Teil I
Ludwig von Mises und der Liberalismus –
von Hans-Hermann Hoppe
»Ich wollte Reformer werden, doch ich bin nur der Geschichtsschreiber des Niedergangs geworden.«
Ludwig von Mises, Erinnerungen, 1978, S. 76.
Der Zusammenbruch des Sozialismus in der ehemaligen Sowjetunion und den Ländern Osteuropas hat auch den Namen Ludwig von Mises wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Zusammen mit Friedrich A. Hayek und Milton Friedman wird Ludwig von Mises als einer der Kritiker des Sozialismus genannt, der diesen Kollaps vorausgesagt hat. Aber noch in dieser Gleichsetzung mit Hayek oder Friedman kommt zum Ausdruck, dass Mises und sein Werk im deutschen Sprachraum heute tatsächlich so gut wie unbekannt sind. Heute weiß man in seinem heimatlichen Österreich weniger über ihn als in den USA, wo er das letzte Drittel seines Lebens zubrachte. Dabei ist Ludwig von Mises eine der herausragenden Geistesgestalten des 20. Jahrhunderts und sein sicherlich bedeutendster Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker. Friedrich Hayek hat seine Bedeutung mit der von Voltaire, Montesquieu, Tocqueville und John Stuart Mill verglichen.1 Doch selbst dieser Vergleich wird ihm kaum gerecht. Denn Mises hat – kulminierend in seinem Magnum Opus, dem aus seiner Nationalökonomie hervorgegangenen Human Action – ein geistiges Monument geschaffen, das in Grundlegung und Systematik, thematischem Umfang, Geschlossenheit und Vollständigkeit der Darstellung, begrifflicher Klarheit und Schärfe sowie Zeitlosigkeit der Geltung im Bereich der Sozialwissenschaften einzigartig ist. Im Vergleich mit ihm erscheinen die Arbeiten selbst der bedeutendsten seiner Vorgänger dilettantisch.
Wie kommt es dann zu der Missachtung, die Ludwig von Mises erfahren hat? Sein Leben und Werk halten die Erklärung bereit. Es war Mises’ Schicksal ausgerechnet im 20. Jahrhundert – dem Zeitalter des Sozialismus: von Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus und Sozialdemokratie – zum größten Theoretiker des Liberalismus und Kapitalismus heranzureifen.
1. Die Entwicklung der Geldtheorie Mises’
Ludwig von Mises wurde am 29. September 1881 als ältester Sohn von Arthur Edler von Mises und seiner Ehefrau Adele, geborene Landau, in Lemberg geboren.2 Sein Vater, ein Ingenieur des österreichischen Eisenbahnministeriums, war zu dieser Zeit in Lemberg, in der Provinz Galizien der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, stationiert. Seine Schulzeit verbrachte Ludwig von Mises in Wien. Im Jahr 1900 begann er an der dortigen Universität das Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, das er 1906 als Doktor der Rechte abschloss. Es folgten einige Jahre mit verschiedenen rechtsanwaltlichen Tätigkeiten. 1909 begann seine Beschäftigung als Sekretär bei der Wiener Handelskammer, die, unterbrochen von seiner Kriegsteilnahme, bis 1934 andauerte und in deren Rahmen er sich von 1919 an die Stellung als der Ökonom Österreichs schuf. Parallel dazu begann er seine Lehrtätigkeit, zunächst an der Wiener Handelsakademie für Mädchen, nach seiner Habilitation 1913 als Privatdozent und schließlich, ab 1918, als unbesoldeter außerordentlicher Professor an der Universität Wien.
Um 1900 war praktisch jedermann im deutschen Sprachgebiet Etatist oder Staatssozialist. Kapitalismus und Liberalismus galten als überholt und überwunden. Selbst Anti-Marxisten hatten keinerlei Zweifel daran, dass der Sozialismus einen »berechtigten Kern« enthalte, und forderten dementsprechend ausgedehnte staatliche »Sozialreformen«. Im Bereich des Geisteslebens stand der Historismus auf dem Zenit seiner Erfolge. Wirtschaftsgeschichte war die Modewissenschaft. Auf die klassische, abstrakt-theoretische Nationalökonomie blickte man voller Verachtung. Es galt als ausgemacht, dass es universell gültige ökonomische Gesetze nicht gebe. Theorie, wenn sie überhaupt möglich sei, könne nur aus der wirtschaftsgeschichtlichen Erfahrung abstrahiert werden. Gustav von Schmoller (1838–1917) galt als der große Meister der »wirtschaftlichen Staatswissenschaften«. Seine Schule, die Kathedersozialisten, dominierte die Universitäten, insbesondere im Deutschen Reich. Wissenschaft war das Veröffentlichen von aus Aktenbündeln zusammengekleisterten Materialsammlungen. Man bekannte sich, historisch »aufgeklärt«, zum Relativismus. Und als Staatsbeamter fühlte man sich dann dazu berufen, zur Verherrlichung und Rechtfertigung des Staates beizutragen. Man empfand sich zunächst als die intellektuelle Leibgarde des Hauses von Hohenzollern, dann als die der regierenden Sozialdemokraten und schließlich als die Hitlers, den Werner Sombart (1863–1941), der berühmteste der Nachfolger Schmollers, als den Träger göttlichen Auftrags preisen sollte.
Auch Mises war am Beginn seines Studiums Etatist. Er lehnte zwar den Marxismus ab. Der Relativismus der »historischen Schule« erschien ihm unsinnig. Und die Glorifizierung des preußischen Staates durch die Mehrzahl der kleindeutschen Historiker hielt er für lächerlich. Aber er war doch glühender »Sozialreformer«. Wenn eine sozialpolitische Maßnahme nicht zum gewünschten Erfolg führte, dann konnte dies nur daran liegen, dass sie nicht radikal genug war. Im Liberalismus, der die soziale Reform ablehnte, sah er eine verfehlte Ideologie, die man energisch bekämpfen müsse. So wurde der Wirtschaftshistoriker Carl Grünberg, ein Anhänger der historischen Schule, sein erster Lehrer. Durch Grünberg angeregt, schrieb Mises sein erstes, noch ganz im Stil der historischen Schule befangenes Buch – eine Geschichte des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Galizien.3 Doch erste Zweifel begannen sich zu regen. Eine Untersuchung über den Wiener Wohnungsmarkt brachte Mises zu dem Schluss, dass die ungünstigen Wohnverhältnisse ihre Ursache in einer Steuergesetzgebung hatten, die die unternehmerische Betätigung auf dem Gebiet des Häuserbaus unmöglich machte. Und dann, gegen Ende 1903, las er Carl Mengers Grundsätze der Volkswirtschaftslehre.4
Durch dieses Buch wurde Mises zum Nationalökonom. Im Jahr 1904 trat Eugen von Böhm-Bawerk von seinem Amt als österreichischer Finanzminister zurück und übernahm ein persönliches Ordinariat an der Wiener Universität. Böhm, von 1881 bis 1889 Professor in Innsbruck und der herausragende Nachfolger und Fortsetzer der durch Carl Menger begründeten Tradition der Wiener – oder Österreichischen – Schule der Ökonomie, wurde nun folgerichtig Mises’ wichtigster persönlicher Lehrer. Bis 1913 war Mises regelmäßiger Teilnehmer am Böhm’schen Seminar.5
Gegenstand der letzten zwei Semester des Seminars war Mises’ 1912 veröffentlichte Habilitationsschrift, die bis heute unübertroffene Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel.
In diesem Buch, Mises’ erstem Hauptwerk, wurde nicht nur sein vollständiger Bruch mit der historischen Schule und ihrer Methode deutlich. Mises etablierte sich mit ihm zugleich als der Führer der dritten Generation der Österreichischen Schule. Mises vervollständigte das System Mengers und Böhm-Bawerks um die Geldtheorie. Zum ersten Mal wurden Geldtheorie (im modernen Jargon: Makroökonomie) und allgemeine Nutzentheorie (Mikroökonomie) integriert. Einer systematisch aufbauenden, logischen Schritt-für-Schritt-Analyse folgend, glänzt das Buch mit einer Fülle grundlegender Einsichten. Mises demonstrierte u. a., dass Geld als ein zum Zweck des Wiederverkaufs gehaltenes Tauschmittel ursprünglich nicht anders als in der Form eines Warengeldes (wie z. B. Gold) entstehen kann. Er zeigte, dass jede Geldmenge gleichermaßen »optimal« ist, derart, dass eine Vermehrung der Geldmenge (im Unterschied zu einer Vermehrung von Konsum- und/oder Kapitalgütern) keinerlei sozialen Nutzen begründet, sondern lediglich zu einem Kaufkraftverlust des Geldes führt.6 Er demonstrierte, dass Geldvermehrungen keineswegs zu einem gleichzeitigen und proportionalen Preisanstieg aller Güter führen, sondern eine Veränderung des gesamten Systems relativer Preise und Einkommen bewirken. Mehr noch, Mises analysierte die staatliche Geldpolitik und machte dabei sichtbar, dass er ebenso vollständig auch mit seinem früheren Etatismus gebrochen hatte. Er arbeitete heraus, warum Regierungen und Zentralbanken tendenziell inflationär handeln: Die vermehrte Geldmenge kommt nicht allen Personen gleichzeitig zugute. Es ist die Regierung bzw. ihre Zentralbank, die ursprünglich über das neue Geld verfügt. Von ihr ausgehend fließt das Geld an andere Personen und erhöht dabei Schritt für Schritt die Preise eines immer weiteren Kreises von Gütern. Im Verlauf dieses Prozesses kommt es zu einer systematischen Einkommensumverteilung zugunsten der ursprünglichen – und früheren – Geldbesitzer und zuungunsten derjenigen, die das neue Geld erst später, zuletzt oder nie empfangen. Inflation ist ein Instrument der versteckten Besteuerung sowie der Einkommensumverteilung zugunsten des Staates und der von ihm begünstigten Personen- und Unternehmenskreise. Darüber hinaus präsentierte Mises erstmals, auf Anregungen David Ricardos (1772–1823) und der britischen Currency School sowie des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell (1851–1926) aufbauend, die Grundzüge seiner bahnbrechenden – nachfolgend als »österreichisch« bezeichneten – Konjunkturtheorie. Auch für Konjunkturzyklen sind Regierungen und Zentralbanken verantwortlich: Sofern das...