Bevor eine Darstellung von Weidners Konzept einer Konfrontativen Pädagogik stattfindet, sollte noch einmal betont werden, dass Konfrontative Pädagogik nicht das Allheilmittel darstellt und auch nur einen Teil in der Pädagogik ausmacht. Weidner spricht auch von der konfrontativen Methode in der Pädagogik. Sie macht für ihn nur etwa 20% des Professionellen aus, der zu „80% einfühlsam, verständnisvoll, verzeihend und non-direktiv bleiben soll und bei dem Rest dafür umso mehr Biss, Konflikt- und Grenzziehungsbereitschaft besitzen soll“ (ebd.: 9).
Konfrontative Pädagogik ist also nicht eine Alternative zur (richtig verstandenen; s. a. o.) lebensweltorientierten Pädagogik sondern eine Ergänzung (vgl. Kilb, Weidner 2003). Weidner begreift sie als ‚ultima ratio’ im Umgang mit Mehrfachauffälligen, da mit diesen keine adäquaten Ansätze existent sind, und Abwarten und Gewährenlassen bei gewalttätigen Auseinandersetzungen für ihn unprofessionelles Handeln darstellt (Weidner 1999).
Dabei geht es nicht um eine Wiederbelebung von autoritären Strukturen.
Vielmehr fördert sie das Prinzip: ‚Jugend erzieht Jugend’, wie es schon aus verschiedenen pädagogischen Konzepten bekannt ist: Makarenkos Kameradschaftsbericht, Redls Einmassierung des Realitätsprinzips oder Ferrainolas System in Glen Mills sind einige Beispiele dafür (vgl. Weidner 2001b). Dabei wird ein formeller und informeller Gleichklang forciert, der keine subkulturellen Milieus zulässt und die Mitarbeiter mit den Jugendlichen deckungsgleich leben lässt.
Hierbei gilt, dass Konfrontation erst nach einem Beziehungsaufbau UND der im Voraus gegebenen Interventionserlaubnis der Betroffenen stattfinden kann. Es steht auch jedem frei, ein Abbrechen der Konfrontation zu fordern. Die Freiwilligkeit ist dabei eines der obersten Prinzipien.
In den folgenden Ausführungen ist immer im Hinterkopf zu bewahren, dass es bei der Konfrontativen (Methode in der) Pädagogik immer nur um den oben genannten autoritativen Habitus, also die 20% des Professionellen geht, der sich von 100% zu 80% Empathie verabschiedet (vgl. Weidner 2003).
Die Grundlagen einer Konfrontativen Pädagogik findet man in vielen Theorieansätzen wieder, die versuchen jugendliche Gewalt, Aggression und Aggressivität zu erklären. Dabei trifft man vom biologisch-genetischen über den physiologischen, den individualpsychologischen, den sozialpsychologischen, den mikrosoziologischen bis hin zum makrosoziologischen Ansatz (vgl. Albrecht 1993). Und sicher wären noch einige andere denkbar. Diese Phänomene sind nicht in einer Theorie abgehandelt, die sich als die ‚wahre’ oder ‚echte’ bezeichnen kann und somit ist die Auswahl der Theorien nur als eine Auswahl (vor allem durch Weidner) zu verstehen. Dabei können einzelne Ansätze „nur schlaglichtartig Hinweise für das Zustandekommen und die Entwicklung“ der Phänomene geben (Lamnek 2000). Auch wird bei diesen Theorien deutlich, dass sich die interdisziplinaren Grenzen zum Teil sehr weit auseinander bewegen und eine Zusammenarbeit von Juristen, Kriminologen, Soziologen, Pädagogen, Psychologen bis hin zu Politikern auch noch nach der Theoriebildung stattfinden muss.
Aus den sozialisationstheoretischen Konzepten versucht Weidner die ersten Sozialisationsziele für eine Konfrontative Pädagogik zu entwickeln. Er versucht dabei abweichendes Verhalten zu verstehen, aber auch gleichzeitig nicht damit zufrieden zu sein. Dies gilt bei ihm als richtungsweisendes Motto (vgl. Weidner, Kilb, Otto 2003: 19).
II. 1. 1. 1 Handlungskompetenz – der Mehrfachauffällige als produktiver Realitätsverarbeiter
Hurrelmann bezeichnet den Mehrfachauffälligen als produktiven Realitätsverarbeiter, der Sozialisationsprozessen unterliegt (vgl. Hurrelmann 1995: 69ff.). Lerner/ Busch-Rossnagel sprechen von „Individuals as producers of their development“ (vgl. Lerner/ Busch-Rossnagel 1981). Nach Hurrelmann ist die Sozialisation demnach der Prozess, der durch „Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich materiellen Umwelt“ beschrieben wird (vgl. Hurrelmann 1995: 69ff.). Das heißt, dass „Ziel des Sozialisationsprozesses ist ein handlungsfähiges Subjekt“ (Weidner 2001b: 8). Dabei baut der Mehrfachauffällige ein reflektiertes Selbstbild auf (vgl. Hurrelmann 1995: 79f.). Nach Hurrelmann ist die Lebensphase Jugend einem tief greifenden Strukturwandel unterworfen. „Hierbei ist diese historische Ausdifferenzierung aber nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass in einigen Handlungsbereichen des Alltags Jugendliche und Erwachsene vor den gleichen Anforderungen stehen und sie die gleichen Handlung- und Verhaltensformen zeigen. Vielmehr muss in differenzierter Betrachtung gezeigt und davon ausgegangen werden, dass parallel zum Prozess der Ausdifferenzierung von Lebensphasen, der sich tendenziell weiter fortsetzt, auch ein Prozess der Ausdifferenzierung von sozialen Institutionen und Organisationen stattfindet“ (Hurrelmann et al. 1985: 57). Diese Ausdifferenzierung bringt die Jugendlichen dazu eigene Wege der individuellen Entfaltung und der sozialen Integration zu finden. Dabei gelingt es ihnen in vielen Bereichen eine erwachsenenähnliche oder erwachsenengleiche Bewältigung zu erreichen, aber in anderen Bereichen werden ihnen solche Entfaltungsspielräume verschlossen (vgl. ebd.: 57ff). „Da der einzelne aber weiter als ‚produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt’ betrachtet wird, ergeben sich Probleme im Individuations- und Integrationsprozess“ (Schanzenbächer 2003: 35). Diese entstehen als Resultat aus erworbenen, unangemessenen und unzureichenden Kompetenzen im spezifischen, personalen oder sozialen Handlungsbereich. Dabei können die „... von der sozialen Umwelt erwarteten und geforderten Fertigkeiten, Fähigkeiten, Motivationen und Dispositionen nicht erbracht werden. (...) Die Handlungs- und Leistungskompetenzen der Person oder die Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitsentwicklung entsprechen in diesem Fall nach Profil und Struktur nicht den jeweils durch institutionelle oder Altersnormen festgelegten vorherrschenden Standards“ (vgl. ebd.). Weidner beschreibt die (delinquente) Störung des Jugendlichen dabei als „Resultat der Diskrepanz zwischen individuell-sozialer Kompetenz und realen Notwendigkeiten“ (Weidner 2001b: 8).
Die Jugendlichen können auf diese Problematik individuell unterschiedlich reagieren. Entweder gesellschaftlich konform oder eben nichtkonform (vgl. Schanzenbächer 2003: 35). Nichtkonform könnte dabei heißen durch: „politischen Extremismus, Ablehnung vorherrschender gesellschaftlicher Werte, Alkoholismus, Drogenkonsum“ (Hurrelmann et al. 1985: 111), „aber eben auch Kriminalität und Gewalttätigkeit“ (Schanzenbächer 2003: 35).
Hieraus formuliert Weidner auch das erste Sozialisationsziel Konfrontativer Pädagogik: die Entwicklung und Förderung von Handlungskompetenz. Er beschreibt den auffälligen interaktiven Kompetenzmangel von wiederholt aggressiv Agierenden. Diese können zwar durch ihre Körpersprache imposant bis einschüchternd auftreten, aber sie haben sonst keine weiteren Konfliktlösungsstrategien. Und dies reicht offensichtlich in einer Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft nicht aus (vgl. Weidner 2001b: 8; vgl. a. Weidner, Kilb, Jehn 2003: 15). „Die Kompetenz zum Handeln und insbesondere auch zum interaktiven und kommunikativen Handeln ist Voraussetzung dafür, dass sich ein Mensch mit den Erfordernissen und Anforderungen der Umwelt arrangieren und dabei die eigenen Motive, Bedürfnisse und Interessen berücksichtigen und einbringen kann.“
Die Dimensionen der Handlungskompetenz sind hierbei zugespitzt formuliert: Empathie, Frustrationstoleranz, Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz sowie Rollendistanz (vgl. ebd.).
Diese verschiedenen Dimensionen sind dabei bei Mehrfachauffälligen nur marginal ausgeprägt. Empathie scheint in Bezug auf die Folgen von Delinquenz für die Opfer und die signifikanten Anderen (eigene Kinder, Eltern, Freunde) fast überhaupt nicht vorhanden und die Frustrationstoleranz scheint bei den meisten, die auch selber oft genug frustriert wurden, fast aufgebraucht. Der Ambivalenztoleranz und ihrer mehrdeutigen Rollenerwartung werden die meisten kaum gerecht, da sie nicht zwischen ihren Interaktionsriten und dem Szene-Slang in ihrer Subkultur sowie dem Verhalten in der ‚öffentlichen’ Gesellschaft unterscheiden können. Die Rollendistanz ist bei den meisten förderungswürdig. Dabei geht es darum, dass die meisten auf Abstand zu ihrer eigenen Rolle gehen und gemäß dem Motto ‚Wir spielen alle Theater’ ihre eigene delinquente Rolle humorvoll hinterfragen können. Die ’positionsbejahende Rollendistanz’ ist dabei mangelhaft ausgeprägt, was sich zum Beispiel durch die „gelegentliche Ironisierung und Verfremdung vermeintlich zwingender Rollenverpflichtungen, an der Fähigkeit zum Perspektiven- und Rollenwechsel (...) oder auch an einer pointierten Hervorhebung der Rollenhaftigkeit“ feststellen lässt (Biermann 1992: 47; vgl. a. Weidner 2001b: 9).
II. 1.1.2 Prosoziales Verhalten
Neben dem Aufbau von...