„Gott macht sich im Herzen
jedes Menschen spürbar“
Papst Franziskus
(„Über Himmel und Erde“, S. 34)
Vorwort: Ziel und Absicht des Buches
- „Religion – das ist Privatsache!“
- „Ob meine Kinder sich einer Religion anschließen, das sollen sie später selbst entscheiden. Ich möchte sie da nicht festlegen.“
- „Religion – da bin ich mir nicht sicher, was ich selber denke. Wie soll ich da meinen Kindern etwas mit auf den Weg geben? Ich halte mich da lieber heraus.“
- „Die Kirchen und die anderen Religionen sollten mit der öffentlichen Bildung nichts zu tun haben. Kindergarten und Schule sollten frei sein von konfessionellen Vorgaben.“
Solche und ähnliche Stimmen lassen sich in unserer postmodernpluralen Gesellschaft mehr und mehr vernehmen. Religion wird zur subjektiven Privatsache erklärt, die jede und jeder für sich selbst entscheiden muss. Den verfassten Religionen wird zunehmend das Recht abgesprochen, sich an öffentlichen Bildungseinrichtungen zu beteiligen. Dass Konfession, also das aktive Bekennen und Praktizieren einer ganz spezifischen Religion, als Teil persönlicher Lebensführung einen wichtigen Raum einnehmen soll und darf, wird dabei in der Regel nicht in Frage gestellt. Sehr wohl umstritten ist aber jegliche Forderung, hieraus politische, institutionelle und öffentlich wirksame Ansprüche herleiten zu dürfen.
Die Diskussion um die Legalität der Beschneidung von männlichen Kindern in Judentum und Islam hat zudem eine weitere Frage in das öffentliche Interesse gerückt: Dürfen Eltern in Sachen Religion überhaupt für ihre Kinder langfristig wirksame Entscheidungen treffen, Prägungen vornehmen, Wegspuren bahnen? Ist das nicht bereits einerseits eine pädagogisch unerlaubte Engführung, andererseits aber auch ein juristischer Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung der Person, das auch schon für Kinder gilt? Die Anfragen bleiben nicht auf die Religionen Judentum und Islam beschränkt. Legt nicht auch die christliche Säuglingstaufe, im kirchlichen Selbstverständnis die Verleihung eines character indelibilis (eines unauslöschlichen Merkmals), Menschen lebenslang auf eine Prägung fest – unabhängig davon, ob sie diese später akzeptieren und gestalten, sich dagegen wehren oder sie schlicht ignorieren?
Religion, religiöse Erziehung und religiöse Bildung sind im Kontext der postmodernen Gesellschaft schon seit einiger Zeit zum Streitthema geworden. Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen reagieren auf diese Situation mit unterschiedlichen Strategien:
- mit dem Hinweis auf traditionell festgelegte juristische Rahmenvorgaben und Staatsverträge;
- mit dem Rückzug auf vermeintlich eindeutige Aussagen von Katechismen und Dogmen;
- mit der Vermeidung und einem Wegducken vor klarer Positionierung;
- mit einem Blick auf potentiell langfristige Entwicklungen, der mittelfristige Probleme ignoriert;
- mit der konfrontativ ausgerichteten Einforderung vom Menschenrecht auf religiöse Entfaltung, Praxis und Erziehung;
- mit der Aufnahme von echten Dialogunternehmungen über künftige Wege und Organisationsformen;
- mit kritischer Bestandsaufnahme und offenen Gesprächen.
Auch im Feld der wissenschaftlichen Religionspädagogik finden sich unterschiedliche Strategien und Meinungen: Manche verweisen auf die Notwendigkeit des Abschieds von konfessionellen Engführungen und plädieren für den verstärkten Ausbau christlich-ökumenischer Gemeinschaft auf der Ebene von Gemeinde und Schule. Andere sehen im Miteinander der drei abrahamischen, der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam die tragfähige Basis für eine starke Wirkung in die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen hinein. Und noch einmal andere setzen auf die grundlegenden gemeinsamen Anliegen aller Religionen, sei es im Blick auf das Ethos oder im Blick auf Spiritualität.
Dabei werden die Sorgen vieler gläubiger Menschen um das Weiterleben ihres Glaubens in den Folgegenerationen bis hin in die Formulierung von Buchtiteln aufgenommen. „Erwachsenwerden ohne Gott?“, fragt Karl-Ernst Nipkow 1987; „Werden unsere Kinder noch Christen sein?“ präzisieren Jürgen Hoeren und Karl Heinz Schmitt 1990 die Fragestellung. Aus Fragen werden positionierte Forderungen: „Kinder nicht um Gott betrügen“ mahnt Albert Biesinger 1994 in einem bis heute immer wieder neu aufgelegten Buch; Friedrich Schweitzer postuliert im Jahr 2000 „Das Recht des Kindes auf Religion“ – und damit sind nur wenige auflagenstarke und wirkmächtige Einzeltitel in Erinnerung gerufen.
In diese Diskussion hinein soll das vorliegende Buch eine eigene Position einspeisen. Gewiss, Kinder können aufwachsen ohne Religion, das zu bestreiten wäre angesichts breiter Erfahrungen in Geschichte und Gegenwart absurd – außer man verwässert den Religionsbegriff so stark ins Allgemeine, dass man damit keine klar abgrenzbare Dimension mehr erfasst. Und gewiss, Menschen wachsen auf und leben gut ohne Religion, ja sogar besser als manche andere, die von fundamentalistischen Vertretern und Ideologen ihrer Religionen verkrüppelt und versklavt wurden und werden. Das mehrfach mit bedauerndem Ton vorgetragene Bekenntnis eigener ‚religiöser Unmusikalität‘ – ein Sprachbild, das Jürgen Habermas von Max Weber entlehnt hat – weist jedoch auf eine zentrale Analogie hin: Ja, man kann auch ohne Musik leben, moralisch gut, sinnvoll und glücklich– aber welch bereichernde menschliche Dimension fehlt dabei! Wie schade, wenn eine so grundlegende Ebene des Menschseins nicht entfaltet ist! Und mit welchem Bedauern werden musikalische Menschen auf unmusikalische blicken, die oft nicht einmal ahnen, was ihnen fehlt oder entgeht.
Auch wenn der Vergleich von Musik und Religion seine Grenzen hat: Tatsächlich ist es so ähnlich mit Religion. Auch das Religiöse ist eine Grunddimension des Menschen. Auch in ihr geht es um Wahrnehmung, Empfindung, Ausdruck und Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten, ja mehr noch: um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost. Ganz in diesem Sinne wagte schon die Würzburger Synode – die Versammlung der deutschen katholischen Kirche im Versuch der Neuformulierung zentraler Glaubensüberzeugungen in das Zeitalter der Moderne hinein – vor vierzig Jahren die Behauptung: „Die ‚religiöse‘ Dimension“ von „Situationen und Erfahrungen“, die uns „unbedingt angehen“, auszuklammern, „hieße den Menschen verkümmern lassen“ (Der Religionsunterricht in der Schule 1974, S. 24).
„Kinder brauchen Religion!“ (in Hugoth/Benedix 2008, S. 9f.) – so überschrieben die Vorsitzenden der BETA (Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder) und des KTK (Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder) 2008 in ökumenischer Gemeinsamkeit ihr Plädoyer. In der Tat, das ist die Grundüberzeugung, die auch hier stark gemacht werden soll: Vor allem Kinder ‚brauchen‘ Religion weit jenseits einer „einseitigen Festlegung bloß auf das Nützliche“ (Schweitzer 2000, S. 24), und das gleich doppelt: zum einen jeweils gegenwartsbezogen in ihrem Kind-Sein, zum Aufbau von kindlich tragfähigen Weltbildern, Überzeugungen und Wertvorstellungen. Zum anderen aber auch zukunftsorientiert, um sich in unserer Gesellschaft zu eigenständigen, selbstverantworteten, gebildeten Persönlichkeiten entwickeln zu können. Ob sie sich als Erwachsene zu einer konkreten Religion bekennen und eine bestimmte Religion praktizieren, ist dabei zunächst zweitrangig – dafür und dagegen kann es gute Gründe geben, die in jedem Fall allein der persönlichen Einschätzung vorbehalten bleiben. Gut so! Von zentraler Bedeutung ist jedoch die grundlegende Befähigung zu einer solchen Entscheidung, die eine wenigstens basale religiöse Erziehung und Bildung voraussetzt. Wenn Kinder also in diesem Sinne ‚Religion brauchen‘, ergeben sich Konsequenzen für Eltern, Kirchengemeinden, Kindertagesstätten, Schulen, staatliche Vorgaben.
Was aber, wenn gerade die Vertreterinnen und Vertreter dieser Instanzen sich selbst als ‚religiös unmusikalisch‘ einschätzen? Wenn sie die Verantwortung in Sachen Religion an die dafür zuständigen ‚Fachleute‘ abschieben – nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus der gut begründeten Selbsteinschätzung heraus, selbst viel zu unsicher, selbst viel zu inkompetent in Sachen Religion zu sein, um Kinder in dieser Hinsicht zu erziehen oder zu begleiten? Eine derartige Zurückhaltung hat ihre Berechtigung, gleichzeitig aber auch ihre Grenzen. Viele Eltern etwa nehmen heute beträchtliche Belastungen auf sich, um ihre Kinder bestmöglich zu fördern: ob im Blick auf sportliche Aktivitäten oder musikalische Ausbildung. Und niemand erwartet von ihnen, dass sie selbst in der entsprechenden Disziplin Höchstleitungen erbringen, dass sie selbst überragende Experten auf dem fraglichen Gebiet sind.
Im exemplarischen Bild gesprochen: Eine Mutter, die ihre Tochter zum Ballettunterricht bringt, muss nicht selbst Ballett tanzen können. Ein Vater, der seinen Sohn zum Fußballtraining begleitet, muss nicht selbst in der Bundesliga gespielt haben. Eine Großmutter, die ihren Enkel zum Flötenspiel animiert, muss nicht selbst das Instrument orchesterreif beherrschen. Ein Großvater, der seiner Enkelin den Reitunterricht bezahlt, muss nicht selbst jemals auf einem Pferd gesessen haben … Gewiss: Erneut sind die Vergleichsbedingungen begrenzt, aber trotzdem darf man fragen: Warum wird ausgerechnet im Bereich Religion...