. Dass sie unglaublichen Spaß machen und einen unfassbar reich beschenken. Ich behaupte, dass dieser Genuss mein Leben extrem beeinflusst hat, ich meine die Diskussion, die damit verbundene Bildung und die Hinterfragung von Werten. Theater spiegelt nicht die Gesellschaft, es hinterfragt und kommentiert sie. Vor allen Dingen aber fordert das Theater den Zuschauer zu einem Kommentar heraus.
Der Live-Moment des Theaters birgt glücklicherweise ein hohes Maß an Unkontrollierbarem, aufseiten der Spieler und aufseiten der Zuschauer. Und da fängt der Spaß erst richtig an. Das Faszinierende an meinem Beruf sind ja nicht allein die hehren Gründe, die Bildung, die Reflexion, die Lust an der Auseinandersetzung. Das ist alles sehr wichtig, aber darüber hinaus gibt es die dunklen Ecken, Gassen und Zimmer. Wirklich spannend wird es, wenn das Theater an unsere niederen Instinkte rührt, wirklich spannend ist die Verbindung des Geistigen mit der Ursuppe, mit dem Chtonischen, mit dem Schlamm, mit dem Matsch.
Tatsächlich ist es doch so, dass wir alle über ein großes Maß an Gewaltbereitschaft, an Destruktivität, an Bösartigkeit, an Rohem, an Krudem, an Schmutzig-Hässlichem und wirklich Gemeinem verfügen. Da schlummert eine große Kraft in uns und oft genug eine große Lust– oder nicht? Wo normalerweise Wahnsinn und Gefängnis die Folge wären, kann ich im geschützten Raum des Theaters darauf hoffen, die Kontrolle zu verlieren, mit anderen zusammen, ich kann die Schauspieler für mich schwitzen lassen und darauf setzen, dass etwas anders läuft an diesem Abend als sonst. Das kathartische Potenzial solcher Momente ist offensichtlich.
Theater wirkt auf Geist, Geschlecht und Gedärm. Schönheit und Grauen sind dabei kein Gegensatzpaar. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Nichts ist berauschender als das Erschrecken. Das Dunkle, Unkontrollierbare, Rauschhafte mischt sich mit der Lust am Geistigen, Sprachlichen, Anstrengenden – diese Mischung ist es, die mich seit zwei Jahrzehnten an das Theater fesselt. Sie macht den Theatermacher frei. Und den Zuschauer hoffentlich auch.
Seien wir politisch unkorrekt! Das Theater erlaubt mir, wissenschaftlich sträflich unpräzise, moralisch anrüchig und halbseiden zu sein. Wo sonst kann ich rauschhaft, triebhaft, intelligent, böse, politisch unkorrekt, politisch korrekt, sinnlich, unverschämt, lächerlich und – jetzt kommt das Allerbeste – frei von Instanzen sein. Theater hat und schenkt diese Freiheit, die es beispielsweise Christoph Schlingensief gestattete, eines seiner Projekte »Ausländer raus« zu taufen; und dies war bei aller Obszönität ein Ausdruck großer künstlerischer Integrität. Oder auch Ausdruck maßloser Boshaftigkeit – eines Impulses, der auch mich bereit machen könnte, mich als Oberhexe an die Spitze einer Bewegung zu stellen.
Theater darf alles aus dem Kontext reißen, darf gleichzeitig »Hosianna!« und »Kreuziget ihn!« rufen. Und wenn alle Stricke reißen, hat Theater sogar die Freiheit, sich ganz einfach des gesunden Menschenverstands zu bedienen. Eine Freiheit, die es sonst in unserer Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft, so ohne Weiteres nicht gibt. Mit jedem Muster, jedem Modell, jedem System darf das Theater krude umgehen.
Natürlich müssen wir dem Theater auch gestatten, unperfekt, fragwürdig, unkorrekt zu bleiben. Das gilt auch für meine eigene Arbeit, zum Beispiel für die Aufführung »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen«. Der Zuschauer sieht sich darin mit gesellschaftlichen Außenseitern konfrontiert, die in einem schalldichten Glascontainer ihren Alltagsgeschäften nachgehen.
Wie einfach wäre es gewesen, süffisant zu konstatieren, es wirke politisch doch vollkommen unglaubwürdig, wenn Stadttheaterschauspieler Underdogs mimen, wenn die bürgerliche Kunstform Theater den Eindruck erweckt, sie wolle intimen Einblick gewähren in die Abgründe des Sozialen. Wie einfach wäre es gewesen, die theatralen Details auf ihre naturalistische Plausibilität zu befragen – bei diesem Unterfangen wäre allein die Bühnenbildkonzeption schon auf Anhieb durchgefallen. Oder haben Sie schon mal irgendwo auf der Welt gesehen, dass so viele Leute in einem schalldichten Glascontainer leben? Da hätte man auch schnell auf die Vermutung verfallen können, dass sich die Regisseurin diesen schalldichten Raum für ihre Schauspieler nur deshalb hat bauen lassen, weil sie die Widerworte der Kollegen einfach nicht mehr ertragen konnte. Eine Vermutung, die ich natürlich weit von mir weise.
Jenseits aller Bedenkenträgerei müssen wir dem Theater eine Freiheit zugestehen, die erst die Räume öffnet für Reflexionen über unsere privilegierte Stellung, also zum Beispiel über unseren vielleicht voyeuristischen Abstand zu den Ausgestellten, Ausgegrenzten, Abstoßenden und Abgestoßenen.
Wenn Theater schlecht ist, trifft das den Zuschauer wirklich schlimm. Natürlich leidet auch der Restaurantbesucher, wenn das Essen versalzen ist, oder der Romanleser, wenn der Ausdruck verquast ist. Aber ein schlechter Theaterabend setzt uns mehr zu, er wirkt wie Pest und Cholera zugleich.
Theater nervt. Theater ist laut. Das muss so sein – aber weil es so ist, kann man sich nirgendwo so schrecklich langweilen wie im Theater.
Was passiert eigentlich, wenn ein Theaterabend gelingt? Das persönliche Erlebnis, der Drang aufzustehen, dazwischenzurufen, sich einzumischen und zugleich die Selbstdisziplin, gerade...