Der letzte Ghettokämpfer
von Agnieszka Hreczuk
DÜNNE, SCHMUTZIGE MENSCHEN klettern aus dem Abwasserkanal ans Licht, einer nach dem anderen, 40 insgesamt. Sie stinken nach Gosse und wanken vor Erschöpfung. Kazik Ratajzer treibt sie an. Es ist zehn Uhr morgens. Der Schacht, durch den sie nach oben gekrochen kommen, liegt in der Prostą-Straße, nur 100 Meter von der deutschen Wache entfernt. Menschen, die auf der Straße laufen, halten an und schauen neugierig. »Wenigstens verdecken sie uns vor den Wächtern«, denkt sich Ratajzer. Er ist ein paar Stunden zuvor aus dem Kanal gestiegen, hat einen Lastwagen organisiert, in den sie nun klettern. 40 schmutzige Juden fahren in einem Lastwagen durch ein Viertel, das nur für Deutsche ist, raus aus der Stadt Warschau, rein in den Wald.
Es ist der 10. Mai 1943. SS-General Jürgen Stroop muss in seinem Bericht vermerken, dass ein paar der Aufständischen, »Banditen«, wie er sie nennt, geflohen sind. Stroop, der den Aufstand im Warschauer Ghetto, begonnen am 19. April, schließlich am 16. Mai 1943 niederschlägt, notiert, dass die »Banditen« trotz einer intensiven Verfolgungsjagd entkommen konnten. Unter ihnen auch Anführer des Aufstands: Marek Edelman, Cywia Lubetkin, Hersz Berliński.
Heute befindet sich der Eingangsschacht zum Kanal immer noch an derselben Stelle. Als Kazik Ratajzer hineinschaut, stinkt es genauso wie damals. Es ist auch genauso beängstigend eng und dunkel. Er dreht den Kopf weg. Ist es der unangenehme Geruch oder die unerträgliche Erinnerung? Oben, auf der Straße, stehen keine Wachmänner mehr, sondern moderne Bürohäuser. Vor einigen Jahren wurde nur wenige Meter vom Eingangsschacht entfernt ein Denkmal errichtet, das an das erinnert, was hier 1943 geschah. Ein Messingrohr, das aus dem Bürgersteig herausragt, als Symbol für den Kanal. Im Inneren des Rohrs Dutzende Hände, die sich dicht an den Stufen einer Leiter festklammern, so wie damals, im Jahr 1943.
Über das Denkmal hat sich Kazik mehr gefreut als über den Orden, den er damals bekommen hat. Durch das Denkmal wird die Nachwelt etwas über seine Kameraden erfahren, zumindest ihre Namen werden überleben, denkt Kazik. Auch wenn es ihn selbst, der darüber erzählen kann, nicht mehr geben wird, werden die Menschen darüber stolpern. Und lesen. Sein Blick wandert über die auf der Gedenktafel eingravierten Namen derjenigen, die es damals aus dem Kanal herausgeschafft haben, und derjenigen, denen diese Flucht nicht gelang. Sein eigener steht ganz oben: »Simcha Rotem-Ratajzer, Kampfname Kazik«. Zwei Namen – für zwei Leben. Das davor und das danach.
Hersz Berliński und Cywia Lubetkin leben nicht mehr. Marek Edelman, der Einzige, der in Polen blieb, auch nicht. Jahrelang sind Marek und Kazik – über die Jahre und die Entfernung hinweg eng befreundet – gemeinsam zum Jahrestag des Ghettoaufstands gegangen. Sie redeten immer wieder über dasselbe: Wie es damals war, was sie hätten anders machen sollen. Nur selten waren sie einer Meinung, aber verstanden haben sie sich trotzdem. Vor einem Jahr ist Pnina Grynszpan-Frymer gestorben. Jetzt ist nur noch Kazik da, der Letzte. Eine enorme Belastung. Eine Botschaft, die nur er noch übermitteln kann. Und Fragen, die ihn quälen und die er mit niemandem mehr teilen kann. Mit niemandem, der ihn so richtig verstehen würde. Nicht mit den Menschen, die keine Ahnung vom Ghetto haben, vom Gefühl, nicht ein Mensch sein zu dürfen, von Entscheidungen, von denen keine einfach richtig oder falsch sein konnte.
»Ich weiß nicht, ob wir das Recht dazu hatten«, sagte Kazik nachdenklich an jenem Nachmittag, als wir miteinander gesprochen haben. »Für die anderen zu entscheiden.« Er rührte langsam in seiner Kaffeetasse herum. Das tat er seit einer guten halben Stunde, der Kaffee war mittlerweile kalt geworden. Kazik war mit seinen Gedanken irgendwo anders, wohl dort, in jenem Augenblick, als der Aufstand gerade ausbrechen sollte, und bei denjenigen, deren Leben damals bald enden sollte. Das konnte ich nur raten. Es war kurz nach dem 70. Jahrestag des Ghettoaufstands. Ich hatte ihn seit einigen Tagen begleitet, hatte seine Erinnerungen gelesen, seine Bekannten befragt. Ich wollte seine Geschichte trotzdem noch einmal hören, über das Heldentum in einer grausamen Zeit, erzählt von einem Helden, den wenige Tage zuvor polnische und israelische Politiker gefeiert hatten. Der letzte Ghettokämpfer. Selbstbewusst, mutig, jemand, der niemals aufgibt. Und dann erzählte er mir, dass ihn einige Fragen quälen. Fragen nach seinem Recht und seiner Schuld. »Vielleicht«, sagte er, »hätte jemand, wenn der Aufstand nicht ausgebrochen wäre, noch eine Chance gehabt. Vielleicht wäre er aus dem Ghetto rausgekommen, vielleicht hätte er überleben können, zumindest noch einige Monate lang, einige Wochen oder Tage … Ein Tag kann für einen Menschen viel bedeuten.« Er schaute mir in die Augen, ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Aber ich habe den Eindruck gehabt, dass er keine Antwort von mir brauchte. »Es ist eine Frage, mit der ich leben muss, allein«, sagte Kazik schließlich.
Kazik hat viele Sachen erzählt, die sich mir tief eingeprägt haben. Alle waren wichtig, aber wenn ich spontan eine wählen sollte, würde ich diese als erste wählen. Vielleicht, weil sie zu seinem Bild nicht passte. In seinen Memoiren schrieb er so sicher und detailliert, ohne Fragen und Zweifel. Bei den Auftritten sprach er so klar und eindeutig. Das passte nicht dazu. Oder vielleicht deshalb, weil ich nicht begreifen konnte, wie er auf diese Idee kommen konnte. Die Juden im Warschauer Ghetto waren sowieso zum Tode verurteilt. Das Ghetto wurde Schritt für Schritt liquidiert. Von über 550.000 Menschen waren nur 50.000 am Leben geblieben – die bald auch abtransportiert werden sollten, nach Treblinka, in die Gaskammern. Niemand konnte etwas ändern und schon gar nicht die Juden selbst. Und ausgerechnet er, ein Opfer, machte sich Vorwürfe?
Als wir damals gesprochen haben, war Kazik 89 Jahre alt und einer der zwei noch lebenden Ghettokämpfer. Einer nach dem anderen sind sie gestorben, seine Freunde, Kameraden, alle, denen er während des Kriegs das Leben gerettet hatte, auch diejenigen, die er aus dem Ghetto durch den Abwasserkanal hinausgeführt hatte. Es war eine unmögliche Aufgabe gewesen. Nur Kazik hatte sie gelingen können. Er lebte damals so, als ob er unsterblich sei, risikoreich. »Ich war eben ein wahrer Ur-Czerniakówer«, sagte Kazik mit einem Lächeln. Das Lächeln, das auf offiziellen Fotos nicht zu sehen ist, aber hinter den Kulissen, bei seiner Familie und Freunden sein Wahrzeichen ist und den wahren Kazik ausmacht. Ihm fehlte nun nur noch eine flache Schirmmütze, wie es sich damals in Czerniaków gehörte.
Czerniaków war eine grundlegen Episode in seinem Leben. Eine Zeit, die ihn geprägt hat und die der Grund dafür war, warum er überleben durfte. Czerniaków war nicht irgendein Viertel von Warschau. Czerniaków war eine Legende. Ein Arbeiterviertel an der Weichsel, relativ arm, stark kriminell, aber mit einem einmaligen und eigenartigen Charakter. Es herrschten dort ein eigener Ehrenkodex und sogar ein eigener Dialekt. Und vor allem gab es dort nur wenige Juden. Eine Seltenheit in einer Stadt, in der jeder dritte Einwohner vor dem Krieg Jude war. Juden lebten im sogenannten Nordviertel, aus dem 1940 teilweise das Ghetto gebildet wurde. Sie blieben unter sich, hatten ihre eigenen Bräuche, sprachen Jiddisch, und wenn sie Polnisch sprachen, dann mit Akzent. Assimiliert hatten sich meistens nur die Intellektuellen oder Kommunisten. Kazik lebte unter den Polen, er wusste, wie sie sich im Alltag verhalten, wie sie feiern. Und er selbst verhielt sich und sprach wie die armen Arbeitersöhne aus Czerniaków. Er war nicht nur blond, er war auch frech, laut und selbstsicher. So stellte man sich einen Juden damals nicht vor. »Ein Jude während des Kriegs lief verstohlen, mit kleinen Schritten, als ob er sich noch kleiner machen wollte, schaute anderen nicht in die Augen, hatte einen ängstlichen Gesichtsausdruck«, sagte Kazik einmal. »So haben sie uns erkannt.« Nicht Kazik, den Schlingel aus Czerniaków. »Ich war ein Glückspilz in einer schlechten Zeit«, sagte Kazik.
Eigentlich hieß er niemals so und trotzdem habe ich nie gehört, dass ihn jemand von seinen Bekannten anders genannt hätte. Als Szymon in Warschau geboren, trug er während des Kriegs unterschiedliche Namen. In Israel wechselte er dann seinen Namen zu Simha, auf deutsch: »Freude«. Aber ausgerechnet »Kazik« fand sich nie in seinen Dokumenten, weder in den echten noch den gefälschten. Als Kazik hatte ihn ein Kamerad aus der Kampfbewegung, bei einer Aktion im Ghetto, noch vor dem Aufstand, gerufen, damit sie selbst von Juden nicht als Jude erkannt wurden. Kazik war in seiner Generation ein weit verbreiteter Vorname, mit slawischem Ursprung, eine Abkürzung von Kazimierz. Tausende junge Männer hießen so: Schauspieler, Sportler, auch viele seiner Kameraden im Kiez. Typisch polnisch eben. Merkwürdigerweise ist dieser Name an ihn angewachsen....