Einleitung
Die Welt könnte mal wieder ein paar Helden gebrauchen.
842 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Fast sieben Millionen Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Die Erde wird wärmer und ganze Landstriche drohen unbewohnbar zu werden. Zahlreiche Tierarten, die seit Tausenden Jahren auf der Erde leben, sind fast ausgestorben. Und auf der ganzen Welt müssen Patienten sterben, obwohl ihre Ärzte genau wissen, wie man sie retten könnte.
Höchste Zeit also für Heldentaten. Doch wo sind sie, die Retter der Welt mit ihren übernatürlichen Kräften?
Dort, wo man sie nicht vermutet. In Professorenzimmern, Bibliotheken, Hörsälen und Forschungsinstituten. Gebeugt sitzen sie über langen Formelsammlungen und starren auf Computerbildschirme. Sie haben keine flatternden Umhänge und können auch nicht fliegen, aber ihre Kräfte sind trotzdem heldenhaft. Denn sie erforschen seit mehr als 2000 Jahren, wie man die Probleme der Menschheit löst. Wer die Welt retten will, muss Ökonomen fragen.
Ökonomen? Sind das nicht diese realitätsfremden Pseudowissenschaftler, die nur an die Kraft des freien Marktes glauben und mit ihren Prognosen über das Wirtschaftswachstum immer so peinlich daneben liegen? Und die sollen die Welt retten?
Zugegeben: Ökonomen haben momentan nicht gerade den besten Ruf. Und das auch nicht ganz zu Unrecht, wie wir gleich sehen werden. Aber Ökonomik ist viel mehr als Wachstumsprognosen und naiver Glaube an selbstheilende Marktkräfte. Sie ist eine Wissenschaft, die Gutes tun will. In Ökonomen schlummern wahre Heldenkräfte. Jeden Tag kämpfen mutige Ökonomen für eine bessere Welt. Sie helfen den Armen, jagen Verbrecher und legen korrupten Politikern das Handwerk. Ökonomen wissen, wie man den Klimawandel bremsen, den Hunger auf der Welt besiegen und bedrohte Tierarten retten kann. Und dafür brauchen sie nur ein paar Formeln, Tabellen und eine Handvoll scharfer Gedanken.
Wir werden uns in diesem Buch auf eine wahre Heldenodyssee um die ganze Welt begeben. Dabei werden wir Ökonomen treffen, die in Mexiko mit mathematischen Modellen Drogenkartelle bekämpfen und wissen, warum in Indonesien Regionalwahlen den Regenwald zerstören. Wir werden mit Wirtschaftsforschern an der Börse Jagd auf korrupte Politiker machen und in Südafrika und Kenia beobachten, wie Ökonomen versuchen, Nashörner und andere seltene Tiere vor Wilderern zu retten. In Indien und auf den Philippinen werden wir Ökonomen besuchen, die den Armen helfen, mehr Geld zu verdienen und weniger Kinder zu bekommen. Und in den USA einen Nobelpreisträger kennenlernen, der Märkte erschafft, wo es eigentlich keine geben darf, und damit todkranken Patienten das Leben rettet.
Um zu verstehen, wie Ökonomen all diese Heldentaten vollbringen können, müssen wir sie und ihre mysteriöse Wissenschaft aber zunächst etwas näher kennenlernen. Und vor allem die Frage klären, wie es passieren konnte, dass Ökonomen einen dermaßen schlechten Ruf bekommen haben, obwohl sie doch so viel Gutes tun.
Hohe Erwartungen und fatale Fehler
Ökonomen haben einen sehr wichtigen Job, da sind sich alle einig. Sie sollen die Wirtschaft verstehen und vor allem beherrschbar machen. Politiker wollen von ihnen zum Beispiel wissen, was sie tun müssen, damit die Wirtschaft wächst und alle Menschen einen Arbeitsplatz haben. Oder wie die Menschen reagieren würden, wenn die Steuern steigen würden. Vor allem aber sollen Ökonomen herausfinden, wie man Wirtschaftskrisen verhindern kann.
Denn die Wirtschaft macht vielen Menschen Angst. Immer wieder kommt es zu großen Krisen, platzenden Finanzmarktblasen und spektakulären Unternehmenspleiten. In den Wirtschaftsteilen der Zeitungen stehen jeden Tag schlechte Nachrichten: Unternehmen bauen Arbeitsplätze ab, Investmentfonds verlieren die Altersvorsorge ihrer Anleger und Banken werden mit Steuergeldern gerettet.
Wie schön wäre es da, wenn es jemanden gäbe, der die Wirtschaft zähmen könnte? Oder zumindest ein wenig in die Zukunft blicken. Deswegen sind Ökonomen so gefragte Gesprächspartner. Ständig werden sie in Talkshows eingeladen, wo sie dann mehr oder weniger weise Ratschläge erteilen dürfen. Oder sie werden in seitenlangen Zeitungsinterviews gefragt, wie es weitergehen soll mit der Welt. Auch die Bundesregierung hört auf Ökonomen: Viele arbeiten als Berater für Politiker, und einmal im Jahr bekommt die Bundeskanzlerin ein voluminöses Buch mit neuen Vorschlägen für die Wirtschaftspolitik überreicht, das ein Team aus Ökonomen zusammengeschrieben hat, das Jahresgutachten der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen. Der tschechische Ökonom Tomáš Sedlá?ek bezeichnet Ökonomen als moderne Propheten. Sie seien für uns so etwas wie das Orakel von Delphi, das den Menschen im antiken Griechenland die Zukunft vorhersagte.
Doch während die Priester in Delphi nahezu vergöttert wurden und ein sehr hohes Ansehen genossen, haben unsere modernen Propheten, die Ökonomen, inzwischen einen ziemlich miesen Ruf. Ein Grund dafür: Mit ihren Zukunftsprognosen liegen sie regelmäßig gehörig daneben. 2009 setzten sich zwei Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) an eine sehr selbstkritische Studie. Sie untersuchten, wie gut die wichtigsten deutschen ökonomischen Forschungsinstitute zwischen 1996 und 2006 die Entwicklung der Wirtschaft vorausgesagt hatten. Jedes Jahr geben mehrere Institute eine gemeinsame Prognose ab, an der sich Politiker und Unternehmen orientieren. Die Institute sind stolz auf ihre komplizierten ökonomischen Modelle und Berechnungsmethoden, mit denen sie versuchen, wissenschaftlich exakt in die Zukunft zu schauen. Das Ergebnis der Auswertung der DIW-Forscher war daher ein kleiner Schock. Im Durchschnitt hatten die Ökonomen das Wirtschaftswachstum in den zehn Jahren um 50 Prozent überschätzt. Die Wirtschaft war also immer nur halb so stark gewachsen wie von den Ökonomen vorhergesagt.
Wie können sich angebliche Wirtschaftsexperten so krass irren, fragen sich viele. Politiker begannen an den Gutachten der Ökonomen zu zweifeln. Der SPD-Politiker Peter Struck schlug 2008 sogar vor, den Sachverständigenrat, der die vom DIW untersuchten Gutachten erstellt, kurzerhand aufzulösen. Die Ökonomen würden mit ihren Prognosen ja ohnehin nur heiße Luft produzieren, so Struck damals. Die schlechte Trefferquote bei der Prognose des Wirtschaftswachstums ist ein entscheidender Grund für die massiven Imageprobleme, die Ökonomen bis heute haben. Zum endgültigen Desaster für die Wirtschaftswissenschaften wurde aber etwas anderes: der Zusammenbruch einer US-Investmentbank.
Als im Herbst 2008 Lehman Brothers pleite ging, begann für die Weltwirtschaft eine harte Zeit. Das internationale Finanzsystem fiel in eine Schockstarre, weil sich Banken untereinander kein Geld mehr leihen wollten. Plötzlich kamen auch große Banken und Versicherungskonzerne wie der US-Konzern AIG in Zahlungsschwierigkeiten. Und obwohl zahlreiche Staaten panisch begannen, ihre Banken mit Steuergeldern zu retten, und die Zentralbanken in den USA, Europa und Japan unvorstellbare Mengen Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpten, wurde aus der Finanzkrise bald ein globaler wirtschaftlicher Flächenbrand. Selbst Länder wie China und Russland, deren Wirtschaft zuvor jahrelang sehr stark gewachsen war, erlebten einen schmerzhaften Einbruch. Besonders hart traf es Europa, wo die Wirtschaftskrise bald eine Staatsschuldenkrise auslöste, die bis heute andauert und dafür gesorgt hat, dass Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze und Ersparnisse verloren haben.
An dem ganzen Unheil haben Ökonomen leider einen großen Anteil. Die große Wirtschaftskrise ist auch eine Krise der Ökonomik. Die meisten Wirtschaftsforscher haben den Absturz der Wirtschaft erst nicht kommen sehen und dann auch noch extrem unterschätzt. Und sie haben einen großen Anteil daran, dass die Katastrophe überhaupt passieren konnte.
In den Jahren vor der Finanzkrise hatten sich viele Ökonomen ausgiebig auf die Schulter geklopft. Sie glaubten, die Wirtschaft endlich im Griff zu haben. Seit den Achtzigerjahren hatte es keine schlimmen Einbrüche mehr gegeben und auch die Inflation hielt sich seit einiger Zeit in Grenzen. Besonders stolz waren die Wirtschaftswissenschaftler darauf, wie gut sie mit der geplatzten Spekulationsblase am Markt für Technologiekonzerne umgegangen waren. Obwohl zahlreiche Investoren dabei viel Geld verloren hatten und damals eine Massenpanik am Finanzmarkt drohte, hatte sich das Wirtschaftssystem relativ schnell wieder erholt. Verantwortlich dafür war vor allem die Zentralbank der USA, die Federal Reserve, die die Märkte nach dem Platzen der Blase mit billigem Geld versorgt hatte. Dabei hatte sie auch auf den Rat von Ökonomen gehört, die sich den Erfolg daher groß auf die Fahne schrieben. Die Modelle der Ökonomen, mit denen sie den Finanzmarkt erklärten, schienen tatsächlich zu funktionieren. Die US-Amerikaner nennen diese erfolgreiche Zeit die »Great Moderation«, die Große Mäßigung. Viele Ökonomen ließen sich aufgrund dieser Erfahrungen zu gewagten Aussagen hinreißen. Ben Bernanke, der aktuelle Präsident der Federal Reserve und ein hoch dekorierter Ökonom, rief 2004 das Ende der Wirtschaftskrisen aus. Weil Ökonomen wüssten, wie sie die Wirtschaft steuern können, würde es in Zukunft nur noch kleinere Einbrüche und keine großen Krisen mehr geben. Das fand bald Einzug in die Modelle. Krisen kamen darin nicht mehr vor, die Wirtschaft befand sich vorgeblich in einem harmonischen Gleichgewicht.
Die Realität sah bekanntlich anders aus. Durch den Kollaps von Lehman Brothers und die folgende schwere Krise fielen...