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E-Book

Kein Schweigen, das nicht endet

AutorIngrid Betancourt
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl736 Seiten
ISBN9783426412824
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Präsidentin von Kolumbien wollte sie werden, ihr zerrissenes Land versöhnen, der Korruption hatte sie den Kampf angesagt: Ingrid Betancourt wurde zur Hoffnungsträgerin in ihrer Heimat und auch im Ausland, bis sie am 23. Februar 2002 von der linksgerichteten Rebellen-Armee FARC entführt und in den Dschungel verschleppt wurde. In diesem 'Gefängnis ohne Mauern' musste sie ausharren, unvorstellbare sechseinhalb Jahre lang der Willkür der Geiselnehmer ausgeliefert. Nun legt sie Zeugnis ab über das, was ihr angetan wurde, wie sie mehrfach versuchte zu fliehen und wie sie unter immer weiter verschärften Bedingungen überlebte. Sie bricht ihr Schweigen und setzt sich der Erinnerung an die Horrorjahre aus, die sie an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit und Widerstandskraft brachten - auf dass die Welt endlich ihr Schweigen breche über die Zustände in Kolumbien. Am Ende findet sie wieder zu sich selbst und schreibt ein aufrüttelndes Buch von großer literarischer Kraft.

Ingrid Betancourt, geb. 1961 in Bogotá, studierte Politik in Paris. 1989 kehrte sie mit ihren Kindern nach Kolumbien zurück, wo sie von 1994 bis 1998 Abgeordnete im Repräsentantenhaus war. Sie erhielt Morddrohungen und brachte 1996 ihre Kinder ins Ausland, eine Erfahrung, die sie in ihrem ersten Buch »Die Wut in meinem Herzen« beschrieb. Als Präsidentschaftskandidatin auf Wahlkampftour, wurde sie am 23. Februar 2002 entführt und erst am 2. Juli 2008 aus der Hand der FARC-Guerilla befreit. Heute lebt sie in den USA und Frankreich.

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Leseprobe

2. Kapitel


Abschied

Am 23. Februar 2009 ist es auf den Tag genau sieben Jahre her, dass ich verschleppt wurde. An jedem Jahrestag erschrecke ich, wenn mir beim Aufwachen bewusst wird, was für ein Tag es ist, auch wenn ich Wochen vorher weiß, dass es bald wieder so weit sein wird. In mir läuft eine Art innerer Countdown auf jenen Tag zu, den ich niemals vergessen will; ich will ihn auseinandernehmen, ich will jede Stunde, jede Sekunde der Kette von Ereignissen wieder erleben, die zu dem ewigen Schrecken meiner endlosen Gefangenschaft führte.

An diesem Morgen habe ich wie an allen Tagen nach dem Aufwachen Gott gedankt. Und wie jeden Morgen brauchte ich einen kurzen Moment, Sekunden nur, bis ich wusste, wo ich geschlafen hatte. Ohne Moskitonetz und auf einer richtigen Matratze, über mir eine weißgestrichene Zimmerdecke und nicht der grünverhangene Himmel. Ich wache immer von alleine auf. Und die Freude darüber ist nicht mehr nur ein Traum.

Doch heute, am 23. Februar, fühle ich mich beim Aufwachen einen Augenblick lang schuldig, mich nicht sofort erinnert zu haben. Gefangen in diesem Mechanismus aus Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen, spielt mein Gedächtnis verrückt. Es überschüttet mich mit einer solchen Flut von Erinnerungen, dass ich aus dem Bett springen und mich der Laken entledigen muss, als könne der bloße Hautkontakt mit ihnen mich unwiderruflich mit einem Fluch belegen und in die Tiefe des Dschungels zurückreißen.

Als ich mich außer Gefahr weiß, noch immer mit klopfendem Herzen, aber doch wieder gut in der Realität verankert, begreife ich, dass das Gefühl der Ruhe angesichts der wiedererlangten Freiheit die Intensität des erlittenen Leides in keiner Weise aufwiegt.

Mir fällt eine Bibelstelle ein, auf die ich in meiner Gefangenschaft gestoßen war. Es ist ein Lobpreis Gottes aus dem Buch der Psalmen, der die Mühsal der Wüstendurchquerung beschreibt. Erstaunt hatte mich vor allem der Schluss. Der Lohn für die Anstrengung, den Mut, die Ausdauer und das Leiden seien nicht etwa Zufriedenheit oder Glück, hieß es da, auch nicht Ruhm und Ehre. Was Gott als Belohnung versprach, war allein Ruhe.

Man muss erst älter werden, um inneren Frieden schätzen zu können. Ich hatte immer in einem Wirbel von Ereignissen gelebt. Dann fühlte ich mich lebendig, ich war ein regelrechter Wirbelwind. Ich hatte früh geheiratet, meine beiden Kinder, Mélanie und Lorenzo, waren die Erfüllung all meiner Träume, und ich hatte mir vorgenommen, mein Land zu verändern, mit der Kraft und Sturheit eines Stieres. Ich glaubte an meinen guten Stern, ich arbeitete hart und konnte tausend Dinge auf einmal erledigen, denn ich war mir sicher, dass mir Erfolg beschieden sein würde.

 

Januar 2002. Ich war auf einer kurzen Reise in die Vereinigten Staaten, wo ich keine Nacht richtig schlief und von einem Meeting zum andern hetzte, da ich um die Unterstützung der Exilkolumbianer für meine Partei Oxígeno Verde und meine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen warb. Meine Mutter begleitete mich und hörte das Gespräch mit, als meine Schwester Astrid anrief und sagte, es gehe Papa nicht gut, es sei nichts Schlimmes. Er sei müde und habe keinen Appetit. Meine Eltern hatten sich vor Jahren getrennt, aber sie waren gute Freunde geblieben. Daher fühlten wir beide, meine Mutter und ich, uns bei den Worten meiner Schwester sofort an meine Tanten und Onkel erinnert: Sie alle waren unerwartet nach einem »kleinen Unwohlsein« gestorben. Zwei Tage später rief meine Schwester wieder an: Papa hatte einen Herzinfarkt erlitten. Wir mussten unverzüglich zurück.

Die Rückreise war ein Alptraum. Ich liebte meinen Vater abgöttisch. Das Zusammensein mit ihm war niemals banal. Ein Leben ohne ihn war in meiner Vorstellung wie eine Wüste der Langeweile.

In der Klinik angekommen, fand ich ihn an einen Apparat angeschlossen, der zum Fürchten aussah. Er erwachte, erkannte mich, und seine Augen leuchteten: »Du bist da!« Danach verfiel er gleich wieder in einen von Beruhigungsmitteln ausgelösten Tiefschlaf, aus dem er sich zehn Minuten später wieder befreite, um noch einmal »Du bist da!« auszurufen.

Die Ärzte sagten uns, wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen. Der Pfarrer kam und gab ihm die Letzte Ölung. Während eines kurzen klaren Moments rief mein Vater uns alle an sein Bett. Seine Abschiedsworte wählte er mit Bedacht, und er segnete jeden der Anwesenden mit der Treffsicherheit eines Weisen, der den Menschen ins Herz blicken kann.

Dann ließ man meine Schwester und mich allein mit ihm. Mir wurde bewusst, dass jetzt der Moment des endgültigen Abschieds gekommen war, aber ich war noch nicht dazu bereit. Ich brach vor ihm in Tränen aus, klammerte mich verzweifelt an seine Hand. Diese Hand, die mich immer gehalten hatte, die alle Gefahren aus meinem Weg geräumt, die mich getröstet hatte. An dieser Hand hatte er mich geführt, wenn ich die Straße überquerte, und sie hatte mir Halt gegeben in den schwierigsten Zeiten meines Lebens. An ihr hatte er mir die Welt gezeigt. Sobald ich in Papas Nähe war, ergriff ich sie, als gehöre sie mir.

Meine Schwester wandte sich mir zu und sagte streng: »Hör auf damit! Wir sind Teil des Kreislaufs des Lebens. Papa wird nicht sterben.« Sie nahm seine andere Hand und versicherte mir, alles werde gut werden. Sie hielt ihn ganz fest. Immer noch schluchzend fühlte ich, dass etwas Außergewöhnliches mit uns geschah. Von meinem Arm aus floss etwas wie ein elektrischer Strom durch meine Finger hindurch in seine Adern. Das Kribbeln war deutlich zu spüren, es gab keinen Zweifel. Ich schaute meine Schwester an: »Fühlst du es auch?« Völlig ungerührt antwortete sie: »Natürlich fühle ich es!« In dieser Position verharrten wir wohl die ganze Nacht. Eingehüllt in Stille, spürten wir den Energiekreislauf zwischen uns und waren fasziniert von dieser Erfahrung, für die es keine Erklärung gab außer unserer Liebe.

Meine Kinder kamen aus Santo Domingo in Begleitung ihres Vaters Fabrice, um Papa zu sehen. Fabrice stand ihm auch nach unserer Trennung nahe, und mein Vater betrachtete ihn als seinen Sohn. Als Mélanie die Hand meines Vaters nahm, spürte auch sie die seltsame Energie. Und Papa öffnete bei Lorenzos Kuss kurz die Augen. Auch die beiden Kleinen meiner Schwester, Anastasia und Stanislas, konnten es kaum erwarten, meinen Vater zu drücken. Und Papa war glücklich, seine Familie bei sich am Bett zu wissen. Es ging ihm besser.

Meine Mutter und ich blieben bei Papa; während der gesamten zwei Wochen, die sein Genesungsprozess in Anspruch nahm, wohnte ich bei ihm im Krankenhaus. Ich wusste, ohne ihn würde ich nicht die Kraft haben weiterzumachen.

Ich befand mich mitten im Wahlkampf. Meine Partei Oxígeno Verde war mit ihren vier Jahren noch sehr jung. Aber in dieser grünen Partei kämpften viele Mitbürger leidenschaftlich gegen die das Land zerstörende Korruption in Kolumbiens politischen und militärischen Kreisen. Wir trieben alternative Ideen voran, sowohl im Hinblick auf ökologische Fragen wie zur Förderung des Friedensprozesses. Wir waren eine grüne Partei im besten Wortsinn, strengten soziale Reformen an, und wir waren sauber in einem Land, wo die Politik unserer Ansicht nach eine unheilvolle Verbindung mit Drogenbaronen und Paramilitärs eingegangen war.

Papas Erkrankung hatte mit einem Schlag all meine politischen Aktivitäten gestoppt. Ich war aus den Medien verschwunden, meine Umfragewerte befanden sich im freien Fall. In der ersten Panik war ein Teil meiner Mitarbeiter gegangen und stärkte jetzt die Reihen der anderen Kandidaten. Als ich aus dem Krankenhaus wieder auftauchte, musste ich mit einem geschrumpften Team den Endspurt vorbereiten. Die Präsidentschaftswahlen sollten im Mai stattfinden. Es blieben uns noch drei Monate.

In unserer ersten Teamsitzung besprachen wir den genauen Ablaufplan für die verbleibende Zeit. Es war eine hitzige Diskussion. Die meisten wollten, dass wir uns genau nach dem Programm richteten, das wir zu Beginn der Kampagne festgelegt hatten. Vorgesehen war ein Besuch in San Vicente del Caguán. Meine Wahlkampfmanager wollten dem Bürgermeister von San Vicente unbedingt unter die Arme greifen; er war landesweit der einzige Bürgermeister, der unserer neuen Partei Oxígeno Verde angehörte. Unser Team erwartete von mir eine zusätzliche Kraftanstrengung zum Ausgleich für die Wochen, die ich an Papas Krankenbett verbracht hatte. Ich sollte mich voll und ganz in den Wahlkampf stürzen.

Ich für meinen Teil fühlte mich ihnen verpflichtet und akzeptierte daher widerstrebend die Fahrt nach San Vicente. Wir kündigten sie auf einer Pressekonferenz an, in der wir auch unseren Friedensplan für Kolumbien vorstellten. Seit den 1940er Jahren herrschte in Kolumbien ein Bürgerkrieg zwischen den Konservativen und den Liberalen. Dieser Krieg war so grausam, dass man diese Zeit »La Violencia« nannte, die »Gewaltvolle«. Der blutige Machtkampf ging von der Hauptstadt Bogotá aus und griff rasch auf die ländlichen Regionen über. Bauern, die als Liberale galten, wurden von den Partisanen der Konservativen massakriert und umgekehrt. Als Reaktion der Bauern, die sich vor dieser Gewalt schützen und die Beschlagnahmung ihres Bodens – durch liberale oder auch konservative Großgrundbesitzer – verhindern wollten, bildete sich spontan die FARC. Die beiden Parteien trafen schließlich ein Abkommen, die Macht untereinander aufzuteilen und damit dem Bürgerkrieg ein Ende zu setzen. Doch von diesem Abkommen war die FARC ausgeschlossen. Und so wandelte sich die Bewegung während des Kalten Krieges von einer rein defensiven, auf die ländlichen Gebiete beschränkten Organisation zu...

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