|35|II. Therapie
|37|Kapitel 4
Zentrale Schemata und Beziehungsgestaltung
Die Kenntnis der zentralen Schemata und Motive, die das Verhalten des Betroffenen steuern, sind wichtig für die Beziehungsgestaltung und für die Art und Weise, wie die Exposition gestaltet wird und natürlich für die Inhalte der Kognitiven Therapie. Die dysfunktionalen Oberpläne und Überlebensregeln werden in der individuellen Verhaltensanalyse geklärt. Vorab jedoch bereits Kenntnisse über charakteristische Gemeinsamkeiten der Lebensgeschichten zu haben, kann bereits zu Beginn der Therapie ein entsprechend gestaltetes Beziehungsangebot ermöglichen und auch den Suchprozess bei der Besprechung der Biografie und der Erstellung der individuellen Verhaltensanalyse erleichtern, insbesondere bei Patienten, die ihre Lebensgeschichte wenig detailliert schildern können.
4.1 Charakteristische Gemeinsamkeiten in den Lebensgeschichten
In den Ursprungsfamilien von Menschen mit Zwängen finden sich charakteristische Merkmale:
Das emotionale Klima in der Familie war durch Unsicherheit, Unberechenbarkeit oder Bedrohung geprägt. Zumeist war die materielle Versorgung des Kindes zwar gegeben, es fehlte jedoch an emotionaler Wärme und dem Ausdruck von Zuneigung und Gefühlen (vgl. Chambless, Gillis, Tran & Steketee, 1996; Guidano & Lotti, 1983; Röper, 2001). Diese affektarme Fürsorge, die nach starren Regeln abläuft und sich nicht an den wechselnden Bedürfnissen des Kindes orientierte, führte bereits in der frühen Kindheit zu einem chronisch aktivierten Bedürfnis nach Nähe zur Bindungsperson und Suche nach Sicherheit (vgl. Bindungstheorie; Bowlby, 1973, 1995; Duron & Kyrios, 2005; Strauß, 2006).
Dies ist nicht spezifisch für Zwangsstörungen; unsichere Bindungen prädisponieren generell für die Ausbildung psychischer Störungen. Doch kommt bei Menschen mit Zwängen hinzu, dass das Erziehungsverhalten der Eltern oftmals stark kontrollierend war bis hin zur Missachtung der persönlichen Grenzen.
Die Autonomieentwicklung konnte beispielsweise aufgrund übermäßiger Dominanz der Eltern oder unerfüllbar hoher, rigider Normen nicht angemessen erfolgen. Selbstständigkeit wurde in diesen Familien nicht gefördert, sondern unterdrückt. Es fehlte an Einfühlung und Respekt für die Eigenständigkeit wie auch für die Schutzbedürftigkeit des Kindes. Anerkennung erfolgte häufig nur für Leistung. Die Kinder mussten funktionieren, ihre Wünsche und Bedürfnisse hatten keinen großen Stellenwert. Soziale Normen und die Wahrung des guten Ansehens in der Gesellschaft waren wichtige Werte in der Familie, der Alltagsablauf oft stark von Regeln geprägt. Dies ging einher mit inneren Haltungen wie Rigidität, Perfektionismus und Überbetonung der persönlichen Verantwortung. Typische Familienbotschaften lauten: „Man muss immer aufpassen, was man tut. Man muss immer alles unter Kontrolle, im Griff haben.“ Schuld- und Schamgefühle dominieren in den Familien.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Umgang der Bezugspersonen mit belastenden Affekten: In der Ursprungsfamilie von Menschen mit Zwängen führte das Zeigen belastender Gefühle, wie z. B. Angst, Traurigkeit etc., eher zu Zurückweisung durch die primären Bindungspersonen. Daher blieb den Betroffenen nichts anderes übrig als die Aufmerksamkeit vom eigenen Kummer abzulenken, Gefühle abzuspalten und bindungsgefährdende Informationen eher vom Bewusstsein auszuschließen.
Fallbeispiel:
Der Patient ist der zweitgeborene Sohn in einer Beamtenfamilie. Seine Mutter erlebte er als eine sehr strenge und unterdrückende Frau, vor der er immer Angst gehabt habe. Sie hätte ihn in seinen Bedürfnissen nicht respektiert und auch geschlagen. Sein Vater hätte sich distanziert verhalten und ihm vermittelt: „Ich bin selbst belastet genug, lasst mich mit euren Problem in Frieden.“ Insgesamt war das Klima in der Ursprungsfamilie durch schlechte Stimmung, Druck und emotionale Kälte gekennzeichnet. Der Patient erinnert sich, als Kleinkind bei Geburtstagsfeiern vor den Verwandten unter den Tisch geflüchtet zu sein und niemand hätte Notiz davon genommen, geschweige denn, ihm in seiner Angst geholfen. Leistung |38|wurde sehr hoch bewertet, eine Note drei war Anlass zu Wutanfällen bei der Mutter. Während der Bruder des Patienten mit den Eltern oft stritt, war der Patient ein „Musterknabe“, immer artig, strebsam und freundlich bemüht, die Erwartungen der Mutter zu erfüllen. In der Grundschule zeigten sich erste Zwänge, z. B. konnte beim Anfertigen der Hausaufgaben nichts seinen eigenen perfektionistischen Ansprüchen genügen. Das Streben brachte ihm eine Außenseiterposition in der Klassengemeinschaft ein. In der Pubertät versuchte er, die Anerkennung der Peer Gruppe zu gewinnen, indem er sich möglichst wenig strebsam verhielt, was ihm wiederum Konflikte mit den Eltern und Lehrern einbrachte. In diesem Spannungsfeld blühten die Zwänge so stark auf, dass er schließlich nicht mehr in der Lage war, sich auf seine schulischen Aufgaben zu konzentrieren und das Gymnasium verlassen musste.
4.2 Konsequenzen für die Beziehungsgestaltung
Bedingt durch die Erfahrungen in der Ursprungsfamilie sind die entsprechenden Motive stark ausgeprägt. Zentral sind dabei
Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Kontakt zu anderen, auch dem Therapeuten, zunächst durch Vermeidung von Nähe und Emotionalität geprägt ist. Wie ausgeprägt dabei die Schwierigkeiten in der Regulierung von Nähe/Distanz einerseits und Dominanz/Unterwerfung sind, hängt vom Grad der Schädigung in der Kindheit ab (vgl. auch Crombach, 2002).
Das Beziehungsangebot des Therapeuten muss darauf abgestimmt, über die Basisvariablen der Empathie und Wertschätzung hinausgehend komplementär dazu gestaltet sein und im Sinne einer Bringschuld aktiv darauf abzielen, zuallererst das Sicherheits- und Zugehörigkeitsbedürfnis der Patienten zu stillen und ihre Angst vor Fremdbestimmung nicht zu triggern (vgl. auch Lakatos & Schneider, 2014).
Zu Beginn der Therapie wird Sicherheit zuerst Vertrauen in die Kompetenz des Therapeuten bedeuten, danach Vertrauen in die Person.
Günstig ist es, bereits im Erstgespräch von sich aus auch Informationen zu geben, eine Sachkenntnis und Vertrautheit mit dem Phänomen deutlich werden zu lassen, indem man kundig nachfragt, sich auch über ungewöhnliche Zwänge oder sozial tabuisierte Inhalte nicht erstaunt zeigt, oder bestimmte typische Handlungsabläufe vorhersagt, die sich aus der Logik des Zwangssystems ergeben.
Die Bedeutung eines solchen Therapeutenverhaltens für den Beziehungsaufbau lässt sich kaum eindrucksvoller vermitteln als in der Schilderung von Frau S., einer Betroffenen, die ihren „Weg aus der Zwangserkrankung“ in der gleichnamigen Biografie für ihre Leidensgefährten beschrieben hat:
Fallbeispiel:
„Die ersten Therapiestunden bestanden ausschließlich aus Gesprächen. Ich habe mir die letzten 27 Jahre von der Seele geredet und geschluchzt. Und war fassungslos darüber, dass der Therapeut verstand, warum ich mit meinen Stadthänden nicht meine Haare berühren konnte. Er selbst hatte es mir erklärt und mir somit bewiesen, wie er sich in die Zwänge einfühlen kann: ‚Weil Sie dann letztendlich am Abend mit Ihren schmutzigen Haaren das Kopfkissen verunreinigen würden.‘ ‚Du meine Güte, das verstehen Sie?‘, war meine Reaktion. Keine Verwunderung, kein Belächeln meines Verhaltens – wie wohl hat mir das getan. Endlich ist da jemand, der diese Ungeheuerlichkeit des Zwangsverhaltens kennt und mich dabei nicht fühlen lässt, wie unmöglich mein Verhalten ist. Auch das war mir schon bei einem ‚Fachmann‘ passiert: ‚Und das lässt sich Ihre Familie gefallen?‘ wurde ich gefragt. Wie können wir mit unseren kaum zu bewältigenden Schuldgefühlen fertig werden, wenn Therapeuten sich so verhalten! Ich habe damals das Sprechzimmer noch depressiver, gedemütigter und hoffnungsloser verlassen.“ (Ulrike & Reinecker, 2006, S. 47) ...