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E-Book

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

AutorLuise Reddemann, Wolfgang Wöller
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl117 Seiten
ISBN9783844429619
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Die Bezeichnung 'Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung' steht für ein Spektrum von Störungsbildern, das typischerweise als Folge chronischer und kumulativer Traumatisierungen auftritt. Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen befinden sich häufig in einem festgefahrenen Muster von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Eine Therapie, die auf einzelne Symptome wie z.B. Depression oder eine 'einfache' Posttraumatische Belastungsstörung fokussiert, wird ihnen häufig nicht gerecht. Der vorliegende Band stellt ein psychodynamisches therapeutisches Vorgehen für diese Patientengruppe vor. Es hat zum Ziel, die Selbstheilungstendenzen zu fördern und so eine gesunde Weiterentwicklung der Person zu ermöglichen. Nach einer Beschreibung des Konzepts der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung wird auf Störungstheorien und -modelle sowie das diagnostische Vorgehen eingegangen. Ausführlich erläutern die Autoren anschließend die Therapie. Ein zentraler Aspekt der Behandlung ist es, mithilfe gezielter Interventionen die Wiederaufnahme des Traumaverarbeitungsprozesses zu fördern. Dazu gehören z.B. Imaginationen zur Emotionsregulierung, die Benennung, Validierung und Differenzierung von Gefühlen und die Förderung der Selbstfürsorge. Ebenso werden Voraussetzungen und Methoden für die Traumaexposition illustriert. Ein abschließendes Kapitel geht auf die Wirksamkeit der Behandlungsmethode ein.

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Leseprobe

|1|Einleitung


Komplexe Traumatisierungen können die gesunde Entwicklung der Persönlichkeit nachhaltig prägen und negativ beeinflussen. Wie bei körperlichen Wunden gibt es einen natürlichen Heilungsverlauf auch bei seelischen Verletzungen, daher streben wir mittels einer psychodynamischen Traumatherapie an, uns an diesen „natürlichen Heilungsverlauf“ anzuschließen. Die Förderung natürlicher Selbstheilungstendenzen mittels Therapie kann langfristige Erfolge ermöglichen, weil Patientinnen lernen, auch im nachtherapeutischen Zeitraum mit sich selbst weiterzuarbeiten1.

Bei den manualisierten Vorschlägen zur Behandlung von Traumafolgestörungen geht es uns darum, pathogene wie salutogene Tendenzen aufzugreifen, Ressourcen zu stärken und Reifungsprozesse zu fördern. Wir verstehen psychodynamische Traumatherapie als eine Form der Psychotherapie, die nicht nur den traumatischen Prozess, sondern das gesamte Krankheitsgeschehen der Verhinderung einer Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit aufgreift, um es in eine salutogene Richtung zu lenken. Wir sind daher bemüht, an den Entwicklungsprozess des Kindes, der Jugendlichen oder jüngeren Erwachsenen dort wieder anzuschließen, wo er unterbrochen wurde, und streben an, eine kreative Weiterentwicklung der Person zu unterstützen.

Wir gehen außerdem davon aus, dass Symptome – eben weil die Patientin deren progressiven, salutogenen Anteil in ihr Selbst- und Weltverständnis integrieren kann – auch als Ressource genutzt werden können. Das Therapieziel in der psychodynamischen Traumatherapie beschränkt sich daher nicht auf die Beseitigung von Symptomen, wenngleich wir es für notwendig erachten, Patientinnen bei der Bewältigung von Symptomen, die zu massiven Beeinträchtigungen führen, frühestmöglich zu einer verbesserten Selbstkontrolle und vor allem Selbstberuhigung anzuregen.

Entsprechend verfolgt das therapeutische Vorgehen zwei Ziele:

  1. mithilfe gezielter Interventionen die Wiederaufnahme des Traumaverarbeitungsprozesses zu fördern,

  2. progressive Entwicklungsschritte zu unterstützen.

|2|Traumafolgestörungen bzw. der Zusammenhang zwischen der sich präsentierenden Belastungssymptomatik und der Erfahrung multipler frühkindlicher Traumatisierungen werden häufig nicht erkannt bzw. erfragt. Das führt dazu, dass Patienten in einzel- oder gruppentherapeutischen Sitzungen ohne ausreichende Stabilisierung für sie extrem belastenden Erinnerungen ausgesetzt werden. Die unvorbereitete und manchmal auch unreflektierte Aufforderung zu erzählen, führt dann schnell zu einer für die Patientin unkontrollierbaren Affektüberflutung, die zu einer Symptomverstärkung oder gar einem Therapieabbruch führen kann.

Versteht man unter Traumakonfrontation das detaillierte Erinnern traumatischer Ereignisse, verbunden mit dem Erleben zum Teil extrem schmerzhafter Gefühlszustände und körperlicher Abreaktionen, so sollte dieses niemals ohne eine vorhergehende Stabilisierungsphase und die Sicherstellung von innerer und äußerer Sicherheit stattfinden.

Die Traumaverarbeitung kommt erst dann zu einem Abschluss, wenn die Persönlichkeit in der Lage ist, Erinnerungen und Gefühle im Zusammenhang mit dem Trauma bewusst hervorzurufen, ohne ihnen verhaftet zu bleiben. Ein weiteres Kriterium ist die Integration der traumatischen Erfahrung in die Selbststruktur und Ich-Identität.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Ziel der Therapie vor allem bei Men-made-Desastern die Wiederherstellung der persönlichen Sicherheit und Identität der Betroffenen ist. Es geht uns daher um Kontrolle von Dissoziationen, Stärkung und Integration des Selbstbewusstseins und des Selbstwerterlebens sowie der Selbstwirksamkeit unter Einbezug der Innenwelt in ihrer ganzen Tiefe und Breite in den therapeutischen Prozess. Die Arbeit mit den „Gestalten der inneren Bühne“, bei der wir uns am Ego-State-Modell nach Watkins und Watkins (2012) orientieren, erscheint uns notwendig im Sinne der Nachreifung der Persönlichkeit. Für einen psychodynamischen Zugang halten wir es für entscheidend, den inneren Zusammenhang der Symptomatik zu verstehen.

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass wir bei unserem Modell der psychischen Traumatisierung von der Annahme ausgehen, dass der Prozess der Traumaverarbeitung auch sozialer Natur ist bzw. dass er durch soziale Faktoren massiv beeinträchtigt werden kann. Wird den Opfern nicht jene Anerkennung und Unterstützung zuteil, die von ihrem Gerechtigkeitsempfinden her angebracht erscheint, so kann sich das erschütterte Selbst- und Weltverständnis nicht regenerieren. Das Trauma bleibt „unfasslich“. Die Betroffenen fühlen sich fremd in einer sozialen Welt, die das Unrecht, das ihnen widerfuhr, als solches nicht anerkannt hat. Auch durch – äußerlich betrachtet – geringe „Dosen“ von Retraumatisierung kann der Erholungsprozess unterbrochen werden. Die Betroffenen können dann die Hoffnung auf einen relativen Abschluss des Verarbeitungszyklus und eine Restitution |3|ihres erschütterten Weltverständnisses verlieren. Nicht zuletzt deshalb ist es uns ein wichtiges therapeutisches Anliegen, Hoffnung zu ermöglichen.

Wir wollen im Folgenden anhand einer fiktiven Patientin, die aber in allen Details realen Patientinnen entspricht, darstellen, wie wir arbeiten. Auf diese Patientin, Frau X, wird also im Laufe des Buches immer wieder eingegangen werden.

Fallbeispiel: Erstkontakt

Frau X, Mitte 40, hat sich zur Behandlung angemeldet mit folgenden Beschwerden: Sie könne „fast gar nicht schlafen“. Seit dem Tod ihrer Mutter vor gut einem Jahr leide sie an Depressionen, Panik, Schuldgefühlen. Schon lange leide sie unter nicht erklärbaren Unterbauch- und Menstruationsbeschwerden.

Die Anamneseerhebung erweist sich als schwierig, da die Patientin bei vielen Fragen nicht in der Lage erscheint zu antworten, sie scheint in dissoziative Zustände zu geraten. Daher erklärt ihr die Therapeutin, dass es ihr wichtig sei, dass dieses Gespräch nicht dazu führe, dass der Zustand der Patientin sich verschlechtere, und fragt sie, ob sie etwas darüber hören wolle, wie sie sich besser schützen könne. Dies wird von der Patientin mit Erstaunen bejaht. Die Therapeutin erklärt ihr, dass man sich vor innerer Überlastung z. B. dadurch schützen könne, dass man eine sich beobachtende Haltung einnehme, die dazu führen könne, dass man die Dinge aus einer gewünschten Distanz betrachten würde. Die Patientin findet das interessant und meint, das mache sie doch sowieso, wenn sie dissoziiere. Ja, das sei ähnlich, aber es sei ein wichtiger Unterschied, meint die Therapeutin, wenn man das bewusst mache. Die Patientin versucht dann, diese innere Haltung einzunehmen. Sie ist überrascht, dass sich ihr Befinden dadurch verändert und dass sie ein Erleben von Kontrolle bei dieser Art des Über-sich-Sprechens hat. Ohne dass die Therapeutin es vorgeschlagen hat, redet sie bald von sich in der 3. Person, als „das Kind“. Die Therapeutin beantwortet dies mit einer bestätigenden Nachfrage, ob sie merken könne, dass ihr dies gut tue, was sie bejaht.

Frau X erzählt dann, wie sehr sie an ihrer Mutter hing, dass diese ein sehr lieber Mensch gewesen sei, der Vater allerdings sei ein gewalttätiger Mann gewesen, er habe die Mutter geschlagen, die Kinder, sie und ihre Schwester, auch, und er habe sich „an ihr vergangen“. Bei dieser Mitteilung meint sie, jetzt habe sie Unterbauchschmerzen und sie schäme sich, das auszusprechen. Die Therapeutin bringt zum Ausdruck, dass sie sich vorstellen könne, dass diese Erfahrungen für die Patientin sicher extrem belastend waren, und dass es sie erneut sehr belaste, wenn sie daran denke, und fragt dann: „Wie haben Sie das alles überlebt, |4|Frau X, was hat Ihnen geholfen oder wer hat Ihnen geholfen, zu überleben?“ Die Patientin nennt ihre Mutter, und die Therapeutin geht an dieser Stelle nicht darauf ein – es wäre viel zu früh! –, dass die Mutter sie ja nicht geschützt hat. Später sei eine Lehrerin sehr wichtig gewesen. Die Therapeutin fragt, ob sie von guten Momenten mit der Mutter und der Lehrerin mehr erzählen wolle, was die Patientin bejaht.

Die Therapeutin bemerkt, wie die Patientin sich entspannt und nimmt dies zum Anlass, sie zu fragen, ob sie bemerken könne, dass sie jetzt, wo sie über gute Erfahrungen spreche,...

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