I.
Wenn des Liedes Stimmen schweigen
Von dem überwundnen Mann,
So will ich für Hektorn zeugen
(Hub der Sohn des Tydeus an),
Der für seine Hausaltäre
Kämpfend sank, ein Schirm und Hort,
Auch in Feindes Munde fort
Lebt ihm seines Namens Ehre.
Großbeerenstraße 40, Dicht am Kreuzberg. Kleinbürgerhäuser, Kleinbürgerläden. Fünf Minuten davon, schon in der Yorkstraße, poltert, kreischt, protzt das neue Berlin im Stuckpomp. Hier, zwischen der Hagelberger- und der Kreuzbergstraße, ists still. Altberlin. Kein Bierpalazzo, kein Prunkladen. Enge Kutscherkneipen; der Bäckermeister, der für drei, vier Gäste Sitzgelegenheit bietet, Napfkuchen, Windbeutel, Sahnenbaisers bereit hält, auch, wenns verlangt wird, Kaffee kochen läßt, nennt sich nur schüchtern Konditor. Sogar Grünkramkeller giebts da noch, vor denen, auf dem Pflaster, Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Äpfel stehen. Die Strähne der Telephondrähte ist dünn und das Surren des Straßenbahndrahtes dringt nur sacht in die graue Stille; wird im Sommer vom Rauschen des Wasserfalles übertönt, der schäumend durch den Viktoriapark stürzt. Wer vor Nummer 40 steht, sieht die weißen Gischtkämmchen. Das vornehmste Haus in der Runde. Altfränkisch vornehm; wie man vor fünfzig Jahren baute. Nach der Gewöhnung von heute eng und düster. Auf den Steinfliesen, die zur Haustür hinaufführen, purzelt dem Einlaß Heischenden ein Pförtnerskind entgegen; und der Zusammenstoß weckt die Lachlust der Spielkameraden. Ein paar Holzstufen. Links den Klingelstrang ziehen. Eine schmächtige Frau mit weißem Haar und freundlich schweigsamem Gesichtsausdruck öffnet. Frau Röber, die treuste, zuverlässigste Schaffnerin. Die läßt keinen Unwillkommenen hinein; ist durch die pfiffigste Reporterkunst nicht ins Schwatzen zu bringen. Ein schmaler Korridor, der kaum zum Umdrehen Raum gewährt. Drei Zimmerchen. Alte, ganz schlichte Möbel, die auf den Westberliner wie Urväter-Hausrat wirken. Nur das Allernötigste. Im Arbeit- und Wohnzimmer ein Schreibtisch, eine winzige Bibliothek, Photographien und andere Erinnerungzeichen. Im Schlafzimmer das Bett eines Försters oder Landlehrers; daneben, auf dem Nachttischchen, ein Leuchter mit Kerze. Nirgends die leiseste Ahnung von Luxus und Üppigkeit. Kachelöfen. Petroleumlampen. Kein Gas. Kein Telephon. Und doch wars in dieser Parterrewohnung behaglich. An Winterabenden besonders, wenn dichte Vorhänge vergessen ließen, daß draußen, hinter der nächsten Ecke, das Leben der Proles brande. Wie in einer Provinzstadt wars dann; bei einem feinen Beamten, dem des Dienstes immer gleichgestellte Uhr ein Junggesellenleben lang ins Ohr getickt hat und der sich nach den Bureaustunden in reinlicher Einsamkeit an dem Bewußtsein röstet, dem Weltgetriebe, den Welthändeln meilenfern bleiben zu dürfen. Gern aber den Besucher, dessen Wesensart ihm paßt, davon erzählen hört; wie von Wichtigem, Bedeutendem, das weit hinter dem Pflichtenkreis des Hausherrn liegt. Doch just hier, in diesem südwestlichen Winkel der Reichshauptstadt, war der Puls deutscher Politik hörbarer als sonst irgendwo. Hohe und höchste Würdenträger kamen ins altfränkisch vornehme Haus. Der Kanzler, Staatssekretäre, Botschafter, Geheimräte; Fürsten und Grafen; alte Edelfrauen und Großfinanzherren; auch aus der Schicht der Subalternen ward manchmal ein Bewährter zugelassen. In diese Parterrewohnung lieferte das Postamt SW 47 gewiß die interessantesten Briefe. "Seiner Excellenz dem Herrn Wirklichen Geheimen Rat Baron Fritz von Holstein."
Der wohnte hier; hatte sich aus dem neuberlinischen Getos hierher gerettet, als auch in der anhalt-dessauischen Enklave zwischen den Westbahnhöfen, die so lange, dicht neben den Brennpunkten des Straßenlebens, kleinstädtisch blieb, der Menschenspülicht ihm lästig wurde. Zu viele Kanzleiräte, Souterrainschreiber, Krämerkinder, Spazirmädchen (in diesem merkwürdigen Revier hält mancher Hausbesitzer, manche ehrsame Familie sich nur durch den hohen Mietzins, den eine vom Ertrag der Prostitution sich redlich Nährende zahlt). Was brauchte er? Luft, Ruhe, Sauberkeit. Noch in seiner Krankenstube wars niemals dumpf oder muffig, ärgerte nie ein Stäubchen das Auge; fast lautlos kam und ging die Schaffnerin; und von den unbebauten Flächen des Kreuzbergbezirkes weht selbst an schwülen Tagen erträgliche Luft in die Nachbarschaft. Bis ins Auswärtige Amt war der Weg freilich weit. Um so besser: die Rat Suchenden fielen ihm nicht allzu oft ins Haus und er mußte schon morgens die Beine rühren. Gehen war ihm die beste Freude. Er konnte, mußte Stunden lang allein laufen, hatte auf solchem Marsch die brauchbarsten Einfälle und kam noch als Siebenziger aus der Großbeerenstraße gar nicht selten zu Fuß in die Grunewaldkolonie. Zum Stubenhocker taugte er nicht. Wäre am Liebsten Soldat geworden und stöhnte, da die Eltern den jungen Friedrich August Karl Ferdinand Julius, der rasch in die Oberklassen des Köllenischen Gymnasiums geklettert war, zum Juristen bestimmten. Fünfziger Jahre. Die Armee hat noch nicht das Ansehen, das Wilhelm und Roon, Bismarck und Moltke ihr später warben; die Erinnerung an 1806 ist nicht verblaßt, die Achtundvierziger haben die "Soldateska" verschrien und der güterlose Adel ersehnt seinen Söhnen einen lohnenderen Beruf als des Offiziers. Holstein wäre sicher ein guter Regimentskommandeur (kein ganz bequemer wohl, doch einer von ernstem Pflichtbewußtsein) geworden, hätte auch eine Generalstabsabteilung mit weiser Umsicht geleitet und es am Ende zum Generalquartiermeister, vielleicht gar zur Nachfolge Moltkes gebracht. (Auf dem versailler Bild, das die Beamten der Reichskanzlei in der Felduniform zeigt, sieht der bärtige junge Herr Diplomat gar nicht militärisch aus.) Im Feuer zu führen: Das war seiner Wünsche höchstes Ziel. Den Verzicht fühlte er immer wie eine alte Wunde, die bei schlechtem Wetter brennt. Der Auskultator am Kammergericht mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu ächzen. Dann aber gings, schon im zweiundzwanzigsten Lebensjahr, auf den umdunsteten Olympos der Diplomatie. Da gabs zu sehen, zu erleben, zu fechten. Fürs Vaterland; auch ohne Degen und bunten Rock. Daß er für den Zwang zu blinder Subordination nicht geboren sei, gestand der Alternde selbst schmunzelnd in den Stunden ruhiger Rückschau. Der Vater hatte wohl doch den richtigen Weg gewählt. Im engen Gelaß der Großbeerenstraße war die Excellenz ein großmächtiger Herr, der vor Keinem je den Rücken zum Katzenbuckel krümmte; wars, trotz den drei Vorgesetzten, auch im Amtszimmer; am Königsplatz wäre der Chef noch untergeben gewesen. Und zu oft genannt worden. Viel zu oft für Holsteins Geschmack. Dessen Mann war Blumenthal, von dem Bismarck gesagt hat: "Die Zeitungen nennen seinen Namen nie, trotzdem er in der kronprinzlichen Armee Stabschef ist und um die Leitung des Krieges sich fast eben so große Verdienste erworben hat wie Moltke". So hätte Holstein es gern gehabt. Nur von den Kennern wollte er beachtet und richtig geschätzt sein. Vor den Anderen im tiefsten Dunkel geborgen. Die Mahnung, im Schatten zu leben, war ihm gewiß der liebste Schluß epikurischer Weisheit. Seiner Wünsche höchstes Ziel: im Feuer zu fuhren und den Blicken doch unerreichbar zu bleiben. Eigensinniger Wille zur Macht in der Seele eines Empfindsamen, der grelles Licht nicht verträgt und unter öffentlicher Kritik wie unter frecher Entschleierung seiner Scham erschauert: ein politisch und psychologisch schwieriger Fall. In der Arbeitstube war dem Wanderlustigen schließlich doch am Wohlsten; blieb seine wahre Heimat. In den Glanz höfischen Lebens zog es ihn nicht. Allzu rasch verdorrt da die innere Freiheit. Den Rat, die persönliche Gunst des Allerhöchsten Herrn zu suchen, hätte er wohl mit dem Wort abgelehnt, das Schillers Kürassier in Wallensteins Lager spricht:
Mögen Die sich sein Joch aufladen,
Die mitessen von seinen Gnaden,
Die mit ihm tafeln im goldnen Zimmer.
Wir, wir haben von seinem Glanz und Schimmer
Nichts als die Müh' und als die Schmerzen
Und wofür wir uns halten in unserm Herzen.
Wir: die Beamten. "Wer anders macht ihn als seine Soldaten zu dem großmächtigen Potentaten?" Die Civilsoldaten in der Schreibstube. Der Mann, der so gern den Rock des Königs getragen hätte, fühlte sich stolz als Beamten. Wurde noch mit weißem Haar wild, wenn Parlament oder Presse die Leistung der Beamtenschaft herabsetzte oder gar empfahl, den Ersatz hinter der Bureauschranke zu suchen. "Das fehlte noch, daß man uns die Leute kopfscheu macht, um ihr Ansehen, den Hauptteil ihrer Löhnung, bringt und irgendeinem Bankier Ehren zukommen läßt, die unsere Besten kaum in einem langen Leben erreichen." Nicht einmal das Auswärtige Amt, an dem er selbst doch viel zu rügen fand und von dessen Vertretern er nur drei noch zu sich ließ, durfte man draußen tadeln. Und der Staatssekretär, der ihm vorher mindestens das kleinste der möglichen Übel schien, hatte (wie Graf Posadowsky seit der Opferung Woedtkes) bei ihm verspielt, seit er nicht mit der erhofften Entschlossenheit für sein Amt eingetreten war. "An den Beamten liegts nicht; die Leute sollen erst mal nachsehen, ob anderswo so anständig gearbeitet wird." Ein dem Leben und dessen vielfach einander schneidenden Kreisen im Grunde doch Ferner, Fremder spricht so. Holstein hatte viel erlebt. Die stärksten Staatsmänner und Diplomaten zweier Menschenalter im Hausrock gesehen: Gortschakow und Thiers, D'Israeli und Cavour; das Gewimmel der Mittelwüchsigen; und in Deutschland von Schleinitz,...