4 Kernelemente der Diagnostik
Harald Ullmann
4.1 »Objektive« Diagnostik im Kontext der Interaktion
Das Erstgespräch für eine ins Auge gefasste KIP beginnt üblicherweise so, wie es der Therapeut in seiner jeweiligen Ausbildung gelernt hat. Der psychoanalytisch geschulte Therapeut achtet in besonderer Weise – wie von Argelander (1970a) beschrieben – auf markante Szenen und nimmt ggf. in Probedeutungen darauf Bezug. Nicht selten werden sich im Rahmen einer in Gang gekommen KIP später ähnliche Szenen noch einmal auf bildhafte Weise darstellen und symbolisch verdichten. In den ersten Stunden der Begegnung achtet ein in der KIP ausgebildeter Therapeut darüber hinaus in besonderer Weise auf die Bildhaftigkeit in der Sprache seines Patienten und greift Sprachbilder auf, die dazu angetan sind, in die Symbolwelt von therapeutisch begleiteten Tagträumen Eingang zu finden. Während der systematischen Erhebung der biographischen Anamnese geht es dem Tagtraumtherapeuten neben der Vorgeschichte der Konflikte und Symptome auch um die Vorgeschichte der Ressourcen und Kompetenzen, da diese in der Psychotherapie mit dem Tagtraum einen besonderen Stellenwert haben.
Die erste Phase einer als KIP projektierten psychodynamischen Psychotherapie ist aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht einseitig in ihrer diagnostischen Funktion darzustellen. Denn der Untersuchungsvorgang als solcher ist geeignet, das zu beobachtende »Objekt« zu beeinflussen. In dieser Erkenntnis war die Physik der Psychologie voraus. Heisenbergs Unschärferelation lehrt uns darüber hinaus, dass die verbesserte Erfassung eines bestimmten Aspekts mit reduzierter Erkennbarkeit anderer Aspekte einhergeht. Eine einheitliche Weltformel ist ebenso wenig in Sicht wie ein allumfassendes Weltbild. Die moderne Physik stützt sich stattdessen auf Modelle, in welchen bestimmte Aspekte der zu untersuchenden Phänomene ausschnitthaft und für den jeweiligen Zweck hinreichend brauchbar dargestellt werden. All dies gilt analog auch für jene Modelle, die in der Psychotherapie zur Anwendung kommen.
Folgt man den Modellvorstellungen, die Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack mit ihrem ersten umfassenden Lehrbuch der Psychosomatik (1979) auf den Weg gebracht haben, dann wirken diagnostische und therapeutische Bemühungen als »diagnostisch-therapeutischer Zirkel« aufeinander ein. Das Objekt der Beobachtung verändert sich im Zuge des Anteil nehmenden Betrachtens und Interagierens, auch wenn für bestimmte Zwecke immer wieder vorrangig ein diagnostischer Blick angezeigt ist. Folgt man darüber hinaus den Argumenten, die für eine intersubjektive Perspektive sprechen, dann macht die Veränderung auch vor dem beobachtenden Subjekt des Therapeuten nicht halt (Ermann 2014).
Gleichwohl gibt es für klinische wie für wissenschaftliche Zwecke immer wieder gute Gründe für eine zweckgerichtete diagnostische Perspektive, sei es, um Weichen zu stellen, um Zwischenbilanz zu ziehen oder um den Therapieerfolg zu dokumentieren. Projektive Tests und bewährte Instrumente der Psychometrie finden daher auch in klinischen Institutionen und Praxen mit KIP-Schwerpunkt Verwendung. Die Versorgungsstrukturen machen in der Regel eine Diagnosestellung nach ICD-10 und/oder DSM-5 erforderlich, auch wenn diese beiden internationalen Klassifikationssysteme durch Revisionen für den Bereich der neurotischen Störungen, der Persönlichkeitsstörungen und der psychosomatischen Erkrankungen an Relevanz eingebüßt haben. Die Klassifizierung in den Achsen der OPD-2 (Arbeitskreis OPD 2014) hat sich als besser tauglich erwiesen und allgemein durchgesetzt. In der KIP bilden sich einzelne diagnostische Aspekte der OPD mitunter eindrucksvoll ab ( Kap. 4.4 Fallvignette Manuela A.).
4.2 Initialer Tagtraum und Strukturdiagnostik
Im Hinblick auf die kreative Gestaltung des therapeutischen Raums unterscheiden sich die Methoden der psychodynamischen Therapie zwar ganz erheblich, doch in diagnostischer Hinsicht geht es zunächst einmal um ähnliche Herausforderungen. Es gilt, die hinter den Symptomen oder Problemen wirksame neurotische Dynamik herauszufinden und die psychische Struktur auf Funktionsfähigkeit wie auf Stabilität zu prüfen, verbunden mit entsprechenden Vorstellungen über die anzuwendende therapeutische Strategie (Rudolf et al. 2002). Die zur Psychotherapie anstehenden Störungen werden in der Regel modellhaft in drei Klassen eingeteilt: konfliktdynamische Störungen sind von entwicklungsdefizitären und traumatisch bedingten Störungen abzugrenzen (Ermann 2009, S. 73). Auch für die jeweilige KIP ist eine solche diagnostische Trias Richtung weisend, in der anfänglichen Gesprächsphase wie in der ersten Imaginationsübung, dem so genannten »Initialen Tagtraum« (ITT).
Der allererste Tagtraum einer beginnenden KIP hat diagnostische und therapeutische Funktionen (Ullmann 1997). Zum einen fungiert der ITT als eine Art projektiver Test, wie man ihn aus der Testpsychologie kennt, indem er innerpsychische Strukturen und Konflikte auf symbolische Weise abbildet. Zum anderen geht es aber auch darum, die therapeutische Beziehung als solche »auszutesten« – nicht ohne sie zugleich so gut wie möglich zu fundieren. Im ITT und in dem dazu vom Patienten gemalten Bild kann all dies – oft in sehr eindrücklicher Form – zur symbolhaften bildlichen Darstellung kommen, ebenso wie Merkmale der jeweiligen ich-strukturellen Gegebenheiten, die der Patient mitbringt. Daraus leiten sich Behandlungsanzeigen für die künftige Gestaltung der jeweiligen KIP ab.
Auf die Prüfung der Indikation zur KIP ( Kap. 5.6) folgen weitere Fragestellungen, die sich auf individuelle wie auf situative Faktoren beziehen. Die diagnostische Aufmerksamkeit hat jetzt differentialtherapeutische Erwägungen einzubeziehen und orientiert sich dabei an der vorerwähnten diagnostischen Trias. Handelt es sich um einen ich-strukturell weitgehend stabilen, neurotisch gestörten Menschen mit abgrenzbaren Konflikten, dann wird man ohne weiteres auf ein Einsichten förderndes Vorgehen setzen und mit expliziten Mitteln der Technik arbeiten können. Handelt es sich dagegen um einen Menschen, der seelisch auf einem niedrigen strukturellen Niveau funktioniert und Entwicklungsdefizite aufweist, dann muss man stets aufs Neue Hilfs-Ich-Funktionen bereitstellen, bei der Wahrnehmung wie bei der Verbalisierung von Affekten assistieren und für eine Verbesserung der Affektregulation Sorge tragen – mit dem langfristigen Ziel eines höheren Mentalisierungsniveaus ( Kap. 7.1). Liegt eine traumatisch bedingte Störung vor, dann stehen für die erste Strecke der Therapie vorrangig der Schutz vor Retraumatisierung, der Aufbau von innerpsychischen Sicherheitsarealen und die Förderung von Ressourcen wie von Kompetenzen an ( Kap. 7.5). Die KIP hat hier in diagnostischer wie in therapeutischer Hinsicht ein vielfältiges Repertoire an Möglichkeiten anzubieten.
4.3 Die Beziehung im Fokus der KIP und ihrer Motivgestaltung
Sorgsamer Abwägung bedarf die Frage, ob die therapeutische Begegnung als kurze Krisenintervention angelegt sein oder in eine längerfristig angelegte Psychotherapie einmünden sollte. Für die diagnostischen Aspekte der Krisenintervention mit der KIP sei auf das diesbezügliche Kapitel des Handbuchs KIP verwiesen (Ullmann und Wilke 2012). Im klassischen Lehrbuch der KIP (Leuner 2012) finden sich eine Vielzahl von anschaulichen Fallvignetten zur Weichenstellung zwischen Kurz- und Langzeitpsychotherapie (KZT, LZT). »Anschaulich« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Imaginationen als solche bildhaft in die eine oder andere Richtung weisen und Hinweise für einen möglichen Behandlungsfokus geben können. Denn sie enthalten eine hohe Fokussierungspotenz, die schon in den experimentellen Anfangszeiten der KIP offenkundig war. An den induzierten Bildvorstellungen fiel auf, dass sie auf neurotische Komplexe hinwiesen, in denen die Konfliktdynamik in symbolischer Weise verschlüsselt erschien (Leuner 1954). Durch treffende Deutungen, aber auch durch eine ihnen innewohnende (»autosymbolische«) Tendenz zur Selbsterklärung waren solche neurotischen Komplexe wie die mit ihnen einhergehenden Symptome in kurzer Zeit zur Auflösung zu bringen. Damit empfahl sich das KB als Methode für eine KZT oder Fokaltherapie. Mit der zunehmenden metapsychologischen Fundierung auf psychoanalytischer Basis und mit der Erweiterung des Indikationsspektrums um schwere Störungen der Persönlichkeit etablierte sich die KIP mehr und mehr als Methode für längerfristig angelegte Behandlungen. Auch für die LZT ist es ratsam, den einen oder anderen Fokus im Auge zu behalten. Die KZT ist per se in der Regel unschwer auf einen Fokus auszurichten, wie er sich nicht...