Geboren in was für eine Welt?
1937–1945
Hans Schlesinger mit seinen Kindern Klaus und Liane 1941
»Diese Stadt […]. Das Leben hier!
Wissen Sie denn, wie das damals war?«30
»Mein Urgroßvater war Halbbauer in der Landgemeinde Staedtel in Oberschlesien und starb im Alter von 50 Jahren an Schwindsucht. Mein Großvater lernte Bäcker, ging mangels ausreichender Beschäftigung 1898 nach Berlin, war in neun Stellungen tätig und starb während der Berliner Olympiade 1936 im Alter von 55 Jahren an Herzversagen. Er hinterließ zwei Kinder. Sein Sohn Hans, mein Vater, ein Expeditionsgehilfe, der 1933 KPD gewählt hatte, trat 1937 der NSDAP bei, avancierte zum Angestellten und fiel, als wehrpflichtiger Polizist, beim Kampf um Berlin.« »Genealogie einer berliner Arbeiterfamilie« nennt Schlesinger einen unveröffentlichten Text, in dem er sich über seine eigene Herkunft klarzuwerden sucht.31 Auf Ackerhäusler, Freigärtner, Schwarzviehhändler und Arbeiter ist er bei seinen Nachforschungen gestoßen, zu Schankwirten und Gasthausbesitzern immerhin hat es ein Familienzweig der Schlesingers gebracht, der einzige im schlesischen Ort Staedtel gebliebene und begrabene. Auch die Familie der Mutter Gertrud, einer geborenen Pieper, ist aus dem Osten nach Berlin zugezogen, ihr Vater war ein pommerscher Kutscher. Beide im Nordosten Berlins aufgewachsen, lebten Klaus Schlesingers Eltern bei seiner Geburt am 9. Januar 1937 im »Gründerzeit-Proleten-Viertel«32 Prenzlauer Berg, Dunckerstraße 4.
» Ich rede nicht über eine beliebige Straße, ich rede über die Duncker. Genaugenommen rede ich über jenen Teil der Duncker, der von der Haltestelle der Linie vier bis zum Helmholtzplatz führt und ›vordere Duncker‹ oder auch ›Vorderduncker‹ genannt wird. Die ›Hinterduncker‹ nennt man den Teil von der S-Bahnbrücke bis zur Weißenseer Spitze. Von der Ecke, an der die Duncker beginnt, bis zur Weißenseer Spitze sind es genau eins Komma vier Kilometer.«
Die Sache mit Randow33
Die »Vorderduncker« bestand, wie alle sie umgebenden Straßen, aus Mietshäusern, die vom Ende des 19. Jahrhunderts stammten. Ihren Namen trug sie seit 1892 (die »Hinterduncker« erst seit 1913, was die Bezeichnung allemal rechtfertigt) nach dem Stadtrat und Bürgermeister Hermann Carl Rudolf Duncker, der das explosionsartige Wachstum Berlins nach der deutschen Reichsgründung 1871 über zwei Jahrzehnte hinweg verwaltet und mit kommunalpolitischen Reformideen begleitet hatte. Infolge des damals einsetzenden enormen Industrialisierungs- und Urbanisierungsschubes hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf fast zwei Millionen verdoppelt. Arbeit bietend, war Berlin zum Zuwanderungsort für Menschen vor allem aus den östlichen Provinzen geworden: Die Schlesingers wie die Piepers gehörten dazu. Ganze Stadtviertel entstanden neu; eines davon war der Prenzlauer Berg.
» Unsere ganze Gegend, hatte ich in der Schule gelernt, ist um die Jahrhundertwende gebaut worden, und auf dem alten Stadtplan, der aus dem Nachlaßmeiner Oma stammt, war die Gegend um die Duncker herum noch unbebaut. Der Stadtplan ist 1883 erschienen, dem Geburtsjahr meiner Oma.«
Die Sache mit Randow34
Weil der Bedarf so groß war, entstand, lediglich unter Einhaltung grundlegender Vorschriften (wie der Mindestgröße der Höfe, damit ein Feuerwehrwagen darin wenden konnte), eine zunehmend dichte, aus Vorder-, Seiten- und Hinterhaus bestehende Blockbebauung mit oft mehreren Höfen hintereinander. Die Vorderhäuser hatten meist Läden im Erdgeschoss und größere, hellere Wohnräume als die Seitenflügel und Hinterhäuser. Trotzdem war die gängige Bezeichnung als Mietskasernen auch für sie angebracht, denn obwohl frühe Bebauungspläne eine soziale Durchmischung des Quartiers vorgesehen hatten, war es unter den Bedingungen von Wohnungsnot und Bodenspekulation doch zum Viertel der ganz kleinen Leute geworden. Uniforme, meist fünfstöckige Fassaden, vereinzelte Ladenfenster, die obligaten Wasserpumpen und spärlicher Baumbewuchs prägten das Straßenbild, und nicht zu vergessen die Kneipen: »An der Ecke Lychener sind drei Kneipen. Im Hackepeter waren früher die Nazis, in der Donau die Kommunisten und Fengler ist eine alte Sportlerkneipe.«35 Diese Umgebung und das darin vorherrschende (halb-)proletarische Milieu mit seinem Jargon und seinen Umgangsformen sollten den zwischen Helmholtzplatz, Lychener, Raumer- und Danziger Straße Aufwachsenden nachhaltig prägen.
Die Familie Schlesinger wohnte immerhin im Vorderhaus, zweite Etage, Mittelwohnung: »eine geschlossene Welt mit scharfen sozialen Markierungen: es war schon ein Unterschied, ob einer ›Parterre, Hinterhaus‹ wohnte oder ›vorn, zwei Treppen‹, auch wenn diese Wohnung aus Zimmer und Küche und Klosett eine halbe Treppe höher bestand«.36 Im Erdgeschoss gab es einen Tabakladen, dessen Betreiber, Herr Wolski, das einzige Telefon im Haus besaß. Die Eltern von Gertrud Schlesinger wohnten in der Dunckerstraße 84. Das erste Kind war bei der Heirat im Mai 1927 schon unterwegs, überlebte aber seine Geburt nur kurz; das zweite, die Tochter Liane, war sieben Jahre alt, als Klaus geboren wurde. »Wir haben in einem Zimmer gelebt – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. […] Er wollte raus aus der Klasse, das wollten alle Leute. […] Sie wollten in die nächst höhere Klasse.«37
Gertrud Schlesinger blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Dunckerstraße, um 1970
Hans Schlesinger hatte sich bereits vom Hausdiener in einer Kreuzberger Familiensattlerei zum Direktionsdiener bei Telefunken hochgearbeitet und war über das Volontariat beim Mitteleuropäischen Reisebüro Unter den Linden zur Anstellung beim Ullstein Verlag gekommen. Der Eintritt in die NSDAP im Geburtsjahr des Sohnes verhalf ihm zur Beförderung vom Expeditionsgehilfen zum Expedienten; heute hieße das »kaufmännischer Angestellter«.
Wie viel Begeisterung bzw. Mitläufertum oder auch nur sozialen Opportunismus der Vater dem Regime gegenüber damals wirklich aufbrachte, vermochte der Sohn im Nachhinein nie zu ermitteln. Das Jahr 1937 gilt als das Jahr der »Ruhe vor dem Sturm« und der »höchsten Identifikation«38 der Bevölkerung mit dem Naziregime. In den vier Jahren seit Hitlers Machtübernahme hatte sich ein deutlicher wirtschaftlicher Aufschwung bemerkbar gemacht. Die Arbeitslosenzahl war von über sechs Millionen auf weniger als eine Million gesunken. Dass dieser Erfolg nur begrenzt dem nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsprogramm geschuldet war, ist heute unumstritten. Trotzdem konnte das Regime ihn als seinen Erfolg verbuchen und daraus Nutzen ziehen – gerade auch in Berlin, wo das Gros der Arbeiterklasse lange als »rot« galt und viele wie Hans Schlesinger noch im Januar 1933 KPD gewählt hatten. Es war in diesen ersten Jahren des Faschismus weniger der Einfluss seiner Ideologie auf die Arbeiterklasse als diese durchgreifende Änderung ihres Alltagslebens, die ihre politische Nazifizierung beförderte, denn »dieses kurzfristige Glück, das wahrlich solide und kein Rausch war, änderte grundlegend Atmosphäre und Milieu, in denen sie lebte«39. Insofern kann tatsächlich auch von einer »Selbstgleichschaltung« in großen Teilen (nicht nur) der Berliner Gesellschaft gesprochen werden.40
Mit der erfolgreichen Ausrichtung der Olympischen Spiele von 1936 hatte Berlin seinen Status als Weltstadt bestätigt. Die Stimmung, die vor und mit internationalem Publikum erzeugt worden war, sollte im Folgejahr weiter geschürt und Berlin als zukünftige »Welthauptstadt« inszeniert werden. Mit der architektonischen Umsetzung dieser Pläne wurde am 30. Januar 1937 Albert Speer betraut.
Am 30. April startete die zweimonatige Propagandaschau »Gebt mir vier Jahre Zeit« auf dem Funkturmgelände, die Hitlers Erfolge feierte und sich als »Schau des eingelösten Versprechens« präsentierte.41 »Groß wie die Besucherzahl war […] auch die Begeisterung […]. Der beifällige Widerhall der Ausstellung erfasst dabei auch weite Kreise des Auslandes, das die in eine derartig monumentale Schau zusammengeballte Leistung des Nationalsozialismus ebenso bewunderte, wie die neuartigen Mittel der Ausstellungstechnik.«42 Diesen Ereignissen folgten noch die aus Ausstellung, Umzug und Festwoche bestehenden Feierlichkeiten zum siebenhundertsten Stadtjubiläum, ein Staatsbesuch Mussolinis und sportliche Großveranstaltungen wie das Internationale Stadionfest. Und die Massen waren immer dabei: »Es bedurfte bis zum Beginn des Krieges keiner ›Nachhilfe‹ durch NSDAP oder Gauleiter Goebbels mehr, wenn genügend Berliner für eine eindrucksvolle Kulisse gebraucht wurden.« Zu den Großveranstaltungen »versammelten sich jeweils mehr als zwei Millionen Menschen entlang der Paradestrecken – so viel Begeisterung hätte nicht einmal Goebbels ›inszenieren‹ können: sie war ehrlich gemeint.«43 Als weiterer Erfolgsbeweis mögen die Verkaufszahlen von Hitlers Mein Kampf angesehen werden, die 1937 bereits die Drei-Millionen-Grenze überstiegen.
Unter diesen Umständen schien man über zunehmende Repressionen Andersdenkender durch Verbot und Verfolgung aller nicht nationalsozialistischen Organisationen, über den Druck auf die Kirchen und die Verhaftung unbotmäßiger Geistlicher (wie des Pastors Niemöller), die wachsende Zahl an...