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König von Deutschland

AutorHannes Eyber, Rio Reiser
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783462316179
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der König ist tot - es lebe der König! Rio Reiser hat deutsche Musikgeschichte geschrieben. Als Sänger und Texter der Band Ton Steine Scherben lieferte er in den Siebzigern mit Liedern wie »Keine Macht für niemand« oder »Macht kaputt, was euch kaputt macht« den Soundtrack zum Aufbruch einer ganzen Generation. In den Achtzigern wurde er als Solokünstler mit Hits wie »König von Deutschland« und »Junimond« schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Von Reinhard Mey über Nena bis zu Jan Delay, Ferris MC oder Clueso - immer neue Musiker interpretieren seine Lieder und lassen sich inspirieren von der Poesie seiner Texte, von der Zärtlichkeit, der Kraft und der Kreativität seiner Sprachkunst. In seiner Autobiografie erzählt er von seinen Konflikten als politischer Mensch, als Künstler und als Liebender. Eine mitreißende, befreiende und frische Lebensgeschichte - mit einem aktuellen Vorwort von Rocko Schamoni.

Rio Reiser, geboren 1950 als Ralph Möbius, war Mitgründer und Frontmann von Ton Steine Scherben. Nach Auflösung der Band war er als Solokünstler erfolgreich. Am 20. August 1996 starb Rio Reiser im Alter von 46 Jahren auf seinem Bauernhof in Fresenhagen.

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Leseprobe

EINS


Vom Stamme der Siemensianer – Das versunkene tausendjährige Reich im Wald – Das nackte Klangtier – Cola, Kaugummi und Kartoffelsalat – Mein Bruder hat Komplexe, deiner nich! – Sigurd wurde beschlagnahmt – Ist ›Mädchen‹ ein Schimpfwort? – Aber mindestens Dirigent! – Ein Goggomobil verwandelt sich – Von Jazzkellern und anderen Brutstätten – Die Polizei ist immer dabei – Radio Luxemburg hilft – Wer keine Griffe kaufen kann, muss hören – Schanghait in Offenbach – Liverpool am Main – Eine Welturaufführung wird geplant – Zwei geben sich die Hand

1


Zwischen Salzburg und Rosenheim, in der Nähe des Chiemsees, befand sich bis 1945 das größte und schönst gelegene Giftgaslager Europas. Nach dem Krieg wurde es von Siemens übernommen und Traunreut getauft. In den dazugehörigen Kasernen wohnten wir. Kilometerlange Häuserblocks mit Spitzgiebeln. Das versunkene Dritte Reich mitten im Wald. Dort bin ich aufgewachsen.

Mein Vater war Siemensianer. Er hatte bei Siemens in Berlin Werkzeugmacher gelernt, wurde gefördert, ging auf die Abendschule und machte seinen Ingenieur. Bei Kriegsende entließ Siemens einen Großteil der Belegschaft. Mit dem Koreaboom Anfang der 50er-Jahre wurde mein Vater wieder eingestellt und in Traunreut als Verpackungsingenieur eingesetzt.

Zu jener Zeit wohnten in Traunreut nur Berliner, außerdem ein paar Schlesier und Sudeten. Wer die Siedlung verließ, um beim Bauern Milch zu holen, musste sich bayerisch verständigen. Mein erster zusammenhängender Satz soll »a Milli möcht i hom« gewesen sein. Wir hatten ein Motorrad mit Beiwagen. Jedes schöne Wochenende ging’s raus. Mein Vater fuhr; hinter ihm saß Peter, der Älteste, zehn Jahre alt, im Beiwagen Gert, 8 Jahre, meine Mutter und ich. Wir machten Ausflüge an den Chiemsee, nach Österreich, das lag ja um die Ecke, zu Mozart nach Salzburg, ins Salzkammergut oder in die Alpen.

 

Eigentlich war ich ein Einzelgänger. Deshalb sorgte meine Mutter dafür, dass ich mit den Nachbarskindern spiele. Mit denen konnte ich aber nichts anfangen. Also wurde ich in den Kindergarten geschickt, gezogen, gezerrt. »Was hast du denn, die ist doch so nett, die Tante Müller, was hast du denn gegen die …?« – »Der muss doch mal unter Kinder, der Junge …!« In Zweierreihen aufstellen, spazieren gehen, Hand in Hand durch die Landschaft latschen, jeden Tag Mittagsschlaf (immer zur selben Zeit) und andere unverständliche Unternehmungen. Das mochte ich nicht. Irgendwann haben meine Eltern nachgegeben und mich wieder rausgeholt, weil ich so gemeckert und gequengelt hab.

Zu Hause habe ich mich nie gelangweilt. Nie. Ich saß nicht rum und fragte, was machen wir jetzt oder wo bleiben meine Freunde. Ich hab gemalt, rumgesponnen, mir Sachen ausgedacht und die gespielt. Knöpfe konnten für mich alles Mögliche sein: Autos, Tiere, Soldaten. Und der alte Holzbaukasten. Mit dem hab ich am meisten gemacht. Häuser gebaut, Türme gebaut, einen Klotz rausgezogen und alles wieder einstürzen lassen. Viel gebaut habe ich, auch gerne draußen gegraben. Das konnte ich allein. Mit Partnern war’s immer schwierig, weil man sich nicht einigen konnte, was was ist. Der Teppich im Zimmer war für mich immer Land, was nicht Teppich war, war Fluss oder Meer. Deswegen gab’s oft Hickhack. Die anderen wollten, dass der Teppich Wasser sein sollte, weil er grün war, aber der Teppich war doch höher, also musste er Land sein. Land ist doch auch grün. Es ist schwer, wenn man Auto fahren will, sich aber über so wichtige Dinge nicht einig wird. Wer setzt sich da durch? Keiner.

 

Bei uns lief das Radio den ganzen Tag, und alles dudelte durcheinander. Bayerische Volksmusik, aktuelle Schlager, die wir zu Hause nachsangen, Mozart, Beethoven, Rossini, Emmerich Kálmán. Nicht alles hat uns gefallen. Aber wenn was gefiel, war’s uns egal, ob es von Caterina Valente, den Fischbachauer Dirndln oder Erika Köth kam. Und einmal im Monat gab’s »Die Insulaner«, das zentrale Frontstadtkabarett! Das war für alle Berliner ganz wichtig, landesweit.

 

Wenn das Licht aus war und wir in unserem dreistöckigen Bett lagen, erzählte Peter, in der obersten Etage, wilde Gangster- und Gruselgeschichten, oder er rezitierte. Mit Vorliebe den Marc Anton aus Shakespeares »Julius Caesar«. Den Marc Anton gab’s so oft, dass ich die Leichenrede heute noch auswendig kann. Gert und ich waren ein gutes Publikum. Einmal, als die Eltern nicht da waren, kam er so in Fahrt, dass das ganze Etagenbett zu Bruch ging.

Unter Peters Leitung wurde sich auch zu jeder Gelegenheit verkleidet. Wir waren Musketiere, römische Schwertkämpfer oder Seeräuber. Unser Zimmer verwandelte sich dann in die Arena von Verona oder in das Schiff des Piraten Errol Flynn. Zu jeder Festlichkeit wurde die ganze Wohnung umgeschmückt. Das Wohnzimmer war dann Hafenbar, und Vater musste fotografieren. Familienfotos machen!, musste er immer wieder ermahnt werden. Ein Foto aus dieser Zeit: ich auf dem Nachttopf, mit meinem Lieblingsbuch »Der Kampf um Afrika«. Viele Bilder, jede Menge Schwarz-Weiß-Fotos über Afrika. Das Buch hab ich heute noch.

 

Zum sechzigsten Geburtstag meiner Oma fuhren wir im Sommer ’54 nach Berlin. Über die Zonengrenze bei Töpen-Juchhöh!! Ich war gespannt auf diese lustige Stadt: Töpen – Juchhee!! Da sah ich die kaputte Saalebrücke. Krieg. Trümmer. Töpen-Juchhöh.

Natürlich wurde oft vom Krieg erzählt. Mein Vater war aber nie Soldat gewesen, weil er von Siemens, weiß der Geier warum, u.k. eingestuft worden war. Unabkömmlich! Sonst hätte ich wahrscheinlich ganz andere Geschichten vom Krieg gehört. Er war an der Heimatfront. Luftschutzwart. Es gibt viele Fotos von den Bombenangriffen auf Berlin mitten in der Nacht.

Das Klavier im Wohnzimmer hatte Brandspuren im Lack. »Warum sieht denn das so komisch aus, Mutti?« – »Da ist eine Brandbombe ins Haus gefallen.« Fand ich spannend, eine Bombe, die einfach so durchs Haus fällt. War doch nicht schlimm, der kaputte Lack am Klavier.

Auch der Mahagonischrank im Wohnzimmer hatte Brandspuren. Der hatte allerdings nicht zu Muttis Aussteuer gehört. Er war wie der Wohnzimmertisch – »an dem schon Ernst Udet und Lindbergh gesessen haben« – und der Schminktisch meiner Mutter, wie auch die teuren Reproduktionen italienischer Meister, der Brokat, mit dem die Sessel bezogen und aus dem unsere Musketier-Kostüme waren, und all die anderen feinen, kleinen Dinge, nach dem »Zusammenbruch« aus der amerikanischen Botschaft und den angrenzenden hochherrschaftlichen Häusern mitgegangen.

Die Geschichten vom Krieg, die abends in Traunreut erzählt wurden, Berlin brennt, Sirenen heulen, Verdunklung, hörten sich schauerlich an. Und nun war ich zum ersten Mal in Berlin. Trümmer. Überall Trümmer. Die Eltern meines Vaters wohnten in einer Ruine. In der Ruine der amerikanischen Botschaft in der Tiergartenstraße 6, neben der italienischen und der japanischen Botschaft. Nicht weit vom Potsdamer Platz und nur fünf Minuten vom Tauentzien.

Meine Oma hat auf diesem riesigen, verwilderten Ruinengrundstück Hühner gehalten. Das war toll. Ich durfte nachsehen, ob frische Eier da waren. Rundum lagen Trümmer, über deren bedeutendes Vorleben immer wieder berichtet wurde, während wir an ihnen vorbeispazierten. Ganz gleich wohin, in jeder Richtung nur zerstörte Häuser. Bombentrichter, Einschüsse an Häuserwänden, Ruinen.

In Berlin lebte die Familie. Tiergarten-Oma und Tiergarten-Opa, Tante Lolo und Onkel Robert, und in Neukölln Oma, die Mutter meiner Mutter, Omas Schwester Othilie, genannt Tante Tielchen, und der Bruder der beiden, Onkel Paul, von dem ich immer weggezogen wurde. Der war Kellner und Säufer bei der Mitropa. Über den wurde nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. »Wer?!« – »Paul!!« – »Nicht vor dem Jungen! Themawechsel!«

 

Neunzehnhundertfünfundfünfzig. Wirtschaftswunder. Jeder wollte vom Kuchen ein Stück abhaben. Wir auch. Das täglich Brot war nun nicht mehr die Frage, eher schon, wie es verpackt ist. Genau auf dem Gebiet war Herbert P. Möbius Fachmann. Und Zewa in Mannheim die passende Firma. Das hieß für uns, Adieu Traunreut.

Zuerst für Vater. Er trat seine neue Stelle in Mannheim an. Solange er noch keine Wohnung für die Familie gefunden hatte, nahm er sich ein Pensionszimmer. Wenn er Zeit hatte, kam er uns an den Wochenenden besuchen. Oder auch nicht.

»Mutti, Mutti, warum weinst du denn?« – »Ach, mir is was Schreckliches passiert.« – »Was denn?« – »Mir is beim Händewaschen der Ring abgegangen.« – »Welcher Ring?« – »Na, der goldene, mein Ehering, dabei ging der doch immer kaum runter.« – »Is er weg?« – »Nee, nee.« – »Kommt Vati am Wochenende?« – »Glaub nicht …« Warum hatte sie geweint? Der Ring war doch da. Wenn der Ring im Ausguss verschwunden war, hätt ich’s verstanden.

 

Es dauerte eine lange Zeit, bis endlich der Möbelwagen vor der Tür stand. Nach einem halben Tag war endlich alles verstaut und abfahrbereit. Das Klavier hatten sich die Packer bis zum Schluss aufgehoben. Sie waren schon dabei, es auseinanderzunehmen. Die Saiten lagen frei. Einen Augenblick war ich allein mit dem Klavier in der leeren Wohnung, in der jedes Geräusch wie in einer Kirche hallte. Ich hatte nur selten auf die Tasten gedrückt, und es...

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