Die allgemeine Grundschule wurde in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeführt. Von dieser Zeit an stellt die problemlose Einschulung möglichst aller Schulanfänger eine ganz besondere Herausforderung dar. In Europa gibt es bezüglich des Aufnahmealters und der Aufnahmebedingungen sowie bei der Gestaltung der Schuleingangsphase Unterschiede. Auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland weichen die Einschulungspraktiken zum Teil stark voneinander ab. Grund hierfür ist zum einen, dass es bis heute keine allgemein gültige Vorstellung von Schulfähigkeit gibt. Zum anderen sind in den letzten Jahrzehnten zwar eine Fülle verschiedener Einschulungsverfahren entwickelt worden, jedoch gibt keines dieser Verfahren Sicherheit darüber, das Verhältnis zwischen dem Entwicklungsstand des Kindes und den Möglichkeiten der Schule verlässlich zu diagnostizieren. (vgl. Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V. 2002, http://leb.bildung-rp.de/info/presse/2002/2002-12-06a.htm) Das Gelingen des Schulanfangs hat für fast jedes Kind prägende Auswirkungen auf die persönlichen Einstellungen und Haltungen zur Schule und zum Lernen. Deshalb muss Schule, insbesondere die Schulanfangshase, darauf ausgerichtet sein, allen Kindern von Anfang an Chancengleichheit zu ermöglichen.
Staatliche Regelungen, wann die Schulzeit beginnen soll, sind in Deutschland nicht immer einheitlich gewesen und in verschiedenen europäischen Ländern gibt es unterschiedliche Bestimmungen.
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts sind verschiedene theoretische Vorstellungen über die Bedingungen für erfolgreiches schulisches Lernen zum Schulanfang entstanden. Die im Kapitel 4 erläuterten Begriffe – Schulreife und Schulfähigkeit – sind in den letzten fünf Jahrzehnten immer wieder neuen Auslegungen und Strömungen unterworfen gewesen. Während Schulreife die älteren Konzepte der 50er und 60er Jahre prägte, steht der Fähigkeitsbegriff hauptsächlich für die neueren Modelle. Leider werden die beiden Begriffe häufig synonym gebraucht. Das ist jedoch nicht richtig, da sich hinter ihnen unterschiedliche theoretische Vorstellungen verbergen. (vgl. Schwier 2003, S. 37) Die im Laufe der Zeit entstandenen zahlreichen Verfahren zur Ermittlung der Schulreife oder Schulfähigkeit versuchen, den jeweiligen aktuellen theoretischen Annahmen verschiedener Modelle gerecht zu werden. (vgl. Koob 1981, S. 48) Die Schuleingangsdiagnostik versucht also immer, von der gerade aktuellen Definition von Schulreife oder Schulfähigkeit auszugehen. Denn nur auf diesem Wege ist es möglich, die angestrebten Ziele umzusetzen.
Über das richtige Einschulungsalter wird in nun schon seit mehr als 50 Jahren diskutiert. Von 1964 bis 1997 galt das sogenannte ‚Hamburger Abkommen’ in der Bundesrepublik Deutschland. In dem damaligen Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) wurde festgelegt, dass Kinder, die bis zum 30.Juni sechs Jahre alt werden, zu Beginn des Schuljahres (meist im September) schulpflichtig sind. In zwei späteren Kultusministerkonferenzen (1967 und 1968) legte man mit den beiden Beschlüssen „Anrechnung der Zurückstellung vom Pflichtbesuch auf die Dauer der Schulpflicht“ und „Vorzeitige Einschulung von noch nicht schulpflichtigen Kindern“ die Möglichkeiten für eine Zurückstellung oder eine vorzeitige Einschulung fest. Das durchschnittliche Einschulungsalter war zum Ende des letzten Jahrhunderts sehr hoch, 1997 lag es zwischen 6,2 und 7,2 Jahren. (vgl. Knörzer/Grass 2000, S. 107) Die meisten anderen europäischen Länder weisen im internationalen Vergleich ein niedrigeres Einschulungsalter auf. Es gibt allerdings auch Länder, in denen Kinder später eingeschult werden als in Deutschland. Innerhalb Europas variiert das Schuleintrittsalter allgemein im Bereich von fünf und sieben Jahren.
Abbildung 1: Schuleintrittsalter in verschiedenen europäischen Ländern
Anhand der enorm schnellen Entwicklung im Kindesalter muss es aber beispielsweise beim Schulbeginn in England (von 5,0-5,4 Jahre) und Dänemark (von 7,0-8,0 Jahre) bedeutende Unterschiede geben. Denn nur wenn die Schule die Entwicklung der Kinder berücksichtigt, kann der Schulanfang und der Anfangsunterricht kindgerecht gestaltet werden.
Am 24.10.1997 hat die KMK auf die wachsende Tendenz zur späteren Einschulung reagiert und die beiden zuletzt erwähnten Beschlüsse („Empfehlungen zum Schulanfang und zur Optimierung der Arbeit zum Schulbeginn“) aufgehoben. Der neue Beschluss empfiehlt, den Stichtag vom 30.6 auf den 30.9. zu verlegen und den 31.12. als Stichtag für sogenannte ‚Kann-Kinder’ (vorzeitig eingeschulte Kinder) ganz fallen zu lassen. Damit sollen die in Deutschland zum Teil sehr hohen Zurückstellungsquoten reduziert werden und Erziehungsberechtigte sollen wieder öfter vom möglichen Antrag einer vorzeitigen Einschulung Gebrauch machen. (vgl. Rossbach 2001, S. 146f) Bisher hat allerdings kaum ein Bundesland diese Empfehlung umgesetzt, dafür wird seitdem in vielen Grundschulen die ‚Neue Schuleingangsphase’ eingerichtet. (vgl. Naegele/Haarmann 1999, S. 87)
Änderungen der rechtlichen Regelungen über die Schulpflicht in Nordrhein-Westfalen in der Fassung von 1980 wurden vom Landtag zuletzt am 15.02.2005 entworfen. In NRW werden Kinder, die bis zum 30.Juni das sechste Lebensjahr vollendet haben, am 1. August desselben Jahres fristgemäß eingeschult. Der Stichtag (31.12) für ‚Kann-Kinder’ wurde 1999 aufgehoben. Den Grundschulen werden in diesem Bundesland keine Empfehlungen für bestimmte diagnostische Verfahren vorgegebenen. Die/der Schulleiter/in ermittelt die Schulfähigkeit, d.h. sie/er prüft, ob ein Kind die für den Schulbeginn notwendigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen sowie ein ausreichend entwickeltes Sozialverhalten besitzt. Danach entscheidet die Schulleitung, ob ein Kind eingeschult oder zurückgestellt wird. Diese Entscheidung fällt die Schulleiterin oder der Schulleiter mit Hilfe eines Gutachtens, das im Rahmen einer schulärztlichen Untersuchung erstellt wird. Schulfähige Kinder werden mit ihrer Aufnahme schulpflichtig. Stellt die Schule bei der Anmeldung fest, dass ein Kind nicht über die erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse verfügt, hat sie die Möglichkeit, das Vorschulkind verpflichtend in einem Sprachförderkurs unterzubringen. Wenn Eltern bzw. Erziehungsberechtigte beantragen, ihr schulpflichtiges Kind aus gesundheitlichen Gründen für ein Jahr zurück zu stellen, müssen sie die Gründe ausführlich in einem Gespräch darlegen. Die Schulleitung trifft eine anschließende Entscheidung auch hier unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens. Wird ein Kind zurückgestellt, wirkt sich das in der Regel nicht auf die zeitliche Dauer der Schulpflicht aus. (vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder in NRW, http://sgv.im.nrw.de/gv/frei/2005/Ausg8/AGV8-1.pdf, S. 27)
Ich möchte im Folgenden klären, was Schulfähigkeit ausmacht, und wann man sie von einem Kind erwarten bzw. verlangen kann.
Die drei nachstehenden Theorien bestimmten in den vergangenen 50 Jahren hauptsächlich die Diskussion um die Entwicklung der Schulfähigkeit. Diese werde ich zunächst vorstellen, um dann die jeweilige Entwicklung der Diagnostik kurz zu beleuchten. Der Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung soll an dieser Stelle insbesondere einem besseren Verständnis der aktuellen Situation und der heutigen Sichtweise dienen.
Der Begriff Schulreife basiert auf dem Reifungskonzept des Heidelberger Professors Artur Kern (1902-1988). Der Hauptvertreter des Schulreifekonzeptes befasste sich 1951 in seinem Buch ‚Sitzenbleiberelend und Schulreife – ein psychologisch-pädagogischer Beitrag zu einer inneren Reform Grundschule’ mit der schulischen Situation seiner Zeit. (vgl. Faust-Siehl 1999b, S. 94) Nach dem Krieg erreichten auffällig viele Schüler keinen Schulabschluss. Die meisten Kinder, die damals ein Schuljahr wiederholen mussten, wurden in den ersten zwei Schuljahren nicht versetzt. Nach Kern ist die hohe Zahl der Sitzenbleiber auf eine falsch organisierte Einschulung zurückzuführen und aus pädagogischer und psychologischer Sicht nicht mehr zu vertreten. (vgl. Kern 1958, S. 1ff) Die Hauptschuld beim Versagen in den ersten beiden Schuljahren tragen also nicht die Kinder, sondern das Schulsystem. Der Grund dafür liegt in der Einschulung von Kindern vor ihrem Erreichen der nötigen Reife. Die betroffenen Kinder sind also nicht weniger begabt, lediglich ihre Reife ist verzögert. Deshalb wird von Artur Kern eine Änderung in der Einschulungspraxis gefordert.
Nach umfangreichen Untersuchungen kommt Kern zu dem Schluss, dass Kinder aufgrund ihrer mangelnden Schulreife versagen. Er unterteilt die Schulanfänger in Reifegruppen, wobei er zwischen den Vollreifen, den Mittelreifen und den Schwachreifen trennt. (vgl. ebd., S. 129)
In dem von ihm...