2 Beschreibung der Störungstypen
Kognitive Kommunikationsstörungen können in allen Bereichen auftreten, in denen Menschen miteinander interagieren. Wenn Betroffene sich mit diesen sehr heterogenen Störungsformen der Kommunikation verbal und/oder nonverbal in sozialen Kontexten bedeutungsvoll äußern bzw. solche kommunikativen Handlungen verstehen wollen, gelingt es ihnen nicht oder nur eingeschränkt, komplexe Geflechte (lat. textus) aus kognitiv-propositionalen und sprachlichen Einheiten kohärent zu erstellen oder angemessen zu interpretieren. Das ist in Gesprächen der Fall und wenn etwas geschrieben bzw. gelesen wird. Das direkte Gespräch ist die genuine Kommunikationsform beispielsweise in der Familie ebenso wie in Arbeitsprozessen oder im öffentlichen Leben allgemein. Wir müssen uns beispielsweise beim Einkaufen oder bei der Behörde mitteilen können, wir müssen den Sinn von Aufforderungen erfassen oder beim Arzt Symptome beschreiben und Verordnungen verstehen. Bei Störungen der Kommunikation kann selbst unsere Mobilität eingeschränkt sein, wenn wir etwa bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel die Bedeutung von Hinweisschildern (z. B. die Namen von Haltestellen oder Zielbahnhöfen an Bahnsteigen), Fahrplänen oder Lautsprecherdurchsagen nicht erfassen können (Glindemann, Ziegler & Kilian, 2002).
Inzwischen hat die medienunterstützte Kommunikation eine immer größer werdende Bedeutung bekommen. Interaktionspartner nehmen einander nicht |11|mehr nur face-to-face wahr, sondern zeit- und raumunabhängig beispielsweise fernschriftlich und fernmündlich auch unter Verwendung audiovisueller Medien. Insgesamt ist die Kommunikation über schriftliche Texte für alle Formen der Wissensvermittlung, Aus- und Fortbildung unverzichtbar geworden. Beispielsweise auch der Genuss literarischer Kunstformen in Büchern, Theater, Kino oder Fernsehen gehört zu wichtigen Bereichen unseres kommunikativen Erlebens. Zusätzlich werden wir bei entsprechenden Störungen von meinungsbildenden Prozessen und politischer Partizipation ausgeschlossen, wenn wir den gesellschaftlichen Diskurs nicht verfolgen können, in welchen Modalitäten er auch immer geführt wird.
Störungen der Kommunikation können Menschen insgesamt aus gesellschaftlichen Prozessen nachhaltig ausschließen. In der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF; DIMDI, 2010) wird ausdrücklich dazu aufgefordert, alle therapeutischen Interventionen so zu konzipieren, dass die Partizipation der Betroffenen am sozialen Leben verbessert wird.
2.1 Störungen im Interaktionsverlauf
Von philosophischen Arbeiten und Überlegungen zur Rhetorik abgesehen sind Interaktionsverläufe systematisch zunächst aus sozialwissenschaftlichen Perspektiven analysiert worden. Wenn Menschen unmittelbar miteinander kommunizieren, handeln sie intentional in wechselseitiger Orientierung aufeinander zu; sie konstituieren dadurch ein soziales System, in dem Sinn und Bedeutung gemeinsam aktualisiert wird (Luhmann, 1976). Der Fokus ist dabei auf gemeinsame Objekte des Interesses zentriert (Goffman, 1982), die Teilnehmer steuern ihr Erleben und Handeln bei: Sie inter – agieren. Wenn der subjektiv gemeinte Sinn, den sie ihren Handlungen beimessen, in dieser wechselseitigen Ko-Orientierung intersubjektiv (nach-)vollzogen wird, können wir von Kommunikation sprechen. Das setzt eine ganze Reihe kognitiver Leistungen voraus.
Linguistisch werden Interaktionsprozesse aus der Perspektive der Pragmatik analysiert. Schon seit Morris (1975) ist die Pragmatik als jene sprachwissenschaftliche Disziplin definiert, die sich nicht nur mit Elementen oder Beziehungen innerhalb des sprachlichen Zeichensystems selbst beschäftigt (wie etwa die Semantik oder die Syntax), sondern mit den Relationen zwischen den Zeichenbenutzern (Kommunikationspartnern); damit kommen soziale Dimensionen und situative Kontexte in den Blick, mit denen die Funktionen für den Verständigungsprozess und das Gelingen und Misslingen kommunikativer Handlungen in komplexen gesprächsstrukturellen Prozessen oder Diskursen erklärbar werden (Birner, 2013; Ehrhard & Heringer, 2011; Meibauer, 2008). Auf der einen Seite geht es hier um die thematisch-propositionale Zen|12|trierung auf Handlungen und Bedeutungen. Auf der anderen Seite geht es um gesprächsorganisatorische Prozesse wie Sprecherwechsel (turn-taking) und die Steuerung des Gesprächsverlaufs (Henne & Rehbock, 2001). Durch das Interesse an einer neurolinguistisch orientierten Pragmatik (Glindemann, 1995) entwickelt sich eine neuropragmatische Perspektive (Büttner, 2017b; Stemmer, 2008). Unter Einbeziehung von Untersuchungsverfahren der kognitiven Neurowissenschaften werden hier Hirnschädigungen und typische Störungsmechanismen im Vollzug pragmatischer Leistungen analysiert. Beispiele sind die Untersuchung der Rolle medial-parietaler Hirnareale bei der Revision von Situationsmodellen im Prozess des Textverstehens auf der Basis von fMRI-Daten (Ferstl & von Cramon, 2002, 2005) oder die Aktivität fronto-medialer Hirnstrukturen bei der Kontrolle von Sprachhandlungen (Ardila, 2012).
Mattson und Levin (1990) haben u. a. darauf hingewiesen, dass wir es bei den vielfältigen kognitiven Störungen der Kommunikation grundsätzlich auch mit der Unfähigkeit zu tun haben, explizite Vorgaben in die Handlungsplanung einzubeziehen, und dass wir bei Ablenkungen von einer hohen Störanfälligkeit dieser Patienten ausgehen müssen. Ihre kommunikativen Handlungen können dadurch inkohärent und schwer verständlich werden. Zusätzlich können sie die Konsequenzen ihrer kommunikativen Handlungen im sozialen Setting oft nicht realistisch einschätzen (Ullsperger & von Cramon, 2003). Andere Patienten wiederum sagen, sie wüssten, dass sie jetzt dies oder das tun müssten, um der Situation gerecht zu werden – sie tun es aber nicht. Goldenberg (2017) beschreibt, dass einige Patienten, die in Kommunikationssituationen unangemessen handeln, über ihre eigenen Verhaltensweisen entsetzt sind, wenn sie Videos von diesen Situationen ansehen. Das bestätigt, dass sie die Konventionen, die sie verletzen, durchaus kennen; sie können sie in den entsprechenden Situationen jedoch nicht adäquat anwenden (Knowing-Doing-Dissoziation). Matthes-von Cramon und von Cramon (2000) bringen auf diese Weise gestörte Interaktionsverläufe in einen komplexen Zusammenhang mit Planungsstörungen. Sie charakterisierten den so gestörten Interaktionsprozess auch durch einen Mangel dieser Patienten an Empathie und Adäquatheit bis hin zu taktlosem Verhalten und Distanzlosigkeit.
Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens führen allerdings nicht in jedem Falle zu Störungen der Kommunikation. Wenn ein Patient beispielsweise während eines Gespräches mit dem Chefarzt Unterlagen von dessen Schreibtisch nimmt und interessiert darin blättert (stimulus-bound-behavior), verletzt er damit ohne Frage die konventionellen (und sogar juristischen) Vorgaben im klinischen Kontext. Trotzdem muss dadurch nicht die Verständigung mit ihm gestört sein. Das wäre erst dann der Fall, wenn er die Aufforderung missversteht, sein distanzloses Verhalten zu unterlassen. Dafür könnten dann sowohl kognitive als auch sprachsystematische Störungen verantwortlich sein.
|13|2.1.1 Die Verschränkung der Perspektiven und die Aktivierung von Orientierungswissen
Wer erfolgreich kommunizieren will, muss Vorstellungen von der Perspektive seines Gegenübers zur aktuellen Interaktion entwickeln: Was kann ich beim anderen erreichen? Was will der andere bei mir erreichen? Was kann ich voraussetzen? Was kann er voraussetzen? Was muss er mir mitteilen? Was weiß er über das Thema? Was weiß ich über das Thema? etc. Je nach sozialem Anlass, Vorgeschichte und aktuellem Kontext liegen mehr oder weniger konkrete Handlungsziele vor, für deren Realisierung wechselseitig Annahmen von Motiven und Interessen, Wünschen, Befindlichkeiten und Erwartungen des jeweils anderen antizipiert werden können. Zusätzlich fließen die aktuellen Wahrnehmungen aus der Interaktion relativierend und modifizierend mit ein; Goldenberg (2017, S. 268) verwendet den Begriff des „mindreading“. Interaktionspartner arbeiten dabei an einer Art Theorie zu den Vorstellungen ihres Gesprächspartners. Diese Prozesse werden mit dem Begriff der Theory of Mind bezeichnet (Förstl, 2007). Patienten mit kognitiven Kommunikationsstörungen können durchaus Schwierigkeiten mit den erforderlichen Antizipationen und der notwendigen Flexibilität haben; beispielsweise gelingt es ihnen oft nur unzureichend, ihre egozentrische Perspektive zu verlassen und sich in die Rolle des...