Der Befund
Ist die Is-it-too-late-Frage auch mit Blick auf den Klimawandel verfrüht? Eine Vielzahl von Gründen spricht dafür, dass die Warnungen vor einer »Klimakatastrophe« ernster zu nehmen sind als die Warnungen vor den »Grenzen des Wachstums« 40 Jahre zuvor. Bevölkerung, Wirtschaftstätigkeit und Naturverbrauch haben in diesen 40 Jahren weiterhin stark zugenommen, sind allerdings nur selten an unverrückbare Grenzen gestoßen. Einiges spricht dafür, dass die Grenzen des Wachstums in Bezug auf die Klimaeffekte weniger flexibel sind. Entsprechend muss die Bewältigung des Klimawandels für die Weltgemeinschaft als eine der dringlichsten ethischen und politischen Herausforderungen gelten. Dies wird deutlich, wenn man sich fünf Annahmen klarmacht, die je für sich von nur wenigen bestritten werden, allerdings erst in der Zusammenschau die Dimensionen des Klimaproblems erkennen lassen:
1. Die Zunahme der mittleren globalen Temperaturen ist ein Faktum, und es ist damit zu rechnen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Die zunehmende Erwärmung der Atmosphäre ist seit einigen Jahren auch ohne klimatheoretische Kenntnisse beobachtbar: Die Gletscher in den Hochgebirgen schmelzen unaufhaltsam ab, ebenso das Eis auf dem grönländischen Festland. Die klimatischen Verhältnisse in Deutschland ähneln sich denen der Mittelmeerländer an, die Sommertemperaturen erreichen Rekordhöhen. Global liegen zwischen 1997 und 2007 die bisher wärmsten zehn Jahre seit der Erfindung des Thermometers. Die Folge ist ein allmähliches Ansteigen des Meeresspiegels, hervorgerufen sowohl durch das Schmelzen von Festlandeis wie durch Erwärmung. Während der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert insgesamt um 17 Zentimeter stieg, steigt er gegenwärtig um drei Zentimeter alle zehn Jahre. Das International Panel on Climate Change (IPCC), der Weltklimarat, rechnet bis 2100 mit einen Anstieg von einem halben bis einem Meter. Niedrig gelegene Inseln wie Tuvalu mit 11 000 Bewohnern, deren höchster Punkt nur viereinhalb Meter über dem Meeresspiegel liegt, werden voraussichtlich innerhalb von wenigen Jahrzehnten unbewohnbar sein. Bangladesch wird durch die Erhöhung des Wasserspiegels ein Zehntel seines bewohnbaren Landes verlieren.
2. Es ist abzusehen, dass die Klimaveränderungen überwiegend unerwünschte Veränderungen in Vegetation, Ernährungslage und Flächennutzung zur Folge haben: Verschiebung von Klimazonen, Verarmung von Ökosystemen, Verlust an Lebensräumen und weitere Verluste an Biodiversität. Betroffen von den Auswirkungen der Temperaturerhöhung werden vor allem Länder der südlichen Hemisphäre sein, die angesichts ihrer weitgehenden landwirtschaftlichen Basis sehr viel stärker von klimatischen Faktoren abhängen als die Industrieländer. Hitzewellen, Trockenperioden und dadurch ausgelöste Flächenbrände werden die Landwirtschaft über das gegenwärtige Maß hinaus erschweren und die Erträge gefährden.
Die Folgen werden – auch vor dem Hintergrund einer weiterhin, obwohl mit sinkender Rate wachsenden Bevölkerung – in vielen Ländern der Dritten Welt eine Verschärfung der Armutssituation und verstärkte Migrationsbewegungen in Richtung weniger belasteter Regionen sein. Der IPCC geht in seinem vierten Bewertungsbericht von 2014 davon aus, dass auf verschiedenen Stufen der Temperaturerhöhung mit zunehmend gravierenden Folgen zu rechnen ist:
+ 1 °C: zunehmende Wasserknappheiten, zunehmende Küstenüberflutungen, zunehmendes Aussterben von Amphibienarten
+ 2 °C: zusätzliche Gefährdung des Überlebens von 20–30 Prozent der biologischen Arten, erhöhte Krankheitsgefahr
+ 3 °C: zusätzlich abnehmende Ernteerträge, Erhöhung des Meeresspiegels um mehrere Meter, Engpässe bei der medizinischen Versorgung
+ 5 °C: zusätzlich Gefährdung des globalen Artenbestands, 30 Prozent Verlust an küstennahen Feuchtgebieten, Überschwemmungen, größere Veränderungen der Wasserströmungen in den Ozeanen.
Noch weitreichender wären die Folgen einer tiefgreifenden Veränderung von Meeresströmungen im Gefolge der Erwärmung der Ozeane. Eine Richtungsumkehr des Golfstroms etwa, wie sie in der Erdgeschichte bereits mehrfach eingetreten ist, würde Nordeuropa empfindlich abkühlen lassen.
3. Mehrere unabhängige Klimamodelle legen nahe, dass mit dem Erreichen einer Erhöhung der mittleren Temperatur um 2 °C im Verhältnis zum Jahr 1990 ein Umkehrpunkt (tipping point) erreicht ist, jenseits dessen die weiteren Verläufe der klimatischen Parameter unkalkulierbar werden und Katastrophen nicht auszuschließen sind. Einige Modelle gehen sogar davon aus, dass bereits eine Erwärmung von 1,5 °C nicht mehr beherrschbare positive Rückkopplungsprozesse (also Prozesse, die sich verstärkend auf sich selbst auswirken, wie das beispielsweise bei einer Lawine der Fall ist) auslösen könnte. Die Klimaentwicklung wird zu einem »planetarischen Roulette«. Durch positive Rückkopplungsschleifen könnten die Temperaturen rapide nach oben schnellen. Ein aktuelles Beispiel für eine positive Rückkopplung ist das Abschmelzen des grönländischen und westantarktischen Festlandeises. Ein vollständiges Abschmelzen würde die Albedo, das heißt das Ausmaß, in dem das Eis die Sonnenstrahlung reflektiert, absenken und dadurch eine Spirale beschleunigter Erwärmung in Gang setzen. Ein anderes ist die großflächige Freisetzung von Methan durch das Tauen der Permafrostböden in Sibirien und anderen arktisnahen Regionen. Methan wirkt noch stärker als Treibhausgas als Kohlendioxid, verbleibt allerdings sehr viel kürzer in der Atmosphäre. Es wandelt sich innerhalb von ungefähr zwölf Jahren in Kohlendioxid um. Bei der Bewertung dieser Entwicklung sollte man sich vor Augen halten, dass die durchschnittlichen globalen Temperaturen während der letzten Eiszeit vor ungefähr 20 000 Jahren nur 5 °C geringer waren als heute.
Ein zusätzlicher Faktor, der ein Überschreiten der 2 °C-Grenze zu einem globalen Vabanquespiel macht, ist die wahrscheinliche Irreversibilität vieler der induzierten Veränderungen. Nicht nur das Klimasystem bewegt sich wie ein Großtanker, der sich, wenn er auf falschem Kurs liegt, nur schwer und mit großen Zeitverzögerungen umsteuern lässt, sondern auch viele der Wirkungsdimensionen des Klimawandels: die Zerstörung von Lebensraum, der Verlust an Biodiversität, die Überflutungen infolge Meeresspiegelanstiegs.
4. Die Quelle der Temperaturerhöhung ist in der Hauptsache der Gehalt von Kohlendioxid in der Atmosphäre. Dass zwischen Kohlendioxidgehalt und Temperatur eine Korrelation besteht, ist überzeugend belegt. Je größer der Gehalt an Kohlendioxid in der Atmosphäre, desto geringer die Eisvorkommen. Auf der Venus, deren Atmosphäre zu 96 Prozent aus Kohlendioxid besteht, beträgt die mittlere Temperatur an der Oberfläche 460 °C. Der Treibhauseffekt ist insofern eine Ermöglichungsbedingung des Lebens. Ohne den natürlichen Treibhauseffekt betrüge die mittlere Temperatur auf der Erdoberfläche – 18 °C statt der faktischen + 15 °C. Bedrohlich wird er lediglich durch das Übermaß.
Für eine Korrelation von Kohlendioxidgehalt und Temperatur sprechen darüber hinaus klimahistorische Befunde, die zeigen, wie das Klima auf größere Freisetzungen von Kohlenstoff reagiert. In der Erdgeschichte entsprach der Wechsel zwischen Warm- und Eiszeiten durchweg dem Wechsel im Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre. Bereits vor 55 Millionen Jahren fiel auf der Erde eine hohe Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre mit einem Höhepunkt der Erwärmung zusammen. Erst mit der industriellen Revolution und dann insbesondere mit der exponentiellen Zunahme der Nutzung fossiler Brennstoffe zur Energieerzeugung in den letzten 30 Jahren hat der Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre dramatisch zugenommen. Während die Konzentration des Kohlendioxids vor der industriellen Revolution über ungefähr 10 000 Jahre konstant bei ungefähr 275 ppm (parts per million) lag, liegt sie gegenwärtig bei 390 ppm, hat also um mehr als 40 Prozent zugenommen. Nach Angaben des IPCC war der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre seit 650 000 Jahren nicht so hoch wie heute. Allerdings lässt sich der Wert für das Ausmaß, in dem das Klima auf den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre reagiert, auf der Grundlage der historischen Daten nur schätzen, so dass Prognosen nur begrenzt möglich sind. Die erste Einschätzung durch den schwedischen Physiker Svante Arrhenius im Jahr 1896 ging von 5 bis 6 °C bei Verdoppelung des Kohlendioxidgehalts aus. Die gegenwärtigen Einschätzungen reichen von 3 bis 4,5 °C. Der Klimaeffekt ist dabei nicht der einzige Effekt, der mit der Zunahme an Kohlendioxid einhergeht. Ein weiterer messbarer Effekt ist der »Sprudeleffekt« in den Ozeanen, also die Anreicherung des Meerwassers...