Das kannst du dir SPAREN!
»Moni! Vier Kurze, bitte!«, ruft Paul. »Auf meinen Deckel!«
»Kommen sofort. Schon wieder verloren?«
»Ja. Ist offenbar nicht mein Tag.«
»Nicht dein Monat, meinst du wohl. Zumindest sagt das dein Deckel.«
Haben Sie auch schon mal einen Deckel in Ihrer Stammkneipe gemacht? Haben Sie überhaupt eine Stammkneipe? Ich finde ja, jeder sollte eine haben. Zumindest, wenn man wie ich Single ist und es niemanden stört, dass man jeden Abend dort vorbeischaut. Meine liegt wie jede gute Stammkneipe in Laufweite, direkt bei mir um die Ecke. Wenn ich sie betrete, ist das immer ein bisschen wie nach Hause kommen. Ein anderes Zuhause, ein geselliges, gesprächiges, witziges und manchmal aufregendes, in dem ganz viel Leben in all seinen Facetten stattfindet. Und im Gegensatz zu meinem anderen Zuhause ist hier immer jemand, mit dem ich quatschen kann. Oder ich kann einfach nur dasitzen und die Leute beobachten, das mache ich auch sehr gerne.
»Wieso?«, fragt Paul. »Bei wie viel sind wir denn jetzt? Heute ist der Dreißigste, oder? Rechne doch schon mal zusammen, ich zahl dann nachher.«
Oha, jetzt wird’s spannend. Es ist mal wieder so weit. Paul bezahlt seinen monatlichen Deckel. Das macht er immer so, schon seit Jahren. Er trinkt und isst und zockt den ganzen Monat lang hier und bezahlt dann alles auf einmal. Das sei praktischer so, sagt er. Für mich wäre diese Art der Bezahlung ja nichts. Ein Deckel ist ein Schuldschein, und ich habe es bisher geschafft, in meinem ganzen Leben keine Schulden zu machen. Was nicht bedeutet, dass ich grundsätzlich dagegen bin, Schulden zu machen, manchmal geht es gar nicht anders, daran ist nichts verwerflich. Aber ich bezahle immer gern alles sofort, was ich kaufe, in Anspruch nehme oder verzehre. Ich möchte einfach niemandem etwas schuldig sein, das ist eine Macke von mir. Wobei, um bei der Wahrheit zu bleiben, ab und zu habe ich hier doch einen Deckel gemacht, das muss ich zugeben. Aber das war nie vorsätzlich, an diesen Abenden habe ich schlicht und einfach vergessen zu bezahlen. Das kann mal passieren, wenn Deckel- und Promillewert an einem Abend äquivalent in unvorhergesehene Höhen steigen. Das kommt aber nur sehr selten vor, und zum Glück ausschließlich in meiner Stammkneipe, wo das gar kein Problem ist. Da wird dann dein Name auf den vernachlässigten Deckel geschrieben und am nächsten Tag mit einem verschmitzten Lächeln diskret darauf hingewiesen, dass man am Vortag wohl etwas vergessen hätte. Das kann Paul mit seiner Methode natürlich nicht passieren.
»Okay, dann wollen wir mal«, sagt Moni und legt Pauls Deckel vor sich auf den Tresen. »Seid ihr bereit? Paul, du darfst wie immer zuerst.«
»Alles klar«, sagt Paul. »Diesmal gewinne ich, ihr habt keine Chance.«
Ich weiß nicht, wessen Idee es war, aber lustig finde ich sie immer noch. Wenn Paul seinen Deckel bezahlt, dürfen alle Anwesenden schätzen, wie hoch er sein wird, und wer am nächsten dran ist, kriegt einen Kurzen aufs Haus. Ich habe sogar schon einmal dabei gewonnen, aber das ist schon eine Weile her.
»Also«, fährt Paul fort. »Ich habe tatsächlich sehr viele Würfelrunden verloren diesen Monat. Mehr als letzten Monat auf jeden Fall. Dafür war ich aber auch drei Tage nicht hier wegen der Zahn-OP. Es müsste trotzdem knapp mehr sein als letzten Monat. Ich sage, es sind achthundertdreiundfünfzig achtzig.«
Von den Anwesenden werden nach und nach verschiedene Schätzbeträge in den Raum geworfen, Moni schreibt alle auf einen Bierdeckel.
»Diesmal bist du vierstellig«, sage ich grinsend zu Paul. »Ich habe dich ganz genau beobachtet diesen Monat. Du hast gefühlte zehntausend Runden beim Würfeln verloren. Du spielst aber auch so, als könntest du nur mit Mühe und Not drei einäugige Würfel zusammenzählen. Ich sage, es sind tausendachtzehn Euro vierzig.«
»Ganz schön gewagt«, sagt Moni und wirft mir einen beeindruckten Blick zu. »Das wäre Rekord.«
»Nie im Leben«, sagt Paul zu mir. »Vierstellig war ich noch nicht mal im Januar. Und da habe ich Geburtstag.«
»Das erklärt es«, erwidere ich. »Mit dir wollte wahrscheinlich keiner feiern, deshalb war das ein sehr billiger Abend.«
»Falsch«, sagt Paul. »Wir haben extra an einem Abend gefeiert, an dem du nicht da warst, weil dich eh keiner mag. War ’ne geile Party.«
»Kann nicht sein«, sage ich. »Du warst ja dabei.«
»Ja«, erwidert Paul. »Und deine besten Freunde waren auch alle hier, weil sie keinen Bock auf dich hatten.«
Wir grinsen uns an.
Genau dafür mag ich Paul. Wir ziehen uns regelmäßig gegenseitig auf, was aber nie bösartig gemeint ist, auch wenn es sich für Außenstehende manchmal so anhört. Wir schätzen und achten uns gegenseitig sogar sehr, sonst würde diese Art von Humor auch nicht lange funktionieren. Es ist wie eine Art lustiger Wettbewerb, bei dem derjenige gewinnt, der den anderen fieser aufzieht. Die Engländer nennen das taking the piss, da hat das Tradition und ist sozusagen eine derbe Kunstform des humorvollen menschlichen Miteinanders. Das funktioniert natürlich nicht mit jedem – das Gegenüber sollte definitiv wissen, was Ironie ist und nicht schnell beleidigt sein, sonst kann es passieren, dass der Spaß für einen sehr schnell vorbei und die Lippe blutig ist.
»Du bist echt eine Null, Schneider«, sage ich lachend.
»Und du eine Doppelnull, Wolk«, erwidert er.
»Stimmt«, sage ich und zwinkere ihm zu. »Aber mit einer Sieben hintendran.«
»Könnt ihr zwei Kindsköpfe bitte mal kurz die Klappe halten?«, sagt Moni. »Ich muss hier rechnen.«
Der Geräuschpegel an der Theke sinkt ruckartig. Alle starren Moni an, die konzentriert rechnend über Pauls Deckel brütet. Einen Taschenrechner braucht sie dafür nicht. Moni ist echt phänomenal. Und damit meine ich ausnahmsweise nicht ihre äußere Erscheinung. Sie sieht sen-sa-tio-nell aus. Moni ist gerade vierzig geworden und hat nie besser ausgesehen als jetzt. Das weiß ich, weil ich jede Menge alte Fotos von ihr gesehen habe, als ich bei ihr übernachtet … Nein, das geht niemanden etwas an, das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall sieht sie sensationell aus, und ich bin mir sicher, dass hier so gut wie jeder schon in sie verliebt war. Paul auf jeden Fall, er versucht es immer wieder bei ihr, blitzt aber jedes Mal eiskalt ab. Von ihrem Aussehen einmal abgesehen, ist sie aber auch sonst phänomenal, vor allem als Bedienung. Sie vergisst nie etwas und kann sich mindestens zwanzig Bestellungen auf einmal merken. Während andere immer erst einen Zettel zücken und alles aufschreiben müssen, nickt Moni nur und kommt kurz darauf mit exakt den gewünschten Getränken zurück. Und meistens weiß sie auch ohne auf den Deckel zu gucken, wie viel man im Laufe eines Abends getrunken und was genau man zu bezahlen hat.
Bei einem Monatsdeckel in Höhe von hoffentlich tausendachtzehn Euro vierzig dauert das Rechnen verständlicherweise etwas länger.
»Okay«, sagt Moni schließlich. »Das Ergebnis liegt vor. Die Verkündung erfolgt unter notarieller Aufsicht.«
Sie streckt den Deckel kurz Wolfram entgegen, er nickt. Wolfram ist Anwalt und auch fast jeden Abend hier. Wir spielen ab und zu eine Runde Darts gegeneinander.
»Seid ihr bereit?«, fragt Moni und füllt ein kleines Glas mit Bacardi und Cola.
Sie nimmt das Glas und kommt auf unsere Seite des Tresens.
»Der Gewinner des allmonatlichen Deckel-Schätz-Wettbewerbs heißt …«, sagt sie verheißungsvoll, während wir mit den Händen einen Trommelwirbel auf der Theke vollführen. »Schorschi!«
Mist, wieder nicht gewonnen. Aber ich gönne es Schorschi absolut und klatsche laut Beifall. Schorschi ist ein sehr seltsamer Vogel, aber ein durchaus liebenswerter. Er ist das, was ich als Althippie bezeichnen würde. Schlohweiße, fransige Haare, die eine kreisrunde glänzende Platte auf seinem Kopf umranden, eine grüne Latzhose, die er wahrscheinlich schon trug, als Che Guevara exekutiert wurde, und, egal ob Sommer oder Schneesturm, die obligatorischen Jesuslatschen – mehr Hippieklischee geht nicht. Sein genaues Alter ist unergründlich, weil er Tag und Nacht eine Sonnenbrille trägt – ich würde ihn auf irgendwas zwischen sechzig und achtzig schätzen.
»Der Deckel beträgt neunhundertdreiundzwanzig zwanzig«, verkündet Moni. »Schorschi war mit neunhundertdreißig am nächsten dran.«
Moni stellt das Glas neben Schorschi auf die Theke. Er nimmt es in die Hand und steht von seinem Hocker auf.
»Liebe Mitmenschen«, sagt er feierlich. »Auch, wenn es mir eine Ehre ist, diesen geistreichen Kelch aufgrund einer unbegründeten und wahllos getroffenen Vermutung gewonnen zu haben, kann ich ihn leider nicht annehmen. Es widerspricht meiner antikapitalistischen Einstellung, etwas in Anspruch zu nehmen, das aus einer Wette resultiert, die auf dem Austausch finanzieller Mittel basiert.«
Ich sag’s doch, Schorschi ist ein seltsamer Vogel.
»Aber du tauschst doch hier auch jeden Abend finanzielle Mittel gegen Alkohol«, gebe ich ihm zu bedenken.
»Ich weiß«, sagt Schorschi seufzend. »Aber das ist in diesem Fall ein notwendiges und nicht zu vermeidendes Übel. Dieser leckere Gerstensaft gehört für mich zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Er sollte meiner Auffassung nach schon rein aus kulturhistorischen Gründen kostenlos in ausreichender Menge...