1.
Auftritt des Helden
Was hier erzählt werden soll, ist alles andere als ein Schauerroman. Es beginnt trotzdem schaurig genug.
1815. Ein junger Graf, noch nicht ganz 30 Jahre alt, hat eben einen Entschluß gefaßt, der sein Leben verändern soll und seinen gesamten Besitz, die größte Standesherrschaft in deutschen Landen, dazu. Der Entschluß ist lange in ihm gereift. Jetzt verwirklicht er ihn und setzt an den Anfang eine große pathetische Szene.
Vor den erschreckten Augen seiner Untertanen, meist abergläubischen Hinterwäldlern, steigt er zur Mitternacht in die Gruft seiner Ahnen, um dort über Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft, über sich, seine Herkunft und seine Pläne zu meditieren.
Drei Särge hat der junge Graf vorher öffnen lassen. Mit dem Küster schreitet er zur Geisterstunde beim Schein einer Fackel der Kirche entgegen. Es ist Vollmond. Die Kreuze auf dem Friedhof werfen lange Schatten. Wind heult durch die Kiefern. Immer wieder verschwindet der Mond hinter fliegenden Wolken.
»Woher das unbegreifliche Grauen vor den Toten, die kein Glied mehr rühren können, uns zu schaden«, lesen wir in des Grafen eigenem Bericht. »Woher die nächtlichen Schauer, woher die eisige Furcht vor dem, was einst Leben hatte und uns wieder erscheint ohne Fleisch und Bein? – Wenn man jung ist, will man alle Furcht besiegen.«
Mit einer Handbewegung schickt er den Küster fort, nachdem dieser die knarrende Falltür geöffnet hat. Die Fackel in der Hand steigt der junge Standesherr die morschen Stufen hinab ins düstere Gewölbe. »Mein alter Großvater, der 86 Jahre des Lebens Bürde getragen, war der erste, den ich erblickte. Sein schlohweißes Haar hatte sich in der bleiernen Hülle wieder blond gefärbt. Sein Haupt lag nicht mehr in der alten Richtung auf dem Kissen, sondern hatte sich seitwärts mir zugewandt, und seine weiß kalzinierten (kalkbedeckten) Augen starrten mich an wie zum Vorwurf, daß ich im jugendlichen Übermute der Toten Ruhe gestört.« Ihm küßt er den eiskalten Schädel und schneidet »eine spärliche Locke von seinem ehrwürdigen Scheitel«.
Im zweiten Sarg streckt sich »unter goldgestickten Lumpen ein langes Gerippe hin«, das eines Feldobristen, der im Dreißigjährigen Krieg unter Pappenheim gegen die Schweden zu Felde gezogen ist – ein weiterer Vorfahr.
Dem gleichen Geschlecht, welches sich, der Sage nach, auf Rüdiger von Bechelaren, den Ritterhelden aus dem Nibelungenlied, zurückführt, gehörte auch die Frau im dritten Sarg an. Sie sei, berichtet unser Graf, »bei ihrem Leben die schöne Ursula genannt« worden. In der lokalen Überlieferung hat sie allerdings als »böse Ursel« überlebt. »Der kleine Totenkopf hatte eine dunkelbraune, häßliche Farbe angenommen; der ganze übrige Körper war mit einem langen, wunderbar erhaltenen Mantel von feuerfarbener Seide mit silbernen Fransen bedeckt. Ich wollte ihn aufheben, doch er kam mir selber zuvor, denn bei der ersten Berührung zerfiel er fast in Staub, und eine Legion Kellerwürmer, Gott weiß, wie hier hereingekommen, wimmelten unter meinen Händen auf den zusammengebrochenen Knochen.«
Lange betrachtet der Graf, auf einem der nicht geöffneten Särge sitzend, »in dumpfer Betäubung« bei flackerndem Fackellicht die lange Reihe seiner Vorfahren. Dann fällt er auf die Knie und betet, »bis das Eis in meiner Brust in schmerzlich-süße Tränen zerschmolz. Was von Furcht, Grausen und allen unheimlichen Gefühlen in mir gewesen, es verschwand vor Gott, und stille sanfte Wehmut blieb allein zurück.«
Gestärkt und getröstet, will man seinen Worten glauben, schreitet der Standesherr zurück in die Welt der Lebenden. Die – von uns übrigens hinzuerfundene – Kulisse von Mond, Wolken und Windgeheul gehört dort gewissermaßen zum Gefühlsrepertoire. Wir befinden uns in Zeiten der Hochromantik mit ihrem Gespenster- und Unheimlichkeitskult. Die Romantiker, zu denen wir den Grafen rechnen müssen, pflegen freilich, als Kehrseite der Medaille, ebenso die Skepsis und ihre zynische Stiefschwester, die Ironie. Unser Graf macht da keine Ausnahme.
Zu seiner großen Freude erregt die mitternächtliche Szene allgemeines Entsetzen nicht nur in seinem Umkreis, denn er sorgt dafür, daß sie weithin publiziert wird. Mutprobe, romantisches Abenteuer und wohl sogar echte Schwermut gehen, wie später noch so oft bei ihm, mit einer Art von früher Public Relation eine sonderbare Ehe ein.
Sein Name erschien und erscheint ohnedies oft in den Zeitungen, vor allem den Klatschspalten, die es damals schon gibt, und die oft den Hauptteil der Gazetten ausmachen. Der Graf erfreut sich eines nicht immer schmeichelhaften Rufs als Luftikus, Casanova, Verschwender und Urheber hintergründiger, mitunter auch böser Scherze, die, hat man das Gefühl, häufig nur dazu erdacht sind, um in die Zeitung zu kommen.
Sein Gruftbesuch, ein bißchen geschmacklos, aber höchst zeitgemäß, erinnert schon damals Zeitgenossen an Szenen aus E. T. A. Hoffmanns »Phantasiestücken in Callots Manier«, die eben erschienen sind. Es kann sogar gut sein, daß sie tatsächlich von ihm stammen, zumindest von ihm angeregt sind. Denn mit dem vielseitigen Dichter-Juristen-Komponisten ist der Graf – man kann getrost sagen: – befreundet, hat so manches Glas im Weinkeller von Lutter & Wegner in Berlin mit ihm geleert.
Das ironische Rüpelspiel folgt dann auch der gespenstischen Szene auf dem Fuße.
Gleichsam zur Nachfeier lädt der Graf die Bevölkerung seines Hauptstädtchens zu einem Ball ins Parktheater. Er selbst kann – angeblich – an dem Fest nicht teilnehmen, weil er erkrankt ist, sitzt jedoch in Wirklichkeit hinter den Gittern seiner verdunkelten Loge und beobachtet die von ihm wohlgeplanten Ereignisse.
Zunächst gerät die Musik außer Rand und Band. Ein Hochländer wird als Walzer, ein Walzer gar als getragene Sinfonie gespielt. Die geladenen Gäste hüpfen verzweifelt herum und stehen – oder sitzen – wenig später ebenso ratlos vor einem Essen im englischen Stil, das ihnen, zum Beispiel durch übergroße, unhandliche Löffel für die Suppe, zusätzlich erschwert wird.
Während des Mahls machen dann angelernte Provokateure die braven Bürger auf die seltsamen Tischdecken aufmerksam. Sie sind allesamt tiefschwarz, und das Gerücht verbreitet sich, es handle sich um Leichentücher aus der eben vom Grafen aufgesuchten Grabkammer. Sogar das Fleisch, spricht sich herum, stamme daher, was eine allgemeine Flucht der Gäste zur Folge hat, in die hinein der Kronleuchter plötzlich von der Decke stürzt und jemand »Feuer, Feuer!« ruft, was alles unseren Grafen in seiner Loge höchlich amüsiert.
Der Ort der Handlung: Muskau in der Oberlausitz. Über den mit dem Grauen Scherz treibenden Grafen: Hermann von Pückler, ist das Echo geteilt, wohl sogar bis heute. Noch 1906 tönt ein wütender Muskauer Festredner namens Siegfried Braun über die »Doppelnatur« Pücklers: »Meine Damen und Herren! Das sind doch alles keine bloßen gutmütigen Schwabenstreiche, als welche man sie hat hinstellen wollen. Fürst Pückler ist nach allem diesem doch auch kein so vornehmer und tadelloser Charakter… Hierbei haben allein Wahrheit und Gerechtigkeit das erste Wort zu sprechen. Solange sie gelten, wird der Mensch Pückler keinen anderen Ruhm beanspruchen können als den, daß er jede gute bürgerliche Sitte und Moral mit Füßen trat.«
Der empörte Siegfried Braun weiter: »Um in aller Leute Mäuler zu kommen, fuhr er z. B. in Berlin mit vier starken gezähmten Hirschen die Linden entlang, um dann plötzlich innezuhalten, ein Buch aus der Tasche zu ziehen und sich darin zu vertiefen. Oder er überredet einen völlig durchnäßten Geistlichen, zur Wahrung seiner Gesundheit in den Sonntagsstaat einer Frau Försterin zu schlüpfen, lädt den Vertrauensseligen auf seine Kalesche, saust mit ihm in voller Karriere zur nächsten Stadt und zum Ergötzen aller Einwohner dreimal um die Kirche herum und ähnliches mehr.« Andere haben ebenso geurteilt.
»Seine größte Schwäche«, lesen wir, »war Eitelkeit, und um so mehr, da sie, gegen bessere Erkenntnis, durch eine ganz eigentümliche Anomalie ihre Nahrung nur in äußeren Zufälligkeiten und wahren Lappalien suchte.«
Ein vernichtendes Urteil. Es stammt allerdings vom Verurteilten selbst, was die Sachlage entschieden verändert. Der Graf und spätere Fürst ist sich seiner Schwächen völlig bewußt. Seiner Stärken übrigens auch. Ein trotz des eitel-aristokratischen Gehabes im Grunde melancholischer und kontemplativer Charakter, beobachtet er sich ein Leben lang genau und mit nahezu unbestechlichen Augen. Pücklers stärkster Kritiker ist Pückler selber. Er überschätzt sich nicht, wie er sich ebensowenig unterschätzt. Er kann in einem Augenblick stolz und im anderen bescheiden sein. Die Doppelnatur, die ihm sein nachgeborener Kritiker vorwirft, hält ihn im Gleichgewicht.
Das gilt ebenso für seine berühmt-berüchtigten Jugendstreiche. Romantische Todessehnsucht, in der Gruft der Ahnen theatralisch ausgespielt, und alberner Studentenulk scheinen zwar extreme Gegensätze. Man kann sie aber auch als Ausgleich sehen, als einander bedingend, Kehrseiten, wie sie zur menschlichen Natur gehören. Den Deutschen sollte so etwas eigentlich vertraut sein, wohnen doch, ihrem Lieblings-Goethezitat zufolge, zwei Seelen, ach, in ihrer Brust.
Das ist, was Pückler betrifft, freilich weit untertrieben. Seine in der deutschen Kulturgeschichte einzigartige Persönlichkeit beweist, daß in ihm, wahrscheinlich aber in uns allen (und nicht nur den Deutschen), unzählige Doppelnaturen hausen, ungleiche Paare von oft erschreckender Gegensätzlichkeit.
Was bei ihm verblüfft,...