2.
Die Mecklenburgerin
Die spätere Königin von Preußen ist als Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz am 10. März 1776 in Hannover geboren. Das Land, dessen Namen sie trägt, hat sie mit 20 Jahren zum erstenmal betreten.
Aufgewachsen ist sie im deutschen Südwesten, in Darmstadt.
Trotzdem finden sich bei ihr deutlich mecklenburgische Züge. Ihr Wortschatz ist, nachzulesen in ihren Briefen, von niederdeutschen Wendungen durchsetzt, die sie wahrscheinlich von ihrem Vater übernommen hat. So schreibt sie ihrem Bruder Georg mitunter, sie sei nahe daran gewesen, »zu brüllen«, also zu weinen, zu heulen, oder beklagt sich bei ihrem Mann über den »Schnack«, den er führe. Noch häufiger tauchen im deutschen Teil ihrer Briefe allerdings hessische Ausdrücke auf im unverfälschten Darmstädter »Heinerdeutsch«: »Ich muß in Kerch gehen, sonst schlägt mich mey alt Großmäme«, heißt es in einem Brautbrief an Friedrich Wilhelm, damals noch Kronprinz von Preußen, und: »Ich segn mei Schatz witter, ich segne mei Schatz witter.« Wobei sie nie versäumt, sich für ihr »Cripscrapsgekritzel« zu entschuldigen.
Prinz (und später Herzog) Karl Ludwig Friedrich von Mecklenburg-Strelitz, kurz Karl und von seiner Tochter Luise bis ans Lebensende »Päp« oder »Pap« oder auch »bester Vater« genannt, muß eine vollendete Rokoko-Erscheinung gewesen sein, wohlgestaltet, wenn auch nicht sehr groß, elegant in Benehmen und Garderobe, ein bißchen leichtsinnig im Umgang mit dem Geld und, wie übrigens viele Mecklenburger, etwas hypochondrisch veranlagt. Wann immer Zeit und Geld es ihm erlauben, kurt er in Bad Pyrmont, für das er bis ins Alter eine Vorliebe behält.
Eine Vorliebe besitzt er auch für England. Durch seine Schwester, die Königin von England, hat er schon in jungen Jahren Karriere gemacht und ist als Gouverneur des englischen Königs nach Hannover geraten, heraus aus der Enge und Provinzialität seiner mecklenburgischen Heimat. Damals gab es zwei Mecklenburgs.
Die deutschen Staaten oder Staatsgebilde schienen sich durch Zellteilung ins Unendliche vermehrt zu haben. Das Reich, einst Römisches Reich, dann Heiliges Römisches Reich, am Ende Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation genannt, zerfiel in unzählige territoritale Herrschaften. Einige von ihnen, die größeren, traten als unabhängige Staatsgebilde, ja als europäische Großmächte auf. Die meisten waren jedoch klein, sogar winzig: ein Schloß, ein paar Dörfer sowie eine Menge von Schlagbäumen. Golo Mann läßt seine »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« im Jahre 1789 beginnen. In diesem Jahr gab es in Deutschland genau 1789 Territorialstaaten.
Zwar sollte das Reich mit dem Kaiser, seit Maximilian mit den habsburgischen Königen von Österreich, eine Kuppel über dem Staatenwirrwarr bilden, aber die Realität sah anders aus. Während andere Nationen, Frankreich vor allem, sich langsam aber sicher der staatlichen Einheit zubewegten, wurde Deutschland durch den Absolutismus seiner großen und kleinen Potentaten im 17. und 18. Jahrhundert heillos zersplittert. Für den Adel bedeutete dies einen enormen Machtzuwachs. Selbst die kleinsten Fürstengeschlechter versuchten Geschichte zu machen, vornehmlich durch Zollgrenzen. »Die Fürsten brandschatzen die Reisenden wie die Wegelagerer«, klagt Varnhagen von Ense, und tatsächlich stammte eine Großzahl der betreffenden Fürsten von Wegelagerern ab.
Allein in Mecklenburg existieren also zwei Herzogtümer, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Deren Geschichte wäre ein Lehrstück deutscher Kleinstaaterei, angefangen beim großen Güstrowschen Erbfolgestreit, über den Hamburger Vergleich und die Mirowsche Linie, der auch Luises Vater, Prinz Karl, angehört. Mecklenburg galt schon immer als abgelegen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Althergebrachtes blieb hier stets länger lebendig als anderswo. Der erste (und einzige) Paragraph der Mecklenburger Verfassung lautet, spottet Fritz Reuter: »Es bleibt alles beim Alten.«
So war auch damals Mecklenburg, waren beide Mecklenburgs hinterwäldlerisch, immer ein paar Jahrzehnte hinter ihrer Zeit zurück. Ihr Anachronismus hatte jedoch, von heute gesehen, durchaus fortschrittliche Züge. Wie ein Fossil erhalten geblieben war die alte ständestaatliche Ordnung, sogar in ihrer ausgeprägtesten Form. Sie hatte übrigens bis 1918 Bestand.
Der Ständestaat hatte einst die Abkehr von der rein feudalen Ordnung des Mittelalters bedeutet. Über die Vertretung der Stände – Geistlichkeit, Ritterschaft, Städte, seltener, wie in Tirol oder Ostfriesland, die Bauern – wurden erstmals – wenn auch noch sehr eingeschränkt – die Staatsbürger am Staat beteiligt. Regionale Vertretungen und Ständeversammlungen konnten, zum Beispiel, über Steuerbewilligungen entscheiden oder mitentscheiden.
Der Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts hatte dieser Entwicklung den Garaus gemacht, die Stände in den Status von Untertanen, die zu parieren hatten, zurückgedrängt. Außerhalb Mecklenburgs fanden sich nur in mehr oder weniger entlegenen Gegenden des Heiligen Römischen Reichs Reste derartigen Mitspracherechts nach dem Vorbild des englischen Parlaments. Der Freiherr vom Stein entdeckte solche in Westfalen, förderte sie nach Kräften und bezog aus ihnen ein Gutteil Anregung für seine späteren Reformvorschläge. Auch die Französische Revolution knüpfte an diese Tradition an.
In Mecklenburg, wo möglichst alles immer beim Alten bleibt, war sie von vornherein lebendig geblieben. Unverändert tagten die Landstände, gemeinsam übrigens für beide Landesteile, wie auch die Universität in der alten Hansestadt Rostock, das Hofgericht und das Konsistorium, also die Kirchenverwaltung, übergreifend für beide Kleinstaaten tätig waren – ein altertümliches Kuriosum nach damaligen Begriffen, eine frühe Annäherung an den modernen Verfassungsstaat nach heutigen Vorstellungen.
In Neustrelitz, der von seinem Vorgänger Adolf Friedrich III. erbauten Residenz mit den schnurgeraden, strahlenförmig von seinem Schloß auslaufenden Straßen, saß seit 1752 Herzog Adolf Friedrich IV., Luises Großvater oder besser gesagt: Nenngroßvater, in Wirklichkeit ihr Onkel. Fritz Reuter, der Demokrat, hat den schrulligen Herrn als »Dörchläuchting« schneidend, wenn auch mit großer Sympathie, karikiert. »In de Paleh«, lesen wir, »was dat all 'ne Tidlang snurrig taugahn«, der rechte Kapitelanfang für die schnurrige Geschichte von einem Landesherrn, der die Sprache seines Landes spricht wie jeder Dorfbewohner.
Es war ja nicht so, daß nun alle kleinen Fürsten Wegelagerer und Blutsauger gewesen wären. Es gab eine ganze Menge volkstümlicher Gestalten unter ihnen, die ihr Land aufs beste zu verwalten suchten. Zu ihnen muß man wohl auch den kauzigen Dörchläuchting rechnen, der Tod und Teufel nicht fürchtete, wohl aber Angst vor zweierlei hatte, das er für schlimmer als alles hielt: Gewitter – und Frauen.
Gegen den Blitzschlag ließ sich Dörchläuchting in seinem »Paleh« ein gläsernes Kabinett errichten, eine Art von Faradaykäfig, in dem er bei den ersten Gewitterwolken Schutz suchte. Er hielt strenge Distanz zu Frauen und erwartete dasselbe auch von allen männlichen Personen seines Hofes. Es hielten sich nicht alle daran. Adolf Friedrich IV. jedenfalls blieb, selbstredend, kinderlos.
Er hatte aber Schwestern und Brüder, von denen der Nächstälteste als sein Nachfolger vorgesehen war, Karl, Luises Vater. Den überraschenden Aufstieg – 1741 geboren, wurde er bereits 1744, also mit drei Jahren, Chef einer Kompanie in Diensten des Kurfürsten von Hannover – verdankte er einem Gerücht.
Das Gerücht war nicht neu, es geisterte von Zeit zu Zeit durch das vielfältige Europa, aber es beunruhigte immer wieder vor allem die Engländer. Friedrich II. von Preußen, hieß es, plane, seine niederrheinisch-westfälischen Besitzungen an die beiden Mecklenburger abzutreten, um sich im Tausch dafür Mecklenburg, Schwerin wie Strelitz, einzuverleiben. Nun saß der Kurfürst von Hannover als Georg II. auch auf dem englischen Thron, übrigens ein Schwager Friedrichs des Großen, der dennoch von einer derart bedrohlichen Umklammerung durch die Verwandtschaft wenig begeistert war. Der mecklenburgische Hofmeister von Gloeden war es, der Engländer wie Hannoveraner auf die rettende Idee brachte, den voraussichtlichen mecklenburgischen Thronerben sozusagen präventiv in hannoveranisch-englische Dienste zu nehmen.
Damit entwickelt sich Karls Karriere wie geschmiert und ohne dessen Zutun. Der dreijährige Kompaniechef wird als Vierjähriger Kapitän (mit dem Salär eines Hauptmanns). Zehn Jahre später ist er schon Major und bald Oberstleutnant. Aber er soll rasch noch höher ...