Kapitel 1
Im »Supermarkt der Religionen«
oder: Wie findet der Rand
zurück in die Mitte?
Werden wir zu einer »gottlosen« Gesellschaft?
Der Jesuit Wilfried Dettling schreibt: »Wer über Jugend redet, muss über die Gesellschaft reden! Die jungen Leute sind Kinder dieser unserer Gesellschaft.« Darum ist es wohl angebracht, hier darüber zu sprechen, wie unsere Gesellschaft »ist«. Wer die Gesellschaft, wer die Menschen von heute nicht versteht, wird die Jugend nicht verstehen. Und wer die Jugend nicht versteht, hat keine Zukunft.
Die Zahl der Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, steigt unaufhaltsam. Eine Statistik des »Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts« (SPI) aus dem Jahr 2017 zeigt, dass 23,9 Prozent der Schweizer Bevölkerung mittlerweile konfessionslos sind.2 In Deutschland waren es 2016 einer Erhebung der »Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland« zufolge bereits über 36 Prozent,3 in Österreich 2017 rund 17 Prozent, überall mit zunehmender Tendenz.4 Unbestritten liegt ein »bislang ungebremster Säkularisierungstrend«5 vor. Dieser wurde und wird durch die zahlreichen Kirchenaustritte und durch den Rückgang der Taufen noch verstärkt.
Viele Menschen sind heute areligiös oder religiös indifferent. Über die Hälfte der Bevölkerung bekundet ein distanziertes Verhältnis zur Religion. Insbesondere die junge Generation kann mit den Kirchen nicht mehr viel anfangen. Das Christentum spielt kaum eine Rolle mehr, und der persönliche Glaube verblasst oder droht ganz zu verschwinden.
Die traditionellen christlichen Kirchen haben nicht nur im persönlichen Umfeld der Gläubigen, sondern auch an gesellschaftlicher Relevanz stark verloren.6 Stichworte dafür sind Säkularisierung, Entkirchlichung, Individualisierung und Multireligiosität. Ein schleichender Wertewandel findet statt. Als in Deutschland das Grundgesetz eingeführt wurde, war die große Mehrheit der Bevölkerung evangelisch oder katholisch. Damit ist es vorbei. In der heutigen Gesellschaft hat die Kirche nur noch wenig Platz. Vor allem ihre institutionelle Gestalt und deren gesellschaftliche Rolle werden mehr und mehr in Frage gestellt. West- und Mitteleuropa gilt für den US-amerikanischen Religionssoziologen Peter L. Berger als »ein Katastrophengebiet für die Kirchen«.7 Werden wir zur gottlosen Gesellschaft?
Dabei wird die Sehnsucht nach dem Lebenssinn nicht geringer. Die Gesellschaft ist sogar äußerst sensibel für die Gottesfrage. Wir haben nur verlernt, darüber zu sprechen. Unserer Gesellschaft fehlt es nicht an Gott, sondern an Wissen über den christlichen Glauben und an persönlicher Erfahrung mit ihm. Die Gesellschaft erlebt eine »Glaubenskrise«.8
Dass immer mehr Menschen die Kirchen verlassen, spricht nicht zwangsläufig für eine spirituelle Schwäche der Gesellschaft, sondern eher für eine schwindende Identifizierung der Menschen mit den traditionellen religiösen Institutionen. Gott ist nicht verlorengegangen; aber die Kirche hat verlernt, christliche Werte und Vorstellungen in eine Sprache zu bringen, die von den Menschen verstanden und als glaubwürdig erlebt wird.
Bereits die Propheten des Alten Testaments kritisierten die vermeintliche Gottlosigkeit ihrer Gesellschaft. In solchen Krisenzeiten braucht es den Mut jener, die den Glauben im Herzen tragen. Sie haben die Aufgabe, Gott und ihren Glauben zu bezeugen. Denn wie schon Goethe sagte: »Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.«
Sowohl die institutionellen Kirchen als auch die einzelnen Gläubigen müssen deutlicher und vor allem mehr von Jesus Christus sprechen. Es ist die Aufgabe unserer Zeit, ihn wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Auch wenn die Religion immer weniger Platz im Leben der Menschen hat, ist unsere heutige Kultur ohne den Glauben an Gott nicht denkbar. Mit einer immer größer werdenden Religionsferne hingegen entsteht ein religiöser Analphabetismus, der auch unsere Sprache immer stärker durchdringt und sich sogar im Umgang mit den Mitmenschen niederschlägt.
Auch wenn viele Menschen mit der Institution Kirche heute nichts mehr anfangen können, kann es eine gottlose Gesellschaft – theologisch gesprochen – nie geben. Denn Gott fehlt nicht. Die Menschen mögen Gott aus dem Blick verlieren, aber Gott entfernt sich nicht von uns, sondern wartet geduldig darauf, dass wir uns ihm wieder zuwenden. Das wusste schon der Apostel Paulus in seiner Areopag-Rede zu sagen: »Keinem von uns ist er fern« (Apostelgeschichte 17,27).
Vielen Menschen ist Gott unwichtig. Aber es gibt auch eine Reihe von Menschen, die sich die Frage nach Gott bislang schlicht noch nie gestellt haben, vielleicht auch, weil die Kirche selbst sich damit schwertut.9 Ist es da nicht ureigene Aufgabe von Theologen und Gläubigen, diese Menschen auf die Gottesfrage hin anzustupsen? Atheisten, die für sich entschieden haben, nicht an Gott zu glauben, haben sich zumindest einmal die Gottesfrage gestellt.
Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., stellte im März 2004 eine düstere Diagnose für das christliche Europa. Für ihn ist der Kontinent »von innen her leer«. Die Kirche befinde sich auf dem Weg der Verabschiedung.10 Wenn man die Kraft des Christentums nur an der Zahl der Kirchgänger misst, stimmt diese Einschätzung wohl. Aber Christsein ist mehr als der sonntägliche Besuch in der Kirche. Es gibt so viele Menschen, die ihr persönliches Christsein bei Weitem nicht als »von innen her leer« bezeichnen würden. Viele haben einen lebendigen Glauben – nur eben ohne den Gang in die Kirche. Rein statistisch gesehen hat Ratzinger recht: Immer weniger Menschen interessieren sich für das Christentum. Doch ist nicht gerade das die Herausforderung einer jeden Zeit, die Menschen von Neuem für die Botschaft Christi zu begeistern? Im Hier und Jetzt? Wenn die Kirchen die Situation in Europa ernst nehmen und wirklich handeln, denke ich, ist Europa beileibe kein hoffnungsloser Fall. Aber Reden allein genügt nicht. Handeln ist angesagt.
Im »Supermarkt der Religionen«
Die Religiosität wandert in neue Formen auch außerhalb der Kirchen aus. Es entsteht ein Eigenleben der Religion, das teilweise esoterische oder mystische, charismatische oder sektiererische Züge trägt und verschiedenste Gestalten annehmen kann.11 Die traditionellen christlichen Kirchen haben schon lange keinen Monopolanspruch mehr auf die Wahrheit. »Die gesellschaftliche Bedeutung der ›großen‹ Kirchen und die gesellschaftliche Funktion von Religion treten in erheblichem Umfang auseinander« (Wolfgang Huber).12
Anders gesagt: Während Religion so wichtig ist wie eh und je, schwindet die Bedeutung der Kirchen. Schätzungen gehen davon aus, dass in Berlin gegenwärtig über 250 Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften aktiv sind. Dazu zählen auch säkulare, atheistische und esoterische Ideologien.13 Jeder Mensch hat heute die Möglichkeit, eine »Privatreligion« zu kreieren, die zu seinem Lifestyle passt. Jedem steht heute ein reiches Angebot zur Verfügung, sich etwas zusammenzustellen. Weil sich jeder in ganz verschiedenen Traditionen bedienen und zusammensetzen kann, was ihm behagt, werden solche neue Kreationen gern »Patchwork-Religionen« genannt.
Das selbstbestimmte Leben ermöglicht einem, im »Supermarkt der Religionen«14 das zu wählen, worauf man gerade Lust hat. Die individuelle Zusammenstellung der Spiritualität verpflichtet niemanden, sich »dogmatisch oder institutionell festzulegen, sich zu binden, sich gemeinschaftlich zu bekennen«.15 Der moderne Mensch will ja sein Leben selbstbestimmt leben. Das ist selbstverständlich eine wichtige Errungenschaft. Auch ich will mir nicht vorschreiben lassen, wann ich am Sonntag aufzustehen habe oder in welche Kirche ich gehen soll.
Jugendliche haben auf dem Sinnmarkt viele Möglichkeiten, probieren Verschiedenes aus und prüfen es auf die Tauglichkeit für ihr Leben. Die Kirche ist dabei nur eine Sinnanbieterin unter vielen. Selbst bei gläubigen und kirchennahen Jugendlichen finden sich oft Mischformen zwischen christlicher Überzeugung und anderen Traditionen. So kombinieren sie etwa den christlichen Glauben mit anderen Elementen (zum Beispiel dem Reinkarnationsgedanken). Punktuell lassen sie sich auf Religion ein, ziehen sich aber auch leicht wieder zurück. Jugendliche lassen sich nicht sofort festlegen. Sie wollen offen und flexibel bleiben. Die wenigsten wollen institutionelle Verpflichtungen eingehen, »denn diese könnten ja möglicherweise in einer sich immer schneller ändernden Gesellschaft zu wenig Flexibilität für nachfolgende Entscheidungen eröffnen«.16
Das heißt freilich auch: Religiosität von Jugendlichen kann kaum am Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes gemessen werden. Viele bleiben der Kirche fern, fühlen aber in ihrem Herzen etwas, das sie als Glauben bezeichnen. Gerade von jungen Menschen höre ich immer wieder, dass das Christentum und die Forderungen Jesu, die von der Kirche gepredigt werden, nicht so recht in ihr persönliches Lebenskonzept passen wollen. Jesus als der charismatische Mensch, der ungerechte Systeme und Strukturen in Frage stellt, ja sogar anklagt, ist gern gesehen....