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E-Book

Niedergang

Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur - von Jesus bis Bin Laden

AutorMichel Onfray
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl704 Seiten
ISBN9783641224509
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
In einem wortgewaltigen Werk erzählt der französische Philosoph Michel Onfray die Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur und prophezeit ihren Untergang. Onfray schildert Aufstieg und Blüte, dann die Infragestellung des christlichen Weltbildes seit der Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften erlebten. Den Angriffen mörderischer Ideologien wie der des radikalen Islamismus setze die liberale westliche Welt nichts entgegen. Und obgleich bekennender Atheist, erkennt Onfray die große Leistung der bedrohten jüdisch-christlichen Kultur: den Respekt für das menschliche Individuum.

Der Philosoph Michel Onfray, geboren 1959 in Argentan/Frankreich, gründete 2002 in Caen die »Université Populaire«, eine Art Volksuniversität, zu der jedermann Zutritt hat. Jährlich besuchen Tausende Zuhörer seine Vorlesungen. Mit seiner Absage an alle Religionen und dem Plädoyer für ein freies, vernunftbestimmtes Leben entfachte er eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte. Er verfasste mehr als 50 Bücher, die in über 25 Ländern übersetzt wurden, unter anderem »Traité d'athéologie« (Dt: »Wir brauchen keinen Gott«) und eine mehrbändige Gegen-Geschichte der Philosophie.

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Leseprobe

VORWORT

Metaphysik der Ruinen – Selbst der Tod stirbt

Karthago (Tunis)

Freitag, 29. April 2016, am späten Vormittag

Der Himmel ist schwarz. Wie unter der Aschewolke eines Vulkans, aus der kaltes Licht hervorbricht, liegt eine halb zerstörte Stadt. Sie erstreckt sich entlang eines Strandes, von dem sich das Wasser zurückgezogen hat. Neben einem auf Grund gelaufenen Schiff meditiert ein Bischof mit Mütze und Krummstab. Das Gemälde dieser Szene, das mit Monsù Desiderio signiert ist, kommt mit einer nüchternen Farbpalette aus: Teerschwarz für die Nacht und Goldbraun für eine kalte Sonne. Die Stadt muss einst prächtig und glanzvoll gewesen sein: Ihre Ruinen künden von Erhabenheit, Größe und Macht. Eine gewaltige Säule, eine Rotunde auf einem massiven Bogen, ein kunstvoll verzierter Campanile und imposante mehrstöckige Bauten – doch überall Zerstörung, Verfall und Einsturzgefahr, ohne dass deutlich wird, was geschehen ist. Ein Krieg? Solche Verwüstungen können nur mit den militärischen Mitteln heutiger Zeit angerichtet werden. Sollte eine Pestepidemie die Menschen aus der Stadt vertrieben und den Elementen Zeit gegeben haben, ihr Zerstörungswerk zu verrichten? Möglich. Hat ein Erdbeben das Meer zurückgedrängt und das Schiff auf den Strand befördert? Eher wahrscheinlich.

Das Gemälde mit dem Titel Legende des heiligen Augustinus. Ruinen und gescheiterte Einschiffung wurde im 17. Jahrhundert von den beiden Franzosen Didier Barra und François de Nomé geschaffen, die in Neapel lebten. Ein zweites, ähnliches Gemälde ohne gestrandetes Schiff zeigt ein aufgewühltes blaues Meer, aus dem Ruinen auftauchen: Der heilige Augustinus. Imaginäre Ruinen am Ufer des Meeres. Während das erste in der National Gallery in London hängt, befindet sich das zweite in Privatbesitz. Ihren Titel verdanken die Bilder dem Kunstkritiker Félix Sluys, der beiden Malern eine Monographie widmete. Über die Künstler selbst ist wenig bekannt.

Auch wenn Mitra und Krummstab die Attribute des Bischofs sind, so doch nicht des heiligen Augustinus, der sich gleichwohl häufig am Meer aufgehalten haben muss: in Karthago, wo er lehrte, und während seines gesamten Lebens, da er in 30 Jahren 33 Mal ans Meer reiste; in Roms Hafen Ostia, wo er ein Verkündungserlebnis hatte und wo seine Mutter starb, sowie in Hippo, wo er als Priester wirkte und zum Bischof berufen wurde. In Hippo war es dann auch, dass ihm, als er Betrachtungen über das Mysterium der Dreifaltigkeit anstellte, ein Kind erschienen sein soll, das am Strand ein Loch ausgehoben hatte und versuchte, mit einer Muschelschale das Wasser des Meeres hineinzuschöpfen. Augustinus erklärte sein Vorhaben für vergebens. Das Kind, in Wahrheit ein Engel, erwiderte ihm, ehe er, der Philosoph Augustinus, das Mysterium der Dreifaltigkeit ergründen könne, werde es, das Kind, das ganze Meer in sein Loch umgefüllt haben.

Mitra und Krummstab sprechen dafür, dass es sich bei der gemalten Stadt um Hippo handelt, zu deren Bischof Augustinus schon 396 berufen worden war. Diese Funktion sollte er bis zu seinem Tod am 28. August 430 bekleiden. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Stadt seit Wochen von 12 000 Vandalen belagert, angeführt von König Geiserich, dem sich Alanen und Goten angeschlossen hatten. Doch die Barbaren waren arianische Christen. Sie glaubten, dass Gott göttlich und sein Sohn menschlich, aber zur Hälfte göttlich sei. Augustinus sah noch die immensen Schäden, die die Barbaren angerichtet hatten: Sie hatten zwei Bischöfe zu Tode gefoltert, ganze Städte zerstört, Anwesen auf dem Land dem Erdboden gleichgemacht und die Besitzer niedergemetzelt. Sie vergewaltigten geweihte Jungfrauen; verboten den katholischen Kult; plünderten Kirchen und brannten sie nieder. Sie taten, was Christen überall dort taten, wo sie an die Macht gelangt waren, nachdem Kaiser Konstantin das Römische Reich zum Christentum bekehrt hatte.

Die mit Monsù Desiderio signierten Gemälde können also durchaus den heiligen Augustinus am Meer darstellen, sehr wahrscheinlich in Hippo, dem heutigen Annaba in Algerien. Aber wichtiger als diese historische Spur ist die gleichnishafte, metaphorische und philosophische: Das einstmals Große ist dazu bestimmt, zu Staub zu zerfallen, ob Mensch oder Zivilisation. Mochte er auch ein berühmter Kirchenvater, großer Kirchenlehrer, angesehener Theologe, christlicher Philosoph und Heiliger gewesen sein: Augustinus war ein kranker Mann, ein Todeskandidat, ja eine lebende Leiche.

So kündet die verewigte Stadt von der Größe der Zivilisation, für die sie steht: vom imperialen Rom mit seinen heidnischen Cäsaren, stoischen Philosophen und majestätischen Bauten; vom Genie seiner Ingenieure und Architekten, von militärischen Siegen, dem immanenten Denken, vom Rom Vergils und Ciceros, der epikureischen Denker oder der Elegiker Kampaniens. Augustinus bleibt unbeeindruckt. Man kann sich sogar vorstellen, was ihm an diesem Strand ohne Meer durch den Kopf gegangen sein mag: »Alles, was erzählt wurde, ist schrecklich«, so hat er geschrieben. »Die Trümmer, die Feuersbrünste, die Plünderungen, die Morde und die barbarischen Taten. All dies ist wahr. Wir haben gejammert, ohne Trost zu finden, geweint. Ich leugne es also nicht, stimme zu, diese Geschichte ist traurig, und die Stadt hat grausam gelitten […] Ihr wundert euch, dass die Welt untergeht, als würdet ihr euch darüber empören, dass sie älter wird! Die Welt ist wie der Mensch. Er wird geboren, wächst heran und stirbt … Stoßt euch nicht daran, wenn ihr die Gerechten leiden seht! Ihre Leiden sind Prüfung, nicht Verdammnis.« (Sermo 81,8)

Und dann: »Denn die Ungleichheit der Leidenden bleibt auch bei Gleichheit der Leiden bestehen, und wenn auch der gleichen Marter unterworfen, ist Tugend und Laster doch nicht das gleiche […] Daher die Erscheinung, dass in der gleichen Heimsuchung die Bösen Gott verwünschen und lästern, die Guten ihn anrufen und preisen. So sehr kommt es darauf an, nicht welcher Art die Leiden, sondern welcher Art die Dulder sind.« (Vom Gottesstaat, 1,8) In einer bedeutenden theokratischen Tradition sah Augustinus in der Geschichte die göttliche Hand walten: Wenn Gott das Ende des Römerreichs wollte, hatte er gute Gründe dafür. Wenn Rom untergehen sollte, würde es untergehen, wie einst das punische Karthago unter dem Schwert und dem ausgestreuten Salz der Römer unterging.

Was Augustinus allerdings nicht wusste: Der Zusammenbruch der römischen Zivilisation, der er am Meer in Hippo beiwohnte, ermöglichte den Aufstieg der jüdisch-christlichen Kultur, zu deren bedeutendsten Denkern er zählen würde. Vor ihm war die Stadt phönizisch, punisch, numidisch und römisch gewesen. Unter seinem Mandat wurde sie christlich, später vandalisch, byzantinisch und schließlich muslimisch – was sie bis heute ist. Weil das römische Hippo unterging, konnte das christliche erblühen. So wie Augustinus, der in der Übergangszeit dieser beiden Welten lebte, leben auch wir, Sie und ich, in einer Übergangszeit: in der zwischen dem Ende des Judäo-Christentums und dem Anfang von dem, was sich bislang erst unscharf abzeichnet.

Ich streife durch die Ruinen Karthagos, in denen zahlreiche Synoden der Urkirche stattfanden, und blicke auf ein Mittelmeer und in einen Himmel, die noch dieselben sind wie zu Augustinus’ Zeiten. Noch immer wärmt dieselbe Sonne die Seele. Aber alles hat sich verändert und wird sich weiter verändern.

Hinter Monsù Desiderio stehen Maler der Vanitas und der Historie, was ein und dasselbe ist: Der Turm zu Babel als Symbol, dass jedes Bauwerk noch vor seiner Vollendung dem Untergang geweiht ist; imaginäre Ruinen, das ausgehöhlte Gemäuer, der am Boden liegende Schutt; der umgestürzte Schaft einer Säule, der zerbrochene Bogen, die eingestürzte Kuppel und die zersprengte Kirche – all dies sagt dem Betrachter leise das, was einst der Staatssklave dem römischen Kaiser am Krönungstag auf dem Triumphwagen von hinten ins Ohr geflüstert haben soll: Memento mori, »Bedenke, dass auch du sterben musst.«

Blickt man von einem Aussichtspunkt auf die Ruinen von Karthago herab, befällt einen die jähe Erkenntnis, dass der Untergang das Gesetz alles Seienden ist: für den unscheinbarsten Menschen wie für die glanzvollste Zivilisation. Das Christentum hinterließ Ruinen auf seinem Siegeszug, bis sich schließlich in ihm selbst Risse auftaten und es ebenso verfiel wie Stonehenge, Karnak, Babylon, die Cheops-Pyramide, Palmyra, Leptis Magna, Athen oder Rom. Augustinus blickte auf die Ruinen Roms und sollte am Aufbau einer poströmischen Zeit mitwirken, doch auch sein christliches Werk würde dem Verfall anheimfallen wie die Ruinen, welche die Vandalen und ihre Verbündeten hinterlassen hatten. Vergangenes geht unter und schafft Platz für Kommendes, das dann ebenfalls untergeht.

Die Geschichte des Christentums ist voll von Ruinen; man stößt überall dort auf sie, wo man seiner Spur folgt: Ruinen heidnischer Tempel, abgerissen und als Steinbruch zweckentfremdet, ausgeplündert von den ersten Christen, nachdem Kaiser Konstantin ihren sektiererischen Glauben zur Staatsreligion erhoben hatte. Man denke nur an den Konstantinsbogen in Rom, der dem Sieg des christlichen Kaisers über Maxentius an der Milvischen Brücke und dessen erster zehn Herrschaftsjahre gedenkt. Beutegut aus heidnischen Tempeln wurde auch in der ersten christlichen Basilika in Rom und in den Monumenten Konstantinopels verbaut. Das Christentum recycelte das Heidentum in seiner Architektur wie in seinen...

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