Kapitel 1
Margit und Florian: Sie wollten alles besser machen, doch dann verlor er die Lust auf sie
STECKBRIEF
Margit (45), ausgebildete Tänzerin, arbeitet heute in einer Werbeagentur, die sich auf medizinische Themen spezialisiert hat.
Florian (55), Mediziner, ist als Medizinjournalist tätig und hält auch Vorträge über Medizin. Margits Agentur hatte ihn einmal gebucht. Er hat zwei Kinder aus erster Ehe.
Die beiden leben in München, sind seit 15 Jahren ein Paar, seit zehn Jahren verheiratet, ohne gemeinsame Kinder.
Als Margit und Florian zu mir kamen, waren sie schon lange kreuzunglücklich mit ihrem Leben, wussten aber nicht, wie sie aus der Misere herauskommen sollten. Da passierten zwei entscheidende Dinge: Er begann eine außereheliche Affäre, und sie fand es heraus.
»Ich kann ihm das nicht verzeihen. Jahrelang hatten wir kaum noch Sex. Ich habe das sehr vermisst. Und dann geht er einfach zu der anderen. Das gibt es doch gar nicht. Und jetzt will ich keinen Sex mehr mit ihm. Bei uns stimmt nichts mehr«, meinte Margit.
»Es geht nicht nur um die Affäre, die habe ich ja schon wieder beendet. Wir wollen die tieferliegenden Probleme beleuchten«, erklärte mir Florian.
Abgesehen von Margits Hass auf »die andere« wirkten die beiden durchaus friedlich und einander sehr zugetan. Sie schienen lieb und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Ohne im Geringsten die Stimme zu erheben oder gar Schimpfwörter zu benutzen, beschrieb Margit, wie es ihr mit dieser Affäre ging. »Ich habe das ja nur per Zufall herausbekommen. Ich war auf seinem E-Mail-Account, weil er sich nicht so damit auskennt. So sah ich die Mails, die sie ihm geschrieben hatte.«
Florian reagierte darauf, indem er die Schuld auf sich nahm. »Dich trifft gar keine Verantwortung, das geht alles auf mein Konto«, sagte er in zerknirschtem Tonfall und schaute seine Frau ein bisschen mit dem Blick an, den Hunde perfekt beherrschen, wenn sie etwas ausgefressen haben. »Ich weiß, dass ich Margit enttäuscht habe, das tut mir wahnsinnig leid, aber ich habe das alles ja dann auch gleich beendet.«
»Na ja, beendet hast du es schon, aber trotzdem musstest du danach diese Dame noch ein paarmal besuchen«, entgegnete ihm Margit und sah dabei nicht einmal verletzt, sondern sehr zurückgenommen aus.
»Ja, das stimmt, es tut mir unendlich leid, aber ich kann es leider nicht rückgängig machen«, so Florian mit leiser Stimme.
Ich mochte ihm nicht glauben. Ihm, dem Typen mit der Ausstrahlung eines Managers. Fein gekleidet, souveränes, charmantes Auftreten. Dieses Zerknirschtsein passte nicht zu ihm. Sein Büßerhemd trug Florian ein bisschen zu bereitwillig. Ich hatte den Eindruck, dass sich hinter seinen reumütigen Worten noch etwas anderes verbarg, und nahm mir vor, genauer hinter die Fassade zu schauen.
Doch zunächst einmal wollte ich mir einen Eindruck vom bisherigen Eheleben machen. Die beiden waren seit 15 Jahren ein Paar, zehn Jahre davon mit Trauschein. Beide hatten schon gescheiterte Beziehungen hinter sich und wollten es im zweiten Anlauf besser machen.
»Wir haben uns vorgenommen, uns nicht von den üblichen Problemen runterziehen zu lassen. Wir wollten immer über alles miteinander reden. Wir hatten auch ein gemeinsames Ziel, nämlich das Leben auszukosten. Reisen und tiefgründige Gespräche, das war uns von Anfang an wichtig«, erklärte Margit.
»Na ja, bis du dann Kinder wolltest. Von da an drehte sich alles nur noch darum, dass du schwanger wirst. Wir mussten auf Knopfdruck Sex haben, immer dann, wenn dein Kalender es befahl, da ist mir manchmal schon die Lust vergangen«, sagte Florian. Seine Stimme war immer noch leise, doch der Tonfall hatte eine vorwurfsvolle Note bekommen. Kocht da doch ein richtiger Brass hinter der Fassade?
»So wie du das jetzt hindrehst, stimmt es aber auch nicht. Ich habe nur gemeint, dass wir an den fruchtbaren Tagen häufig Sex haben sollten«, protestierte Margit und wandte sich zu mir. »Für mich gehören Kinder zu einer erfüllten Ehe einfach dazu. Mein Mann und ich waren uns da einig. Es hat aber nicht geklappt, trotz künstlicher Befruchtung. Für meinen Mann war das nicht so schlimm, er hat ja schon Kinder aus seiner ersten Ehe. Für mich aber war das alles eine große Enttäuschung.«
»Und deswegen warst du dann auch in Psychotherapie«, entgegnete ihr Mann, indem er in seinen nachsichtigen Tonfall zurückfiel. Da war er wieder, der verständnisvolle Mann, der sich damit aber auch unangreifbar macht. Aber seine Worte waren nicht harmlos gemeint, er steuerte auf den nächsten verdeckten Vorwurf zu. »Dass dir deine Therapeutin guttut, habe ich ja verstanden, nur warum musstest du ihr sagen, dass der Sex mit mir langweilig sei? Das lag doch alles nur an diesem Sex auf Knopfdruck. Der Vorwurf hat mich über Jahre hinweg blockiert.«
Margit protestierte sofort: »Bei der Therapeutin ging es um etwas ganz anderes. Du hattest damals angefangen, dich auf Pornoseiten rumzutreiben. Ich habe mit meiner Therapeutin über meine Befürchtung gesprochen, die Pornos würden deine Aufmerksamkeit von mir abziehen. Und das habe ich als Ursache für deine Unlust auf mich gesehen. Sie hat das dann so interpretiert, dass mir unser Sex langweilig sei. Das habe ich aber nie gesagt. Das weißt du auch!«
Da sind ja einige Probleme im Busch! Als Therapeutin fange ich in solchen Momenten an, auf verschiedenen Ebenen zu denken. Natürlich konnte es sich genau so zugetragen haben, wie Florian es schildert. Der unerfüllte Kinderwunsch führte zu Leistungsdruck im Bett, vor dem der Mann dann kapitulierte. Aber irgendwie klang das Ganze auch ein bisschen nach »Hurra, ich habe einen Grund und muss mir die eigentliche Ursache der Lustlosigkeit nicht genauer anschauen«. Für mich ging es nun darum, die beiden Gedankengänge gleichzeitig im Bewusstsein zu haben und neue Anhaltspunkte daraufhin zu untersuchen, ob sie zu der einen oder der anderen Arbeitshypothese passten. Oder auch zu gar keiner.
Auch in einem anderen Bereich blieb ich hellhörig. Florian hatte doch eben behauptet, Margit habe sich vor Jahren in einer früheren Psychotherapie über Langeweile im Bett beklagt, und Margit hatte behauptet, sie habe das damals stante pede richtiggestellt. Hatte Florian das vergessen, oder setzte er diesen Vorwurf bewusst ein, um von etwas anderem abzulenken?
»Für mich war das damals sehr verletzend, weil ich dachte, es sei von dir gekommen«, sagte er mit betrübtem Gesichtsausdruck. »Ich war ja damals sowieso schon depressiv.«
Margit pflichtete ihm bei, doch ich wollte auf den Punkt noch einmal genauer eingehen. Denn in der Psychologie ist ein Verdrängungsmechanismus bekannt, der »Projektion« genannt wird. Eine eigene unangenehme oder bedrohliche Emotion, die man an sich selbst nicht wahrhaben möchte, wird auf eine andere Person verlagert. Man wirft dem Partner beispielsweise vor, dass er sturköpfig und uneinsichtig sei, und dabei ist man es selbst. Wie in der Geschichte von dem Mann, der sich darüber beklagte, dass seine Frau schwerhörig geworden sei. Zigmal müsse er sie rufen, bis sie überhaupt mal reagiere, meistens würde sie ihn ignorieren. Bis er dann direkt vor ihr stand und sie ihn ärgerlich fragte, was denn los sei, sie hätte jetzt schon zehnmal geantwortet, ob er mal zum HNO-Arzt müsse, um seine Ohren durchmessen zu lassen? Das ist Projektion in Reinkultur. Und in streithaften Beziehungen tritt sie auch dauernd auf. Eigenschaften, die man an sich selbst nicht mag, projiziert man gerne auf andere. Ein solcher Verdrängungsmechanismus hat den Vorteil, dass man sich nicht mit seinen eigenen unangenehmen Eigenschaften auseinandersetzen muss.
Ist es vielleicht umgekehrt so, dass in Wahrheit Florian den Sex als langweilig empfindet? Und ist das der Grund für seinen Seitensprung? Aber warum spricht er das Thema Langeweile denn nicht einfach an? Ich versuchte, meine Überlegungen zu überprüfen, und fragte zunächst Margit: »Hatte denn Ihre frühere Therapeutin recht, ist Ihr Sexleben langweilig?«
»Nein, ganz und gar nicht, es war immer sehr schön und liebevoll.«
»Was gefällt Ihnen an der Sexualität mit Florian?«
»Es ist schon das Kuschelige und Intime. Das bedeutet nicht, dass wir es immer in der Missionarsstellung machen. Wir machen es auch nicht immer im Bett. Früher hatten wir sogar einmal draußen auf dem Balkon Sex, es war dunkel, und wir mussten sehr leise sein. Aber genau das war schon ziemlich aufregend.«
»Und was hat Sie daran gestört?«
»Mich hat ja gar nichts gestört, solange wir Sex hatten. Es war nur so, dass Florian oft gelangweilt wirkte. Wenn ich verführerisch und in eindeutiger Absicht auf ihn zukam, ist er oft aufgesprungen und hatte etwas anderes zu erledigen.«
Florian war das Thema unangenehm. Er räusperte sich und schlug seine langen Beine von links nach rechts und dann gleich wieder andersherum.
»Und Sie, Florian, wie geht es Ihnen mit Ihrem Sexleben?«
Er holte tief Luft und lehnte sich demonstrativ lässig zurück. »Es ist alles wunderbar, nur dass ich generell nicht mehr viel Lust habe, es ist eine Frage des Alters, da ändert sich einfach einiges. Ich habe manchmal einfach Schwierigkeiten, meinen Penis richtig steif zu kriegen.«
»Und bei deiner Tussi, da hattest du diese Probleme offenbar nicht!«, fuhr Margit ihn an.
»Doch, da hatte ich sie leider auch.«
Mit dieser Bemerkung hatte es Florian für dieses Mal geschafft, mich von dem Thema abzubringen, das offenbar in dieser Ehe verdrängt wurde, nämlich...