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Kaufsucht in der Schweiz

Verbreitung, Ursachen und Konsequenzen - Studie 2010

AutorVerena Maag
VerlagVerlag Rüegger
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl124 Seiten
ISBN9783725310630
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Obwohl die meisten Studien zur Kaufsucht vorwiegend psychologische Determinanten untersuchen, spielt das gesellschaftliche Umfeld eine entscheidende Rolle. Der Konsum ist ein wesentliches Gestaltungselement unserer hochentwickelten Gesellschaften, und es ist kaum möglich, sich dem Einfluss dieser Konsumkultur vollends zu entziehen. Dennoch sind Konsumierende keine willenlosen, aussengesteuerten Marionetten, und unkontrolliertes Kaufverhalten lässt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss allein nicht erklären, auch wenn dieser noch so stark und allgegenwärtig ist. Erst wenn individuelle Defizite vorliegen, kann Kaufsucht entstehen. Sie ist das Produkt eines komplexen Zusammenwirkens äusserer und innerer Faktoren. Inhaltsverzeichnis: Teil 1: Einführung 1.1 Kaufsuchtproblematik und empirische Forschungsfragen 1.2 Interdiziplinäre Fragestellungen und Methode 1.3 Erklärungsansätze und Gliederung der Arbeit Teil 2: Theoretische Ansätze und Forschungsstand 2.1 Gesellschaftliche Ursachen von Kaufsucht 2.1.1 Konsum als soziale Distinktionspraxis 2.1.2 Konsum in der Überflussgesellschaft 2.1.3 Verführung zum Konsum 2.1.4 Konsum als kulturelles Phänomen 2.1.5 Hedonistische Konsumtheorie 2.1.6 Konsum, Identität und posttraditionale Gesellschaft 2.1.7 Konsum zur Symbolisierung des Lebensstils 2.1.8 Konsum als Ausdruck von Liebe 2.1.9 Konsum als Form der sozialen Kontrolle 2.1.10 Exkurs: Konsumverzicht als Experiment 2.1.11 Fazit 2.2 Umgebungs- und Gelegenheitsfaktoren 2.2.1 Erlebniskonsum als Freizeitaktivität 2.2.2 Shoppinginfrastruktur 2.2.3 Verhältnis zum Geld 2.2.4 Einfluss der Kreditkarten 2.2.5 Fazit 2.3 Persönlichkeitsfaktoren 2.3.1 Konsum im Zeitalter des Narzissmus 2.3.2 Konsum als Selbstergänzung 2.3.3 Tiefes Selbstwertgefühl 2.3.4 Kompensatorisches Kaufen 2.3.5 Psychiatrische Komorbidität 2.3.6 Hedonistische Orientierung 2.3.7 Materialistische Werthaltung 2.3.8 Schwache Selbstkontrolle 2.3.9 Neurobiologische Prozesse 2.3.10Fazit 2.4Konsum und Geschlecht 2.4.1 Hoher Frauenanteil bei Kaufsüchtigen 2.4.2 Kaufsucht als weibliche Abhängigkeitsstörung 2.4.3 Shopping als weibliche Routineaktivität 2.4.4 Mode und weibliche Identität 2.4.5 Fazit 2.5 Konsum und Alter 2.5.1 Kaufsucht und Alter 2.5.2 Konsum und sozialer Wandel 2.5.3 Identitätsstiftende Jugendkulturen 2.5.4 Jugendliche Selbstinszenierung und Markenkult 2.5.5 Narzisstischer «neuer Sozialisationstyp» 2.5.6 Selbstkontrolle bei Jugendlichen 2.5.7 Studien zum Jugendkonsum 2.5.8 Konsumsozialisation und Konsumpädagogik 2.5.9 Fazit 2.6 Definitionen unkontrollierten Kaufverhaltens 2.6.1 Psychiatrisches Krankheitsbild 2.6.2 Suchtforschungsansatz 2.6.3 Definitionen aus der Konsumforschung 2.6.4 Unkontrolliertes Kaufen und gekaufte Produkte 2.6.5 Negative Konsequenzen als Teil der Definition 2.6.6 Grauzonen zwischen Normalität und Sucht 2.6.7 Fazit 2.7 Quantifizierung unkontrollierten Kaufverhaltens 2.7.1 Wahl eines Erhebungsinstrumentes 2.7.2 Kanadischer Kaufsuchtindikator 2.7.3 Deutscher Kaufsuchtindikator 2.7.4 Fazit 2.8 Prävalenz unkontrollierten Kaufverhaltens 2.8.1 Prävalenz aufgrund repräsentativer Erhebungen 2.8.2 Zunahme der Verbreitung von unkontrolliertem Kaufen 2.8.3 Fazit 2.9 Konsequenzen unkontrollierten Kaufverhaltens 2.9.1 Verschuldung und rechtliche Schranken 2.9.2 Unkontrolliertes Kaufverhalten und Verschuldung 2.9.3 Persönliche und soziale Probleme 2.9.4 Fazit Teil 3: Ergebnisse der Befragung 3.1 Methode der Repräsentativerhebung 3.1.1 Stichprobe und Befragungsmethodik 3.1.2 Erhebungsinstrument 3.1.3 Statistische Auswertung 3.2 Verbreitung unkontrollierten Kaufens 3.2.1 Prävalenz der Kaufsucht in der Schweiz 3.2.2 Potentiell gefährdete unkontrolliert Kaufende 3.2.3 Dimensionen unkontrollierten Kaufverhaltens 3.2.4 Itemanalyse des Kaufsuchtindikators 3.2.5 Zusammenfassung 3.3 Kaufsucht bei Frauen und Männern 3.3.1 Geschlechtsspezifische Prävalenzen 3.3.2 Geschlechterunterschiede im Detail 3.3.3 Zusammenfassung 3.4 Kaufsucht bei jungen Erwachsenen 3.4.1 Alterspezifische Prävalenzen 3.4.2 Kaufen und Gefühle nach Alter 3.4.3 Zusammenfassung 3.5 Junge Frauen als Risikogruppe 3.5.1 Einfluss von Alter und Geschlecht 3.5.2 Weitere mögliche Einflussfaktoren 3.5.3 Zusammenfassung 3.6 Kreditkartengebrauch 3.6.1 Kreditkartenbesitz und unkontrolliertes Kaufen 3.6.2 Kreditkartengebrauch und unkontrolliertes Kaufen 3.6.3 Zusammenfassung 3.7 Negative Folgen unkontrollierten Kaufens 3.7.1 Finanzielle Probleme 3.7.2 Persönliche Probleme 3.7.3 Zusammenfassung Teil 4: Versuch einer Integration 4.1 Ergebnisse, Diskussion und theoretische Bezüge 4.2 Schlussfolgerungen für Forschung und Praxis Teil 5: Anhang 5.1 Verzeichnis der Tabellen 5.2 Verzeichnis der Abbildungen 5.3 Deutscher Fragebogen 5.4 Französischer Fragebogen 5.5 Literatur

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Leseprobe

Theoretische Ansätze und Forschungsstand

2.1 Gesellschaftliche Ursachen von Kaufsucht

Obwohl die meisten Studien zur Kaufsucht vorwiegend psychologische Determinanten untersuchen, spielt das gesellschaftliche Umfeld eine entscheidende Rolle. Der Konsum ist ein wesentliches Gestaltungselement unserer hochentwickelten Gesellschaften, und es ist kaum möglich, sich dem Einfluss dieser Konsumkultur vollends zu entziehen. Dennoch sind Konsumierende keine willenlosen, aussengesteuerten Marionetten, und unkontrolliertes Kaufverhalten lässt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss allein nicht erklären, auch wenn dieser noch so stark und allgegenwärtig ist. Erst wenn individuelle Defizite vorliegen, kann Kaufsucht entstehen. Sie ist das Produkt eines komplexen Zusammenwirkens äusserer und innerer Faktoren. Dieser Abschnitt 2.1 beschreibt zunächst die Bedeutung des Konsums in unserer Gesellschaft, ohne dabei die pathologische Spielart speziell ins Auge zu fassen. Auch interessiert hier, warum der normale Konsum in unserer Gesellschaft einen überaus fruchtbaren Boden für Kaufsucht darstellt.

2.1.1 Konsum als soziale Distinktionspraxis

Theoretische Ansätze, welche den Konsum als sozialen Distinktionsprozess auffassen, liegen bereits seit hundert Jahren vor: Veblen erklärt in seinem 1899 erstmals erschienen Buch «The Theory of the Leisure Class» (Veblen, 1975 [1899]) den demonstrativen Konsum und Müssiggang der herrschenden Klasse mit deren Bedürfnis, soziales Prestige zum Ausdruck zu bringen. Die konsumierende Frau unterstützt dabei die Statusposition des Mannes, indem sie sich modisch kleidet.

Auch Simmel (1998 [1923]) beschreibt, wie Personen aus niedrigeren sozialen Schichten das Konsumverhalten von Angehörigen höherer Schichten nachzuahmen versuchen. Er analysiert die Doppelrolle der Mode als Anpassungs- und Unterscheidungsmittel: «Sie ist Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem blossen Beispiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterscheidungsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-abheben.» (Simmel, 1998, S. 40)

Bourdieu (1982) beschreibt, wie soziale Distinktion durch Geschmack und Kulturkonsum ausgedrückt wird. Der Konsum kultureller Güter erfordert kulturelle Kompetenz und ist abhängig vom Ausbildungsgrad und der sozialen Herkunft. Der Kunstkonsum dient der Erlangung von sozialem Status und erfüllt so die Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede.

2.1.2 Konsum in der Überflussgesellschaft

Nach dem Zweiten Weltkrieg breitet sich die Konsum- und Wohlstandsgesellschaft rasch aus und ruft dabei auch kritische Stimmen auf den Plan, welche die problematischen Seiten dieser neuen Entwicklung beleuchten (siehe auch Abschnitt 2.1.9).

Schon vor fünfzig Jahren analysiert der amerikanische Ökonom und Sozialkritiker Galbraith in seinem Buch «The affluent society» (1958) die Rolle des Konsums in den modernen Wohlstandsgesellschaften. Er stellt darin fest, dass die steigende Güterproduktion, die noch im 19. Jahrhundert der Deckung der Grundbedürfnisse diente, zunehmend Überfluss produziert und damit auch ihre Funktion ändert: «When man has satisfied his physical needs, then psychologically grounded desires take over.» (Galbraith, 1958, S. 112) Die Nachfrage nach diesen Gütern muss künstlich, d. h. durch Werbung erzeugt werden. Galbraith sieht die Konsumierenden als Wesen, deren Bedürfnisse durch die Macht der Produktion und des Marktes geformt sind. Auf der Seite der Konsumierenden führt das Bedürfnis nach sozialem Prestige zum Erwerb von Gütern: «One man’s consumption becomes his neighbour’s wish.» (Galbraith, 1958, S. 120) Dieser Prozess gewinnt ein Eigenleben und schraubt die Produktion immer weiter in die Höhe: «The more wants that are satisfied, the more new ones are born.» (Galbraith, 1958, S. 121) Galbraith weist am Schluss seiner Analyse der Überflussgesellschaft weitsichtig auf die Gefahren einer sich immer weiter in die Höhe schraubenden Produktion hin, etwa den immer enger werdenden Lebensraum oder das Versiegen der natürlichen Ressourcen.

2.1.3 Verführung zum Konsum

Auch Packard (1957) äussert sich konsumkritisch in seinem fast gleichzeitig erschienenen Buch «The Hidden Persuaders». Er vertritt darin die These, dass die Konsumierenden durch die sublimen Strategien der Werbung und der Verkaufstechnik dazu verführt werden, Produkte zu kaufen, die sie nicht unbedingt benötigen. Dabei kommen die Erkenntnisse der Motivforschung zur Anwendung, welche unser Unbewusstes ergründen; denn Kaufentscheide sind oft unbewusste Handlungen: «Actually in the buying situation the consumer generally acts emotionally and compulsively, unconsciously reacting to the images and designs which in the subconscious are associated with the product.» (Packard, 1957, S. 5)

Es ist das erklärte Ziel der Werbung, Menschen zu beeinflussen, und es ist das Verdienst von Packard, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass diese Werbepraktiken manchmal so subtil sind, dass wir sie kaum bemerken. Oft ist Werbung jedoch nicht unterschwellig, sondern offensichtlich. Wir nehmen sie bewusst war und können uns im Prinzip einer Beeinflussung auch entziehen. Spätere konsumtheoretische Ansätze weisen zu Recht darauf hin, dass die Konsumierenden nicht nur passiv verführte Wesen sind, sondern auch aktiv begehrende (etwa Campbell, 1987, siehe Abschnitt 2.1.5).

2.1.4 Konsum als kulturelles Phänomen

Baudrillard identifiziert in seinem Buch «La société de consommation» (1970) den Konsum als zentralen Bestandteil der modernen Gesellschaft. Der Symbolwert der konsumierten Güter dient der sozialen Differenzierung und zwingt das Individuum, sich in einen disziplinierenden Arbeitsprozess zu integrieren. In der Konsumgesellschaft ist das Individuum laut Baudrillard nicht frei, denn «La société de consommation, c’est aussi la société d’apprentissage de la consommation, de dressage social à la consommation.» (Baudrillard, 1970, S. 114) «Elle est une conduite active et collective, elle est une contrainte, elle est une morale, elle est une institution. Elle est tout un système de valeurs, avec ce que ce terme implique comme fonction d’intégration du groupe et de contrôle social.» (Baudrillard, 1970, S. 114)

Im Anschluss an Baudrillard (1970) beschreiben die Anthropologen Douglas und Isherwood (1979) die kommunikative Bedeutung der Waren: «In the protracted dialogue about value that is embedded in consumption, goods in their assemblage present a set of meanings, more or less coherent, more or less intentional. They are read by those who know the code and scan them for information.» (S. 5) Die Waren als solche sind neutral, ihr Gebrauch jedoch hat eine gesellschaftliche Dimension; denn sie wirken als Kommunikatoren und dienen der Verdeutlichung und Stabilisierung kultureller Kategorien. Der Konsum wird als distinktive Praxis im Bezug auf soziale Gruppierungen verstanden: «The basic choice that a rational individual has to make is the choice about what kind of society to live in.» (Douglas, 1997, S. 17)

2.1.5 Hedonistische Konsumtheorie

Campbell (1987) widerspricht den Ansätzen von Galbraith (1958), Packard (1957) oder Baudrillard (1970), welche die Konsumierenden als manipulierte Wesen begreifen, und stellt ihnen eine hedonistische Theorie des modernen Konsumverhaltens gegenüber. In seinem Buch «The romantic ethic and the spirit of modern consumerism» fasst er die Konsumierenden nicht als verführte, sondern als aktiv begehrende Subjekte auf. Hervorgebracht wird dieses Begehren durch die romantische Ethik, wobei er mit dem Begriff «Ethik» die Lebensführung meint. So wie die protestantische Ethik den Geist des Kapitalismus hervorgebracht hat, erzeugt die romantische Ethik den Geist des Konsumismus. Dieser ist nicht durch soziale Nachahmung motiviert, sondern durch romantische Vorstellungen, welche sich in Tagträumen ausdrücken. Nur am Rande erwähnt Campbell die eskapistische Funktion der Tagträume aus einem durch Konkurrenz und Langeweile geprägten Alltagsleben.

Die Hauptaktivität beim Konsum besteht nicht im eigentlichen Konsumieren, also in der Auswahl, dem Kauf und dem Gebrauch des Produktes, sondern in der lustvollen Vorstellung, welche mit dem Bild verbunden ist, das wir uns vom Produkt machen. Jeder Kauf führt so zu einer Enttäuschung, sodass das Begehren schnell erlischt und die Güter so schnell wieder weggeschafft werden, wie sie erworben wurden: «The cycle of desire-acquisition-use-disillusionment-renewed-desire is a general feature of modern hedonism, and applies to romantic interpersonal relationships as much as the consumption of cultural products such as clothes and records.» (Campbell, 1987, S....

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