KinderStärken in den ersten drei Lebensjahren
Petra Völkel
In diesem Beitrag wird die Idee »Kinderstärken – Kinder stärken« aus entwicklungspsychologischer Perspektive für die Jüngsten, d. h. für Kinder in den ersten drei Lebensjahren, beleuchtet. In diesem Überblicksbeitrag wird ein ganzheitliches Verständnis von frühkindlichen Entwicklungsprozessen sowie den Möglichkeiten der Förderung eröffnet, welches in dem zeitgleich erscheinenden Themenband »Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten« (Völkel, 2015) ausführlich entfaltet und zur Diskussion gestellt wird.
1 Biologische Ausstattung: ein »starkes« Startkapital
Wenn ein Kind geboren wird, bringt es mehr oder weniger alles mit, was es braucht, um zu lernen und sich zu entwickeln. Es verfügt sowohl über die biologische Ausstattung als auch über den inneren Antrieb, um mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten und sich in ihr zu orientieren. Zudem verfügt es über ein einfaches Verhaltensrepertoire, um seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken und um Interesse oder Überforderung zu signalisieren. Das Kind ist also von Anfang an aktiv an seiner eigenen Entwicklung beteiligt, weil es über eine Grundausstattung von Fähigkeiten bzw. Anlagen verfügt, die es ihm erlauben, seine Umwelt wahrzunehmen und handelnd mit ihr umzugehen. Gleichzeitig kann ein Kind seine angeborenen Fähigkeiten nur nutzen und weiterentwickeln, wenn es die Möglichkeit zur sozialen Interaktion mit anderen Menschen erhält, die auf seine Bedürfnisse eingehen und ihm eine anregende Entwicklungsumwelt zur Verfügung stellen. Dies gilt insbesondere für den Beginn des Lebens, an dem der Säugling voll und ganz auf die Zuwendung und Fürsorge seiner Bezugspersonen angewiesen ist. Anlage und Umwelt beeinflussen sich demnach wechselseitig, wobei jedoch davon auszugehen ist, dass keine Erfahrung aus der Umwelt der anderen absolut gleicht und darüber hinaus jede Erfahrung von jedem Menschen individuell unterschiedlich verarbeitet wird. Dies wiederum führt dazu, dass nachfolgende Informationen aus der Umwelt auf der Grundlage vorangegangener eingeordnet, bewertet und verstanden werden. Auf dieser Grundlage wird Wirklichkeit konstruiert und es werden die Weichen gestellt, für die Art und Weise, mit der ein Mensch soziale Beziehungen eingeht, sich Wissen und Kompetenzen aneignet und seine Persönlichkeit entwickelt.
2 Zur Rolle der sozialen Umwelt in verschiedenen Theorieansätzen
Von dem Zusammenwirken zwischen Anlagen und Umwelt gehen mittlerweile alle modernen Sozialisations-, Lern- und Entwicklungstheorien sowie die neurobiologische Forschung aus. Die Sozialisationsforschun macht insbesondere auf die primäre Sozialisationsinstanz Familie aufmerksam, die gelungene oder weniger gelungene soziale Interaktionen und Beziehungserfahrungen anbietet, in der Kinder angemessene und weniger angemessene Erziehungsstile erleben und günstige oder ungünstige Entwicklungsumwelten und Entwicklungsimpulse vorfinden, welche sich sowohl auf die sozial-emotionale als auch auf die kognitive Entwicklung auswirken können (vgl. Thomas & Feldmann, 2002, S. 359ff). Ausgehend von den psychosexuellen Phasen der Entwicklung nach Freud beschreibt Margaret S. Mahler (1897 – 1985) differenziert die so genannte psychische Geburt des Menschen in den ersten drei Lebensjahren als einen Prozess der Loslösung und Individuation (vgl. Mahler, Pine & Bergman, 2008). In diesem Prozess geht es zum einen um die Auflösung der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter (Loslösung) und zum anderen um die Entwicklung individueller Persönlichkeitsmerkmale (Individuation). Die psychoanalytische Entwicklungstheorie verweist damit auf die hohe Bedeutung intuitiver Elternkompetenz im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Aufbauend auf der klassischen Lerntheorie begreift Bandura, im Rahmen der sozial-kognitiven Lerntheorie, den Lernprozess des Kindes als aktives Imitieren und Modellieren dessen, was es an anderen beobachtet hat oder von anderen hört. Er spricht deshalb vom »Lernen am Modell«. In der frühen Kindheit kommt den Bezugspersonen insofern hohe Bedeutung für das Lernen der Kinder zu, als dass sie zum einen über intentionale Erziehung das Verhalten ihrer Kinder lenken und verändern können und zum anderen im alltäglichen Umgang bedeutsame Verhaltensmodelle anbieten. Damit wirken sie insbesondere auf die Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenzen (vgl. Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2011, S. 348ff). In der kognitiven Entwicklungspsychologie wurde die Vorstellung vom aktiven und selbsttätigen kindlichen Lernen insbesondere durch Piagets Theorie der geistigen Entwicklung etabliert. Piaget (1896 – 1980) geht davon aus, dass der Mensch immer nach einem Gleichgewicht strebt zwischen dem, was die Umwelt ihm anbietet, und dem, was er kognitiv verarbeiten kann. Dieses Finden von Gleichgewicht bezeichnet Piaget als Äquilibrationsprozess. Gleichzeitig spricht Piaget von kognitiven Konflikten, denen Kinder immer wieder ausgesetzt sind, wenn ihre vorhandenen Denkstrukturen nicht ausreichen, um die Welt zu erklären. Solche Konflikte erleben Kinder insbesondere dann, wenn sie mit anderen interagieren und in diesen Interaktionen Widersprüchliches und Gegensätzliches erfahren. Die Erkenntnismöglichkeiten der Kinder stehen demzufolge in einem Austausch mit den Erfahrungen, die ihre soziale Umwelt ihnen anbietet. Im Bereich der Sozialentwicklung sind es nach Piaget vor allem die gleichaltrigen Spielpartner, die es dem Kind ermöglichen, unterschiedliche Standpunkte zu erkennen, zu verstehen, miteinander zu vergleichen und dadurch das eigene Verständnis von der Welt durch ein qualitativ anderes zu ersetzen (vgl. Piaget, 2000). Folgt man der Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget, so muss die Aufgabe von Erwachsenen darin bestehen, das Kind mit Aufgaben und Angeboten zu konfrontieren, die es selbsttätig oder in Kooperation mit Gleichaltrigen lösen kann. Ein Kind braucht von Geburt an eine anregungsreiche soziale und gegenständliche Erfahrungsumwelt, die es ihm ermöglicht, aktiv handelnd mit Situationen umzugehen. Jüngste Bestätigung findet das Bild vom eigenaktiven Kind durch neurobiologische Erkenntnisse. Hier wird davon ausgegangen, dass der Aufbau neuronaler Verbindungen in der Kindheit erfolgt, und zwar durch aktive Lernvorgänge und daraus resultierenden Erfahrungen, die in der Interaktion mit anderen Menschen gemacht werden. Hüther (2009) bezeichnet das Gehirn deshalb als Sozialorgan. Den engsten Bezugspersonen kommt damit in der frühen Kindheit eine hohe Bedeutung zu, wenn es um die Strukturierung des kindlichen Gehirns geht. Aus neurobiologischer Sicht müssen sie sicherstellen, dass das Kind Vertrauen darin entwickelt, Möglichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu besitzen, um gemeinsam mit anderen Menschen Probleme bewältigen zu können. Dafür ist es notwendig, dass es nicht mit Reizen überflutet und weder verwöhnt noch vernachlässigt wird. Vielmehr braucht das Kind Freiräume, in denen es an der Gestaltung der Welt partizipieren und seine eigenen Möglichkeiten spielerisch entdecken kann. Darüber hinaus braucht es Vertrauen »in die Sinnhaftigkeit der Welt und das eigene Geborgen- und Gehaltensein in der Welt« (Hüther, 2009, S. 46).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle modernen sozialisationstheoretischen, entwicklungspsychologischen, lerntheoretischen und neurobiologischen Theorien und Ansätze mehr oder weniger von einem »starken« Kind ausgehen, das von Geburt an aktiver (Mit-)Gestalter seiner Entwicklung und seines Lernens ist. Ebenso wird davon ausgegangen, dass es im Rahmen sozialer Interaktion das Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt sowie die individuelle Verarbeitung sind, die Lernen und Entwicklung entscheidend beeinflussen (vgl. dazu auch Büker, 2015, im Einleitungsartikel zu diesem Band).
3 Kinderstärken: Entwicklung und Teilhabe durch soziale Beziehungen
Da Kinder bereits ab der Geburt als soziale Wesen anzusehen sind, gehen sie von Anfang an aktiv soziale Beziehungen ein, zuerst mit ihren engsten Bezugspersonen und wenig später auch mit anderen Erwachsenen und gleichaltrigen Spielpartnern. Im Rahmen dieser Beziehungen lernen sie nicht nur etwas über andere, sondern auch über sich selbst, über ihre eigenen Verhaltensmöglichkeiten und -beschränkungen. Sie begreifen, dass sie anderen Menschen ähnlich sind, aber sich auch von diesen unterscheiden. Sie beginnen zu verstehen, dass andere Menschen Wünsche, Interessen und Erwartungen haben, die sich von den eigenen Wünschen, Interessen und Erwartungen unterscheiden, sie erwerben Selbstachtung...