22Kapitel 1
Die Geburt der Narration aus dem Sprechakt der Ausrede
Eine Erzähltheorie
1. Die Anklage
So beginnt es: einer erwischt einen anderen bei einer unerwünschten oder ausdrücklich verbotenen Tat, vielleicht in flagranti, vielleicht im Nachhinein anhand von Indizien. Aus irgendeinem Grund schreitet er nicht sofort zur Bestrafung, sondern artikuliert eine Anklage. Vielleicht will er durch seine Anklage Dritten erklären, warum er strafen will. Vielleicht ist der Angeklagte stärker als der Kläger, und er muss sich den Beistand zur Bestrafung sichern. Vielleicht ist der Angeklagte in der Lage zu fliehen, und der Ankläger will, dass andere die Flucht verhindern. Vielleicht will er auch eine Entschuldigung oder andere Art der Wiedergutmachung. Auf jeden Fall eröffnet die verbale Anklage die Szene.
Die Anklage liefert die Master Story, den zunächst einzig gültigen Bericht der relevanten Vorgänge, den Bericht, den sie für gültig erklärt, die Version der Geschehnisse, die rechtlich bedeutsam ist. Die Anklage schildert, wie es wirklich war. So zumindest will es der Ankläger. Selbst wenn er eine falsche Beschuldigung erhebt, behauptet er, dass seine Sprache mimetisch verfährt und Wirklichkeit abbildet. Es stört den Ankläger dabei nicht, dass an den Akademien heutzutage nur noch selten Sprachtheorien verhandelt werden, die von einem »mimetischen« oder »abbildenden« Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit sprechen. Die Einwände sind alt. Bereits Platon hat im Sophistes auf die Paradoxien hingewiesen, die sich aus der Annahme einer schlicht abbildenden Sprache ergeben.[1] Nur in sprachevolutionären Theorien ist von einer mimetischen Protosprache die Rede.[2] Dennoch maßt sich die Anklage an, dass ihr Bericht die Dinge schlicht benennt, wie sie sind.
Natürlich gilt dies nicht für jede Anklage. Ankläger wissen häufig sehr wohl, dass es eine andere Sicht der Dinge gibt. Doch die 23Idealform der Anklage, um die es hier zunächst geht, besteht auf dem Wahrheitsmonopol. Das Ideal der Anklage ist die wahre Rede, denn von der Wahrheit leitet sie die Notwendigkeit von Strafe oder Wiedergutmachung ab.
Bei der Story der Anklage handelt es sich auch deshalb um eine Master Story, weil der Ankläger durch seine Sprache ermächtigt wird. Er spricht mit der Macht und Souveränität des Herrschenden, des Masters. Insofern ist die Master Story zugleich ein Bericht, der den Sachverhalt meisterlich darstellt, und eine Rede, die die Autorität des Masters sichert.[3] Ein derartig Herrschender könnte auch eine falsche Anklage erheben oder ein Gesetz erfinden, nur um eine Anklage erheben zu können, um dadurch die empirische Welt nach seinem Gutdünken zu strukturieren. In ihrer Grundform richtet sich die angeprangerte Untat gegen die Autorität des Masters, des Alphamännchens. In ihrer abgeleiteten Form handelt es sich um den Bruch einer Norm, als deren Wächter der Ankläger nun auftritt. Indem der Ankläger sich zum Wächter erhebt, macht er die Norm zu seiner Norm und das Gesetz zu seinem Gesetz. Daher verdankt er seine Autorität der Autorität von Norm und Gesetz. In jedem Fall befindet sich der Ankläger auf der Seite der Autorität, spricht mit Autorität, befestigt seine Autorität und bindet diese an die Authentizität des »So war es und nicht anders«, denn indem er die Anklage erhebt und die Bestrafung einleitet, erscheint er selbst als der Hüter des Gesetzes und der Ordnung.[4]
Trotzdem ermöglicht die Anklage auch andere Protokolle als die der Strafe. Die Anklage kann die Strafe aufschieben, sofern eine solche zu erwarten ist. Dadurch wird es möglich, die Einheit der Untat, des Ergreifens des Täters, der Verhandlungen über die Strafe und der Strafe selbst aufzubrechen. Dieses Auseinanderfallen der Einheit verschafft Aufschub. Und Aufschub bedeutet, dass es Möglichkeiten zum Ausgleich geben kann. Die Schuld kann dann 24statt durch eine Strafe auch durch Wiedergutmachung, Bezahlung, Gabe, Vertrag oder Entschuldigung beglichen werden. Das Aufbrechen dieser Einheit ist bereits an sich eine große kognitive Leistung. Die Wut muss »vertagt« werden können. Der Ankläger zeigt sich unter welchem Druck auch immer bereit, seine Wut kurzzeitig zu mindern, um ihren Gegenstand zunächst verbal zu verhandeln. Eine solche Transformation einer primären Erregung in ein verwaltetes Gefühl setzt die Zuversicht des Wütenden voraus, dass er später noch seine Wut ausleben darf, dass die Wut noch zu ihrem Recht kommen wird. Dies wiederum impliziert, dass die Wut erinnert, aufbewahrt und vielleicht auch in symbolischen Zeichen kommuniziert werden kann. Mit der Aufbewahrung gibt es die Möglichkeit der Reaktivierung des Aufbewahrten. Die Wut kann wieder gegenwärtig werden. Zudem verspricht die Kommunikation durch symbolische Zeichen, dass andere nicht nur die rechtliche Frage, sondern auch die Tiefe der Wut oder des Schmerzes einsehen können.
Sind Menschen besonders gut im Aufschieben? Wahrscheinlich nicht. In kognitiven Tests haben sich manche Affen als möglicherweise geduldiger als Menschen erwiesen.[5] Insofern ist es eine erstaunliche Leistung, den vollen Ausdruck einer Erregung wie der Wut zu verzögern. Dies ist wohl nur möglich, weil die Menschen Techniken entwickelt haben, die Wut im Zustand der Latenz präsent zu halten, um ihr später noch den vollen Ausdruck zu gewähren. Für viele Menschenaffen dagegen ist die wütende Reaktion auf eine von ihnen nicht geduldete Tat (etwa die Kopulation eines tieferstehenden Männchens mit einem Weibchen) nur möglich, wenn sie unmittelbar auf die Szene reagieren können. Befindet sich das Alphamännchen aber in einem Käfig und muss eine derartige »Untat« beobachten oder wird, sofort nachdem der Täter ertappt wurde, von diesem getrennt, kommt es nicht mehr zu einer Strafe (was nicht heißt, die Untat wäre schlicht vergessen). Die menschliche Technik des Aufbrechens der Einheit von Anklage und Strafe erlaubt also ein zeitliches Fortwirken der Tat, da die Strafe zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden kann. Die Artikulation der Anklage 25ermöglicht (beinhaltet aber noch nicht notwendigerweise) das Reglement einer Strafe, denn sonst hätte der Anklagende wohl nicht die Gewissheit, dass er sich durch die Artikulation nicht der Strafe beraubt. Der Ankläger ist gewiss, dass die Strafe später kommen wird oder zumindest kommen könnte. Dafür sorgt diese minimale Institution, das erste Gericht, der Verknüpfung von Anklage und aufgeschobener Strafe. Der erste Akt dieses Gerichts ist die sprachliche Kodifizierung von Realität.
Die minimale Form der Anklage beinhaltet mithin vier Elemente:
- Die verbale Abbildung der Fakten der Handlungen, die bestimmte Resultate hervorgerufen haben (oder zumindest darauf gerichtet waren, diese hervorzurufen). »Dies ist, was jemand getan hat« (im Falle der Unterlassung: »was jemand nicht getan hat«).
- Das Vorliegen einer »Untat«, also ein Gesetzesbruch, das Verletzen einer Norm oder das Zuwiderhandeln gegen eine Autorität.
- Das Fingerzeigen oder die Adressierung der Anklage durch einen Index:[6] Ich decke auf, dass dieser da die verbotene Handlung ausgeführt hat.
- Das symbolische Fortwirken der Tat, so dass die Strafe auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen kann, ohne dass sie dadurch bereits massiv gemildert würde.
All dies zeigt, dass wir mit der Anklage ein komplexes soziales Feld betreten, welches vier soziale Aspekte miteinander verzahnt: (1) menschliche Handlung (was ist eine menschliche Handlung und was ist Zufall?), (2) normative Steuerung (was darf man tun und was nicht?), (3) öffentliche Rede (was sind die Voraussetzungen für ein öffentliches, also kollektives Bestrafen? Wer kann und wie kann er die Rede an das Kollektiv richten?) und (4) kollektives Gedächtnis (wie kann die jetzige Wut auch später ihren Ausdruck finden?). Mit der Anklage kann aus der Emotion der Wut eine Handlung werden, die das Kollektiv als Zeuge und Jury aufruft. Dennoch bewegt sich die Rede der Anklage in ihrer hier unterstellten Idealform 26noch in einem mimetischen Verhältnis zum dargestellten Vorgang. In sprachlicher Hinsicht liefert die Anklage ihrem Selbstverständnis nach die eine und einzig richtige Darstellung des relevanten Vorgangs. Es ist eine Rede, die sich selbst gegenüber dem Sachverhalt für überflüssig erklärt. Sie liefert den Zeugen des Ereignisses nichts, was ihnen nicht bereits bekannt wäre. Die Rede der Anklage wäre daher auch überflüssig, wenn alle Zeugen der Tat wären. Die Rede der Anklage behauptet, monolithisch die relevanten Verhältnisse abzubilden; sie behauptet damit zugleich, die einzige gültige, akkurate Darstellung der Verhältnisse zu sein. Sollte in ihr eine Auslassung oder ein Fehler enthalten sein, so sind diese schlicht durch eine Ergänzung oder Korrektur zu beheben. Die sprachlichen Ausdrücke sind rein sekundär gegenüber dem geschilderten Hergang. Der einzige Zweck der Anklage ist institutionell, insofern die Anklage die Verbreitung, Übertragung und Speicherung der Informationen bewirkt und damit die Strafmechanik in Gang setzt.
Heutzutage sind wir es gewohnt, dass nach der Anklage die Verteidigung zu Wort kommt. Wir hören die Anklage also ausgehend von dem Erwartungshorizont des gesamten rechtlichen Theaters. Wir erwarten, dass die Anklage bestenfalls eine Version der Verhältnisse darstellt, die aber keineswegs autoritär die empirischen Fakten kommandiert und vor allem keineswegs...