DIE GEBOTE – KNIGGE FÜR CHRISTEN
Wenn die 1-Million-Euro-Frage bei Günther Jauch lauten würde: »Können Sie die Zehn Gebote aufzählen?«. Hand aufs Herz: Hätten Sie gewonnen? Statistisch gesehen wäre das eher unwahrscheinlich. Bei Umfragen wird deutlich, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in unserem Land die Zehn Gebote nicht kennt. Den besten Wert hat das Gebot »Du sollst nicht töten« und das liegt in der Bekanntheit bei 48 %. Besonders unbekannt scheint die so genannte »erste Tafel« der Gebote, die den Glauben im engeren Sinne umfassen. »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnützlich führen« ist das unbekannteste …
Jesus hat als das höchste Gebot die Gottesliebe und die Nächstenliebe benannt. Damit hat er zwei Schulen des Judentums verknüpft, den Höhepunkt des Bekenntnisses im Deuteronomium (5. Buch Mose) mit dem Spitzensatz des anderen großen Gesetzeskorpus, des Heiligkeitsgesetzes (3. Buch Mose 19,18). Gottesliebe und Nächstenliebe, verantwortliches Handeln als Folge des Zuspruchs. Dabei legt das Neue Testament besonderen Wert darauf, dass ein Einhalten der Gesetze nicht eine Leistung vor Gott ist. Aber haben die Zehn Gebote denn wirklich noch eine Relevanz für heute? Sie stammen doch aus einer archaischen Gesellschaft, aus der Zeit, als das Volk Israel nun wahrhaftig weit davon entfernt war, in irgendeiner vergleichbaren Weise zur heutigen Technologie- und Mediengesellschaft zu leben. Ich selbst bin tief davon überzeugt, dass die Zehn Gebote wirklich so etwas wie »Lebensregeln für eine gute Welt« sind. Sie sind eine konkrete Anleitung zum Leben und Handeln aus dem Glauben heraus bzw. können Grundlage einer allgemeinen Ethik sein. Das ist ganz offensichtlich bei der so genannten »zweiten Tafel«.
Wenn sich heute zwanzig Menschen zusammensetzen würden, um die Regeln ihres Zusammenlebens zu formulieren, dann würden sie wohl zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen: Töten bzw. Mord zerstört eine Gesellschaft, zerstört die Menschen und die Menschlichkeit. Das ist so im individuellen Bereich und gerade auch im Krieg. Stehlen ist kein Kavaliersdelikt, sondern missachtet den Respekt vor dem Eigentum anderer. Auch das gilt im kleinen Maßstab etwa beim Ladendiebstahl und im Großen, wenn sich die Reichen mit Macht bereichern und andere dem aufgrund ungerechter Strukturen ausgeliefert sind. Und auch Ehebruch ist nicht eine Normalität, sondern wir erleben doch, wie viel Schmerz, Kummer, Zerstörung er für Paare und ihre Kinder mit sich bringt, auch wenn viele sich an die hohen Scheidungszahlen gewöhnt haben. Welche fatale Wirkung falsche Rede über andere hat, das erleben wir täglich, etwa beim Mobbing oder in der Boulevardpresse. Und dass unser Zusammenleben davon beeinträchtigt wird, dass die Alten sich einsam und verlassen fühlen, dass das Miteinander der Generationen verloren geht, das kann jeder Soziologe nachweisen. Also: Vater und Mutter ehren, nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht falsch Zeugnis reden – das ist bis heute einleuchtend! Und dass schließlich auch die Gier nach dem, was andere haben, dem Gemeinsinn nicht zuträglich ist, das zeigt ein Blick auf das Auseinanderklaffen von Habenden und Verschuldeten in unserem Land und in der großen weiten Welt. Insofern möchte ich sagen: Weise, sehr, sehr weise, was da als Leitfaden für ethisches Handeln in der Bibel vorgegeben ist! So elementar, dass er ebenso für Nomadenvölker vor dreitausend Jahren wie für urbanisierte Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts Geltung haben kann. Über welche Texte kann das schon gesagt werden?
Aber wie ist das mit der »ersten Tafel«, den religiösen Geboten? Zunächst muss wohl die unterschiedliche Zählung bei Reformierten und Lutheranern erklärt werden. Luther hat das zweite Gebot, das Bilderverbot, als Einzelgebot ausgelassen, so dass bei seiner Übersetzung das Begehren in zwei Gebote (neun und zehn) geteilt ist. Gemeinsam bleiben unter den religiösen Geboten also drei: Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnützlich führen. Du sollst den Feiertag heiligen. Ich denke, diese drei sind auch heute von Bedeutung. Wer will nicht alles unser Gott sein! Martin Luther hat gesagt, woran wir unser Herz hängen, das sei unser Gott. Da ist zuallererst wohl das Geld, daran hängt unser Herz. Das sehen wir schon daran, dass jede Stunde gemeldet wird, wie es dem DAX geht. Als ob unser Schicksal daran hinge! Und so manche Werbung kommt sehr religiös daher, achten Sie einmal darauf. Beispielsweise wird geworben: »Woher komme ich? Wohin gehe ich?« – Das sind urreligiöse Fragen! Und weiter geht es: »Und warum weiß mein Auto die Antwort?« Das heißt: Ich kaufe mir etwas und gewinne Lebenssinn. Dagegen steht das erste Gebot: keine anderen Götter. Dieses Gebot ist gerade auch als Befreiung gemeint. Niemand anderes kann mich beherrschen. Und: Gott ist kein diffuses göttliches Prinzip, sondern ganz konkret der Gott, »der uns aus Ägyptenland geführt hat«, der befreiende Gott, der eine Geschichte mit den Menschen hat, die wir erzählen können von Generation zu Generation. Judentum wie Christentum leben ja vom Erzählen dieser Geschichten der Erfahrung mit Gott. Doch, dieses Gebot ist wichtig und befreiend auch heute.
Ebenso wie das zweite, der Respekt vor Gottes Namen. Wie oft wird heute Religion lächerlich gemacht! Wie viele reden gedankenlos von Gott! Respekt vor Gottes Namen meint auch Respekt vor dem Glauben, ist Grundlage von Religionsfreiheit. Und die Feiertagsheiligung, auch sie ist nicht veraltet. Immer öfter wird gedrängt, an Sonntagen die Geschäfte zu öffnen. Und dann? Dann gibt es keinen Sonntag mehr, sondern nur noch einen Gleichklang von sieben Werktagen. Dann hat die Mutter mittwochs frei, der Vater freitags und der Sohn sonntags. Gemeinschaft wird so zerstört und ein gemeinsamer Rhythmus von Schaffen und Ruhe. Irgendwann wird unsere Gesellschaft dann kollektiv dem Burnout-Syndrom erliegen.
Eine Zeit, die nach Orientierung geradezu ruft, braucht die Zehn Gebote, davon bin ich überzeugt. Ich wünsche mir, dass wir den Mut haben, sie einzubringen als Regeln für ein gutes Zusammenleben. Gerade wenn heute gefragt wird, wie denn Jugendliche Werte finden, wie denn das Miteinander von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft in unserem Land zu gestalten ist, können die Zehn Gebote Maßstäbe setzen. Sie haben sich wahrhaftig bewährt durch Jahrtausende! Und die Menschenrechte, sie verwirklichen ja die Zehn Gebote. Ich denke etwa an die Ablehnung der Todesstrafe, die im Gebot »Du sollst nicht töten« verankert ist. Ganz gewiss hat das Christentum lange gebraucht, diese Rechte und Regeln als für alle Menschen geltend anzusehen: für Frauen und Männer, für Menschen aller Herkunft und Hautfarben. Dass heute gesagt werden kann: alle Menschen sind gleichermaßen Gottes Ebenbild, die Regeln gelten für das Zusammenleben aller, ist ein wichtiger Meilenstein. Doch, die Zehn Gebote, sie können auch heute unser Zusammenleben gestalten helfen und ethische Orientierung geben. Und Jesus behält bis heute Recht, wenn er sie zusammenfasst mit den Worten: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« und »deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Matthäus 22,37 ff.)
Mit dieser Grundeinstellung lässt sich Gemeinschaft gestalten, können Gemeinwohl und Eigennutz, Respekt vor Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, kann ein nachhaltiges Leben gestaltet werden. Gut, dass zwei Drittel aller Menschen in unserem Land sie als verbindlich ansehen. Besser noch, wenn ihr Bekanntheitsgrad steigen würde. Das ist eine Herausforderung, die wir annehmen sollten: als Kirchen, als Einzelne, als Gesellschaft insgesamt.
FRAGEN? FRAGEN? FRAGEN?
? Wo finde ich die 10 Gebote?
Zu finden sind sie in der Bibel im 2. Buch Mose Kapitel 20 und 5. Buch Mose Kapitel 5. Sie werden von Judentum wie Christentum gleichermaßen anerkannt. Die Nächstenliebe aber stellt Jesus über alle anderen Gebote, etwa wenn er sagt: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.« (Markus 2,27)
? Warum gibt es verschiedene Zählungen?
Martin Luther hat die Zehn Gebote als Grundlage der allgemeinen Ethik verstanden. Allerdings hat er dazu die Bezüge auf Israel herausgenommen, etwa den Zusatz beim ersten Gebot: »… der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hat«. Das gesamte zweite Gebot, das Bilderverbot, hat er ausgelassen, die Reformierten dagegen haben es belassen und zählen es als eigenes Gebot.
? Wen interessieren die Gebote heute?
Nach einer Umfrage der Zeitschrift Readers Digest aus dem Jahr 2003 geben zwei Drittel der Befragten an, die Zehn Gebote seien für sie verbindlich. Und: bei den Jüngeren sind die Zehn Gebote bekannter als bei den Älteren! Da muss doch einmal dem Religions- und Konfirmandenunterricht ein Lob ausgesprochen werden. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Zehn Gebote haben einen hohen Rang als Maßstab, als Orientierungsmöglichkeit in unserer Gesellschaft. Allerdings sind sie inhaltlich nicht so bekannt, wie die Zustimmung vermuten lässt.
Praktische Tipps
Setzen Sie sich mit einigen Freundinnen oder Freunden zusammen und überlegen Sie, was für Sie zehn wichtige Regeln wären, um Ihr Zusammenleben zu gestalten. Nach meiner Erfahrung ist das nie so ganz weit weg von den Grundregeln der Zehn Gebote: einander nicht betrügen und belügen, nicht stehlen, nicht voller Neid sein. Aber wie ist...