4. Auch Kleinkinder haben ein Recht auf Erziehung und Bildung
Da die ersten drei Lebensjahre sehr wichtig für die weitere Entwicklung der gesamten Persönlichkeit sind und Versäumnisse in dieser Zeit dramatische Folgen nach sich ziehen können, stellt sich die Frage, wie wir Kinder von Geburt an erfolgreich auf ihre Zukunft vorbereiten können -auf eine Zukunft mit neuen, schwierigen Herausforderungen. Eltern, besonders wenn sie berufstätig sind, können in der Regel dem großen „Lernhunger” der Kleinen nicht ausreichend gerecht werden. Wir leben in einer Zeit, in der sich unsere Lebensverhältnisse stark verändern. Da wird es zunehmend wichtiger, dass Eltern bei der anspruchsvollen Aufgabe der Erziehung (die immer auch Bildung beinhaltet) von Krabbelstuben bzw. Kindertagesstätten unterstützt werden. Moderne Forschungsergebnisse belegen, wie lernfähig und lernwillig Kinder unter drei Jahren schon sind. Gleichzeitig erschrecken uns Ergebnisse unterschiedlicher Studien, die uns dokumentieren, dass bis zu einem Drittel der Einschulungskinder Sprachprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und Bewegungsmängel zeigen. Viele Kinder können sich schlecht konzentrieren und immer mehr Kinder nehmen das starke Medikament Ritalin, weil sie als hyperaktiv gelten. Immer weniger Schüler und Schülerinnen verfügen über eine ausreichende Lese- und Rechtschreibkompetenz. Und immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen erhöhten Stress, Schlafschwierigkeiten und Depressionen. Manche Kleinkinder haben schon ein Burn-out-Syndrom, weil man ihnen keine Zeit lässt, die Welt in Ruhe und in ihrem Rhythmus zu entdecken. Sicher sind die heutigen Kinder nicht „schlechter” geworden. Vielmehr müssen wir etwas an den Bedingungen, in denen Kinder groß werden, verändern.
4.1 Bildungspolitische Forderungen
Erst allmählich werden neue Forderungen laut: So fordert z. B. die OMEP (Weltorganisation für frühkindliche Erziehung) in ihren Leitlinien von 1999 für das 21. Jahrhundert u. a. die Verbesserung der Bildung und Erziehung von Kindern unter 3 Jahren.1
„Die Kleinsten sind die Größten in ihrer Neugier und Wissbegierde. Sie brauchen dringend die besten Angebote von Anfang an, ergänzend zur Familie.”
Immerhin werden diese Forderungen inzwischen auch verstärkt in Bildungsplänen aufgegriffen. Ein positives Beispiel dafür sind die Vereinbarungen zum Orientierungsplan für die Erziehung und Bildung in Tageseinrichtungen für Baden-Württemberg (Kultusministerium Stuttgart 2004):
„In der gegenwärtigen Bildungsdiskussion sind auch vor dem Hintergrund internationaler Studien die Bedeutung der Bildung von Kindern in den frühen Jahren und der Bildungsauftrag in Tagesstätten für Kinder in den Blickpunkt gesellschaftlichen Interesses gerückt. Nachhaltige Reformen müssen in der frühen Kindheit ansetzen. Deshalb haben sich das Kultusministerium und das Sozialministerium sowie die kommunalen Landesverbände, die kirchlichen und sonstigen Trägerverbände in Baden-Württemberg darauf verständigt, gemeinsam für die Stärkung des Bildungsortes Kindertagesstätte einzutreten und einen Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen sowie Umsetzungsschritte mit einem Zeitplan zu entwickeln.”
Ferner heißt es, sollen die Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes in seiner Peron, die ganzheitliche und entwicklungsangemessene Begleitung von Kindern in Kindertagesstätten realisiert werden, wobei die verschiedenen Bildungsbereiche nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern sich gegenseitig durchdringen sollen. Auch durch mehr Kooperation zwischen Krabbelstuben, Kindertagesstätten, Schulen und den Eltern soll versucht werden, eine für das Kind kontinuierliche Bildungsbiografie zu fördern.
- die Sicht des Kindes und das Verständnis seiner Entwicklung;
- die Gestaltung einer vorbereiteten Umgebung;
- die einfühlsame Haltung der Erzieherin;
- den Umgang mit Belohnung und Strafe;
- die kindliche Motivation von Innen heraus (entsprechend des inneren Bauplans, der natürlichen Neugierde des Kindes usw.);
- die Zielsetzung: Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Verantwortung für sich selbst, für die anderen und für die Umwelt;
- die Bildungsmatrix: Sinnesmaterial, Bewegungsübungen, lebenspraktische Übungen, Sprachmaterial, Mathematikmaterial;
- Sinn und Werte: Zum Beispiel die Rücksichtnahme während der Freiarbeit, Material ist jeweils nur einmal vorhanden usw., sowie Stilleübungen, Rituale und religiöser Erziehung;
- die umfangreichen Aufgaben einer Erzieherin: Anregen, Begleiten, Beobachten der Kinder, Dokumentation der kindlichen Entwicklung, Erstellung individueller Förderpläne und gezielte Förderung von Migrantenkindern. Ferner: Beratung der Eltern und regelmäßiger Austausch, auch im Team.
Diese Forderungen in den Kindertagesstätten und Krabbelstuben umzusetzen wird nicht einfach sein. Leider beziehen sich die konkreten Vorschläge mancher Orientierungspläne bisher noch zu stark auf die Vorbereitung zur Schulreife und berücksichtigen zu wenig die Entwicklung der gesamten kindlichen Persönlichkeit. Wir brauchen dringend überzeugende und dennoch praktikable pädagogische Ideen. Sinnvolle Anregungen hierfür bietet die Montessori-Methode, die sich in ihren Grundideen auch in Krabbelstuben, Kindertagesstätten oder Krippen anwenden lässt.
4.2 Frühkindliche Förderung in Krabbelstuben und Kitas: Vorteile statt Vorurteile
Besonders in Westdeutschland besteht noch ein grundlegendes Vorurteil gegenüber frühkindlicher Förderung und Fremdbetreuung, das erst einmal durch bessere Informationen und überzeugende Argumente abgebaut werden müsste. Denn bis heute sind viele Eltern und Erzieherinnen - wie auch Menschen ohne Kinder - skeptisch gegenüber frühkindlicher Förderung und Fremdbetreuung. Sie meinen, ein Kind unter drei Jahren gehöre zur Mutter, um dem Kleinkind eine sichere Bindung zu garantieren und mehr Bindungen vertrüge ein kleines Kind noch nicht. Allerdings, so gab schon Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie zu bedenken, sind in der Realität die Beziehungen zu Müttern/Vätern nicht einfach, sodass die Bindung zu ihnen nicht überbetont werden sollte. Vielmehr könnten weitere Bezugspersonen unsichere Bindungen zwischen Mutter und Kind entlasten.
- Eine Krabbelstube bzw. Kindertagesstätte ist speziell auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet. Hier können sich die Kinder relativ frei und gefahrlos bewegen, was ihrem Bewegungs- und Tatendrang entgegenkommt. Zu Hause hingegen haben Eltern nur begrenzt die Möglichkeit, die Kinderzimmer derart zu gestalten, dass ein Kind klettern, auf Matratzen hüpfen, rutschen und dabei laut sein darf. Eltern, die zu Hause noch so manche andere Aufgaben erledigen müssen, haben nur begrenzt die „Nerven” für das Herumtoben ihrer Kinder. In Krabbelstuben und Kitas gibt es meistens auch wunderbar gestaltete Gärten, mit Kinderrutschen, Klettermöglichkeiten, Schubkarren und vielem mehr. Das kann das Elternhaus nur selten bieten und in manchen Stadtwohnungen gibt es gar keine Möglichkeit, im Freien zu Spielen.
- In einer Krabbelstube bzw. Kindertagesstätte können geeignete Materialien gekauft und angeboten werden, die alle Wahrnehmungskanäle eines Kindes „schulen”. Solche Vielfalt ist zu Hause nicht immer möglich. Und die Förderung der kindlichen Wahrnehmung schon im frühen Kindesalter fördert die kindliche Intelligenz und baut Wahrnehmungsprobleme ab, unter denen z. B. auch so genannte ADS-Kinder leiden.
- Ebenso erleben Kinder in Einrichtungen eine Vielfalt an Sprachangeboten, Büchern und Gesprächsmöglichkeiten, die ihre Sprachentwicklung insgesamt fördern. Wer gut sprechen und lautieren lernt, lernt z. B. auch besser schreiben. Und in einer redseligen Umgebung erweitert sich der Wortschatz eines Kindes deutlich. Das ist u. a. auch für Kinder aus nicht deutschsprachigen Familien hilfreich (mehr Chancengleichheit).
- Da in Krabbelstuben Kinder aus unterschiedlichen Kulturkreisen zusammenkommen, wird auch die multikulturelle Erziehung gefördert.
- In einer Gruppe von gleichaltrigen Kindern gibt es viele Möglichkeiten für soziale und emotionale Erfahrungen. In heutigen Kleinfamilien hingegen sitzen viele Kinder mehr vor dem Fernseher, als dass sie interaktiv sind. In einer Kindergruppe lernen sie beispielsweise zu warten, zu teilen und viele weitere soziale Kompetenzen, die durch die Steuerung eigener Gefühle möglich werden. Vor allem Einzelkinder haben diese Lernmöglichkeiten zu Hause deutlich seltener.
- Erzieherinnen können sich als „Profis” anders abgrenzen und geduldiger sein, als es für Mütter und Väter der Fall ist. Sie gehen ja nach ein paar Stunden nach Hause und geben die Kinder wieder ab. Sie waschen auch nicht die dreckigen Hosen und Jacken, weshalb es sie weniger stören wird, wenn ein Kind in die Pfütze stapft oder im Matsch spielt.
- Eltern haben oft den gut gemeinten Vorsatz: „Ich will doch nur dein Bestes”. Für manche Eltern heißt das,...