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E-Book

Kommunikationsstörung Mutismus

Integration und Förderung von Kindern in den Schulalltag

AutorMelanie Buß
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl122 Seiten
ISBN9783638406376
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 2,0, Justus-Liebig-Universität Gießen (Institut für Heil- und Sonderpädagogik), 40 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Mutismus ist noch immer nur wenigen Menschen ein Begriff. Immer wieder werden Menschen mit Mutismus als dickköpfig und stur bezeichnet. Ihr Schweigen wird als Arbeitsverweigerung gedeutet. Und dies nicht nur von Laien, sondern auch von Ärzten, Psychologen und Pädagogen, von denen Eltern Hilfe erwarten. Im Kindergartenalter wird den Eltern meist vermittelt: 'Das legt sich schon wieder'. Dies kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Denn je länger eine Person schweigt, desto mehr manifestiert sich dieses Schweigen. Gerade in der Schule gestaltet sich der Mutismus als Problem. Hier wird mündliche Beteiligung am Unterricht und Eingliederung in den Klassenverband verlangt. Der Lehrer steht vor dem Problem, das Kind adäquat benoten und behandeln zu müssen. Mit meiner Arbeit möchte ich dazu beitragen, dass Mutismus bekannter wird und Verständnis für diese Kinder wecken. Vor allem möchte ich Lehrern helfen, einen Weg zu finden, mit diesen Kindern umzugehen und ihnen helfen zu können. Wie kann man einen Schüler, der schweigt oder sogar generell die Mitarbeit 'verweigert' in den Unterricht integrieren, mit ihm kommunizieren und ihn angemessen fördern? Dieser Frage möchte ich im Haupteil dieser Arbeit nachgehen. Es geht darum, mögliche Kommunikations- und Umgangsformen mit mutistischen Kindern im Klassenraum sowie Möglichkeiten der sprachheilpädagogischen Intervention durch Lehrer aufzuzeigen. Angesprochen wird auch die Frage nach der Notengebung und Beschulung, die sich den Lehrern und Eltern immer wieder stellt. Einleitend werde ich mich nach einer Definition des Störungsbildes vor allem mit den verschiedenen Formen, Symptomen und möglichen Ursachen des Mutismus beschäftigen, um das Störungsbild möglichst genau darzustellen und dem Leser einen verstehenden Umgang mit Betroffenen zu ermöglichen. Anschließend werden wichtige Kriterien für die Diagnostik dargestellt, wobei auch auf die Differentialdiagnostik eingegangen werden soll, um den Mutismus von anderen Störungsbildern abzugrenzen. Wichtig erschienen mir hier im Hinblick auf eine (schulische) Förderung auch förderdiagnostische Fragestellungen. Neben schulischen Interventionsmöglichkeiten werden weitere Therapieformen dargestellt. Sie liefern Anregungen für die Arbeit mit den Kindern und sind wichtig, um Betroffene, deren Angehörige, sowie als Beratungslehrer auch deren Lehrer hinsichtlich sinnvoller Interventionsmöglichkeiten beraten zu können.

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Leseprobe

6. Mögliche Ursachen (Ätiologie) und Risikofaktoren


 

„Die Multikausalitätsannahme schließlich besagt, dass bei der Entstehung psychischer Störungen eine Vielzahl von Faktoren beteiligt sind, dass also nicht ein linearer Ursache-Wirkungszusammenhang, sondern ein komplexes Wirkungsgefüge [...] verantwortlich für pathopsychologische Erscheinungen ist” (BAHR 1996, 15).

 

Bei jeder vom Mutismus betroffenen Person wirken unterschiedliche Faktoren in unterschiedlicher Gewichtung zum Entstehen des Störungsbildes bei.

 

 

Abbildung 6.1.: Einteilung des Mutismus nach den ätiologischen Faktoren

 

(Quelle: HA RT M A N N 1997, 109)

 

Die Abb. 6.1 verdeutlicht, dass sowohl physiologische Faktoren wie Entwicklungsstörungen, psychotische Grunderkrankungen und hereditäre[6]Dispositionen als Ursache in Frage kommen, als auch psychologische Faktoren wie neurotische und stresstheoretische Problemlösungsmechanismen, Konditionierungsprozesse und Milieueinwirkungen. Häufig liegen jedoch sowohl physiologische als auch psychologische Verursachungsfaktoren vor und wirken ineinander (psychophysiologische Faktoren), wie es z.B. das Diathese-Stress-Modell nach HARTMANN aufzeigt (vgl. Kap. 6.1.4). Der milieutheoretische Ansatz ist nicht von andern Ansätzen abzugrenzen und ließe sich unter diese subsummieren (vgl. HARTMANN 1997, 110).

 

Zuvor möchte ich anhand einer Liste von SCHOOR einen Überblick über Faktoren, die einen Mutismus begünstigen können, geben. Diese müssen, wie erwähnt, nicht notwendigerweise zum Schweigen führen und werden auch nicht bei jedem Mutisten zu finden sein (2001, 190):

 

 Migration,

 

 Schweigsamkeit in der Familie, vor allem schweigsame oder sprechscheue Mütter,

 

 psychische Störungen in der Familie, vorrangig bei den Eltern,

 

familiäre Disharmonien u.a. auch körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch,

 

 abnorme Erziehung wie Überbehütung,

 

„anregungsarmes Sprechumfeld” durch z.B. stark dialektal sprechende Eltern, Sprachdefizite der Eltern, Isolation der Familie,

 

belastende Lebensereignisse wie z.B. Trennung von einer engen Bezugsperson und Erlebnisse, die das Selbstwertgefühl verringern,

 

Schüchternheit bzw. Gehemmtheit (entweder die „gesunde” Gehemmtheit gegenüber Unbekanntem oder Angst vor Ablehnung aufgrund schlechter Erfahrung - bei letzterem nimmt die Angst mit dem Vertrautwerden nicht ab)

 

biologische Stressoren wie Krankheiten, Verletzungen, äußeres „unattraktives” Erscheinungsbild, Entwicklungsverzögerung, „Hypersensibilität für Stress und eine biologisch determinierte Disposition zu erhöhter Angstreaktion bei Belastungen”, sowie

 

hirnorganische Schädigungen (häufig prä- oder perinatale Schädigungen), die wiederum Auswirkungen haben können auf die Entwicklung der Sprache und der Kognition und durch z.B. fehlende Responsivität in der Mutter-Kind- Beziehung auch auf die psychosoziale Entwicklung).

 

Im folgenden wird näher auf die schon genannten Faktoren und auf Erklärungsansätze zum Mutismus eingegangen. Am häufigsten werden lerntheoretische oder psychoanalytische Erklärungsmodelle herangezogen, weshalb ich mit der Darstellung dieser beider Ansätze beginnen möchte.

 

6.1. Psychologische Ursachen


 

6.1.1. Psychoanalytischer Erklärungsansatz

 

Im Hebräischen sind die Bezeichnungen für Kehle und Seele (hebr. näfäsch) identisch. Hier wird deutlich: liegt mir etwas auf der Seele, so hat dies Auswirkungen auf meine Stimme. Auch Redewendungen im Deutschen weisen darauf hin: „es verschlägt mir die Stimme”, „wie abgeschnürt, „einen Klos im Hals haben”, „sprachlos sein”. Das Seelenempfinden wirkt sich auf die Stimme aus. Der Gemütszustand einer Person lässt sich häufig aus dem Klang ihrer Stimme erschließen.

 

Der psychoanalytische oder psychodynamische Ansatz geht davon aus, dass das Schweigen auf einem seelischen Konflikt beruht. Das Schweigen stellt hier eine neurotische[7]Bewältigungsstrategie eines seelischen Problems oder Konflikts, wie z.B. Traumatisierung (durch Schockerlebnisse wie Unfälle, Kriegserlebnisse, aber auch Schuleintritt oder Wohnortwechsel), Trennungsängste, narzisstische Persönlichkeit oder Sozialphobie, dar. Die Ursache ist hierbei dem Betroffenen nicht bewusst. Ein Trauma wird beispielsweise „verschwiegen”, um es ungeschehen zu machen oder die Sprachlosigkeit aufgrund des Schocks bleibt weiter bestehen („es hat ihm die Sprache verschlagen”). Bei Verlust- und Trennungsängsten erzeugt das Kind durch sein Schweigen eine enge Beziehung und Abhängigkeit zu der Person, die es zu verlieren fürchtet. Das Schweigen kann im Falle von Trennungsangst auch als stiller Schrei um Hilfe verstanden werden. Trennungsangst kann ebenfalls mit der Angst verbunden sein, eine vertraute Kommunikationssituation verlassen zu müssen, weshalb dann in unbekannten Situationen geschwiegen wird. Weiterhin wird das Schweigen als Schutzmaßnahme genannt, die hilft Energien einzusparen und als Abwehrmechanismus, der das Bekanntwerden unerwünschter Triebansprüche nach außen hin verhindern soll (vgl. BAHR 1996, 60f u. HARTMANN & LAN- GE 2004, 26f u. SCHOOR 2001, 192). Meist wird das Schweigen in Verbindung gebracht mit frühkindlichen Erfahrungen. Der klassischen Psychoanalyse zufolge verdrängt der Mensch vorrangig sexuelle und aggressive infantile Triebwünsche und Gefühle (vgl. BAHR 1996, 31).

 

BAHR liefert hierzu eine weitere Liste möglicher Deutungen des Schweigens (vgl. 2004, 74f):

 

 Schweigen aus Rache;

 

 Schweigen als Kontrollmittel und Mittel, um andere zu necken;

 

Schweigen zur Erlangung der Aufmerksamkeit der Eltern oder auch anderer (z.B. bei Geschwisterrivalitäten oder Trennungsangst);

 

Schweigen aufgrund mangelhafter oder nicht gelernter Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit;

 

Schweigen aus Angst vor Fehlern und eigenem aggressiven Verhalten („Wenn ich schweige, kann ich nichts falsch machen”);

 

Schweigen, um nicht aufzufallen (aus Angst vor Strafe etc.) und

 

 Schweigen aufgrund von fehlenden Ausdrucksmöglichkeiten.

 

Im Gegensatz zur Psychose, geht man bei einer Neurose i.d.R. von einem Störungsbewusstsein bei den Betroffenen aus.

 

STEINER unterscheidet zwischen einem Schweigen-Können als Zeichen von Ich- Stärke und Schweigen-Müssen als Ausdruck von Ich-Schwäche. Sie geht genauer auf mögliche Zusammenhänge zwischen dem Schweigen und den Phasen der psychosexuellen Entwicklung ein. In der oralen Phase (1. Lebensjahr), in der das Kind noch nicht sprechen kann, muss das Kind lernen, „dass die vollkommene Symbiose zur Mutter nicht immer weiter aufrechterhalten werden kann, wenngleich die Sehnsucht nach dieser absoluten Nähe, nach Übereinstimmung und wortlosem Verstehen bestehen bleibt. Die Intensität solchen Erlebens ist STEINER zufolge im späteren Leben nur noch im Schweigen möglich” (BAHR 1996, 32). Weiterhin schreibt BAHR:

 

„Wenn sie nur selten einen Zusammenhang zwischen ihrem Schreien und dem Stillen herstellen konnten, kann das dazu führen, dass sie sich zurückziehen und schweigen und von anderen erwarten, diese würden schon von allein merken, was ihnen fehlt” (ebd., 32f).

 

In der analen Phase (2.- 3. Lebensjahr) finden wichtige Fortschritte in der Sprachentwicklung statt. Das Kind lernt, dass nicht jede Äußerung in jeder Situation angebracht ist. Es erwirbt somit auch die „Fähigkeit zum Schweigen” (ebd., 33). Verständnislosigkeit oder Desinteresse anderer an dem Gesagten, kann den Mitteilungsdrang stark verringern. Erfährt das Kind, dass andere Personen auf jeden Fall mächtiger sind und es seinen Willen nicht durchsetzen kann, so kann es äußerlich mit Anpassung und Resignation reagieren - es verstummt unter Umständen völlig. Das Schweigen kann hierbei aber auch zum Machtinstrument werden, welches andere verunsichert. Die Mitmenschen stehen dem Schweigen meist hilflos gegenüber (vgl. ebd., 33f).

 

Die phallische bzw. ödipale Phase (4. - 5. Lebensjahr) bringt das Verlangen nach Selbstdarstellung und -behauptung mit. Das Schweigen kann hier Ausdruck von Unterlegenheitsgefühlen oder der Unfähigkeit zur Selbstbehauptung sein (vgl. ebd., 34).

 

Eine weitere tiefenpsychologische Erklärung ist die des „Mutismus als Doppelbindung”: „Ein zehnjähriges Mädchen begann zu schweigen, als sein Vater starb. Die Autoren [AMBROSINO & ALESSI] sehen die Doppelbindung nun darin, dass das Mädchen mit seinem Schweigen versuchte, die Zeit ’einzufrieren’, indem es den Tod des Vaters verneinte. Gleichzeitig verneinte es mit dem Schweigen auch seine Isolation und nahm die Haltung ein: ’If I stay silent, nothing will change and I will be safe”’ (ebd., 67).

 

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