1 Kleinkinderturnen ganz groß
Philipp ist vier Jahre alt und geht schon seit einiger Zeit zum Kleinkinderturnen in den nahe gelegenen Turnverein. Er ist eines von 413.000 Kindern bis sieben Jahren im Deutschen Turner-Bund, die Woche für Woche mit großer Begeisterung in die Turnhalle stiefeln, um dort gemeinsam mit anderen Jungen und Mädchen fröhlich und ungezwungen Bewegungserfahrungen zu sammeln. Er hat Glück gehabt, denn die Übungsleiterin seiner Gruppe ist mit dem ganzen Herzen bei der Sache und versucht immer wieder aufs Neue, mit fachlicher und pädagogischer Kompetenz für die Kinder ein Angebot zu machen, das sie gezielt in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt.
Wenn Kleinkinderturnen den Kindern Spaß machen soll, sie sich wohl fühlen und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden sollen, so ist es wichtig zu wissen, wie ein Kind denkt und fühlt, wie es Informationen aufnehmen und verarbeiten kann und welche elementaren Bedürfnisse zu berücksichtigen sind, um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Ein Kleinkind ist vom Aufwachen bis zum Schlafengehen fast ständig in Bewegung; es tobt herum, klettert, hüpft und rennt, es entdeckt dabei pausenlos neue und interessante Dinge, die für Erwachsene oft selbstverständlich sind. Andererseits kann es sich auch plötzlich zurückziehen, sich in einer Höhle verkriechen oder die Nähe eines vertrauten Erwachsenen suchen, auf dessen Schoß klettern und sich anschmiegen. Dies ist seine spezifische Art und Weise, die Dinge seiner Umwelt zu entdecken, zu erschließen und daraus wichtige Erkenntnisse zu ziehen. Jeder Schritt weiter nach vorn bringt für das Kind die Erweiterung seines Wissens, der Kontakt mit neuen Materialien oder Menschen ermöglicht ihm neue Erfahrungen und treibt seine Entwicklung voran.
„Dabei ist das ganze Kind beteiligt, denn die Entwicklung des Kindes ist ein ganzheitlicher Prozeß, an dem Fühlen und Denken, Wahrnehmen und Sichbewegen beteiligt sind.”
(Zimmer, 1989)
Kinder lernen anders
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie müssen und wollen sich die Beschaffenheit der Welt erst durch eigenes Erkunden und Probieren aneignen. Es nützt im Vorschulalter wenig, wenn man den Kindern die Welt erklärt, sie müssen sie durch Bewegung und Wahrnehmung, durch konkrete Tätigkeit selbst erfahren.
Der Schweizer Entwicklungspsychologe Piaget sieht die Art und Weise, in der sich das Kind von seiner Geburt an mit seiner Umwelt auseinander setzt, als Interaktionsprozess. Dieser Prozess vollzieht sich auf zwei unterschiedlichen Wegen:
Zum einen passt das Kind seine bisher gemachten Erfahrungen neuen Situationen an (Assimilation). Dies geschieht vor allem in offenen Bewegungssituationen, wo das Kind Gelegenheit hat, vertraute Denk- und Handlungsmuster in vielfältigen Situationen anzuwenden, eigene Ideen zu erproben und selbst gestellte Probleme zu bewältigen.
Andererseits passt das Kind die Gegebenheiten der Umwelt seinen bisherigen Erfahrungen an (Akkommodation). In gelenkten, strukturierten Lernsituationen wird die Übertragung von schon Gekonntem auf neue Situationen in Gang gesetzt und dem Kind gezielt Hilfe zur Erweiterung des Bewegungsrepertoires gegeben. Die Auseinandersetzung des Kindes mit der Beschaffenheit der Welt pendelt zwischen den Vorgängen der Assimilation und Akkommodation hin und her. Nichtgelingen und Unstimmigkeiten fordern es immer wieder zu neuer, besserer Abstimmung und Anpassung heraus.
Kindern im Vorschulalter unterlaufen entwicklungsbedingt Denkfehler. So schreiben sie Gegenständen menschliche Eigenschaften zu oder glauben, Ereignisse durch eigene, damit nicht in Zusammenhang stehende Handlungen beeinflussen zu können (magisches Denken). Auch das Unterhalten mit imaginären Wesen, z. B. einem Tiger, der herumkommandiert wird und der Dinge tun muss, vor dem das Kind Angst hat, ist entwicklungsbedingt und hat die Funktion, emotionale Konflikte zu verarbeiten. Die Erwachsenen sollten also dem Kind diese Figuren nicht ausreden, sondern sie so einsetzen, dass sie über Ängste hinweghelfen.
Kinder brauchen verständnisvolle Erwachsene
Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung brauchen die Kinder Erwachsene, die …
• auf ihre Bewegungsbedürfnisse eingehen und ihnen Bewegungsgelegenheiten schaffen.
• sie vor körperlichen Gefahren und seelischen Verletzungen schützen.
• ihnen uneingeschränktes Verständnis entgegenbringen.
• sie um ihrer selbst willen annehmen und lieben.
• die Fähigkeiten und Fertigkeiten des einzelnen Kindes berücksichtigen.
• ihnen helfen, ihre Eigenschaften, Fertigkeiten und Gefühle für sich selbst akzeptieren zu lernen.
Zumindest einige, wenn nicht sogar alle Aspekte treffen auf die Übungsleiterinnen im Bereich des Kleinkinderturnens zu:
Kinder brauchen Möglichkeiten, um ihr Bewegungsbedürfnis ausleben zu können, eine anregende Umgebung, in der sie selbst Bewegungen ausprobieren und Spiele erfinden können, aber auch Gelegenheiten, um sich zurückziehen zu können. Selbstverständlich dürfen sie auch Fehler machen und Irrwege gehen, denn wenn ihnen kein Experimentierfeld und kein Entfaltungsspielraum eingeräumt wird, werden sie es irgendwann nicht mehr wagen, neue Situationen selbst zu erkunden.
Erfolgserlebnisse tragen dazu bei, dass sich Kinder mit mehr Freude und häufiger bewegen, folglich mehr Bewegungssicherheit entwickeln und daraus Selbstsicherheit und Selbstbe-wusstsein schöpfen können, sie helfen ihnen bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit.
Umgekehrt führen Bewegungsunsicherheit und das damit einhergehende, eingeschränkte Selbstwertgefühl zur sozialen Ausgrenzung der Kinder unter den Spielkameraden. Wer nicht richtig mitspielen kann, zu ungeschickt oder zu langsam ist, der wird häufig vom gemeinsamen Spielgeschehen ausgeschlossen und kann zwangsläufig seine Defizite nicht aufarbeiten. Dadurch wird der Graben zwischen bewegungssicheren und -unsicheren Kindern immer breiter und das ungeschickte Kind durch mangelnde Übungsmöglichkeiten noch ungeschickter.
Dem Bedürfnis der Kinder nach Schutz und Sicherheit sollte nicht nur durch die Absicherung der Geräte und dem Vorbeugen gegen Verletzungen, sondern auch durch Rückzugsmöglichkeiten (Höhlen) und einem festen, immer wiederkehrenden Rahmen (Anfangskreis, Abschlusslied, …) Rechnung getragen werden. Ein Orientierungsrahmen im Ablauf einer Turnstunde hilft ihnen, sich sowohl räumlich als auch zeitlich in der Turnhalle zurechtzufinden. Auch eine angenehme Gruppenatmosphäre, die von gegenseitigem Vertrauen, Toleranz und Ehrlichkeit geprägt ist, trägt dazu bei, dass Kinder sich sicher fühlen und Selbstvertrauen entwickeln.
Vielfältige Bewegungsmöglichkeiten und -gelegenheiten sind also entscheidend, damit Kinder ihr Bewegungsbedürfnis befriedigen können und so eine gesunde körperliche, geistige, emotionale und soziale Entwicklung ermöglicht wird. Wo aber finden die Kinder den Freiraum, in dem sie ungehindert toben, klettern, balancieren, kullern und experimentieren können?
Bewegungsräume? – Mangelware!
In unseren Städten werden die Bewegungsräume immer knapper, die Lobby für Kinder macht fast pausenlos Urlaub, denn Parkplätze und Straßen haben Vorrang vor Spielräumen und Spielplätzen. In den meisten Wohngegenden sind Bewegungsmöglichkeiten Mangelware, die Bewegungsräume werden immer weiter beschnitten.
Kleine, lärmempfindliche Wohnungen und flimmernde Mattscheiben, vor denen schon die Kleinsten, um sie ruhig zu halten oder aus Zeitmangel der Eltern geparkt werden, beschränken die spontane Lust auf Bewegung, zu lebendigem Spielen und Lernen auf ein Minimum.
Gibt es einen Ausweg?
Ja, denn in den Turnvereinen gibt es schon für die Allerkleinsten das Angebot, zusammen mit ihren Eltern in Eltern-Kind-Turngruppen Bewegung und Spiel miteinander zu erleben.
Hier wird nicht nur Sport getrieben, sondern es findet auch die erste Auseinandersetzung mit dem organisierten Sport statt. Unter fachkundiger Anleitung erfährt man Sicherheit und Geborgenheit in einer größeren Gruppe und erhält darüber hinaus Anregungen für Bewegung, Sport und Spiel zu Hause und in der Freizeit. An der Hand von Mutter oder Vater ist es für die Kleinen nicht mehr so schwer, mit all den vielen fremden Eltern und Kindern erste Kontakte zu knüpfen.
Mit zunehmender Vertrautheit in der Gruppe lockert sich allmählich die enge Bindung an die Eltern und es entwickelt sich ein vertrauensvolles Miteinander. Eltern und Kinder, die es genießen, Zeit füreinander und für gemeinsame Bewegungserlebnisse zu haben, werden diese Gruppe wohl bis zur Einschulung der Kinder nicht verlassen. Für die anderen Jungen und Mädchen, die gern schon mit vier Jahren auf eigenen Füßen...