Die Forschungsergebnisse der Biologen Maturana und Varela haben gezeigt, dass isoliert beobachtete Prozesse immer in Systeme involviert sind, deren Systemeigenschaften sich nicht hinreichend durch analytische Herleitungsverfahren erklären lassen, sondern erst durch Emergenzphänomene beschreibbar werden, die das Auftauchen neuer Qualitäten durch die Kombinationen und die Wechselwirkungen der einzelnen systembildenden Elemente in den Mittelpunkt der Untersuchungen rücken (vgl. Maturana/ Varela 1987). Nicht im einzelnen Element selbst und auch nicht in einem präzisen Studium seines Aufbaus oder seiner unmittelbaren Nachbarschaft sondern im Muster seiner Interaktionen mit allen anderen Elementen und dem übrigen Geschehen im Inneren des umgebenden Systems verbirgt sich das Geheimnis
seiner Bedeutung. Beobachtbare Prozesse erscheinen unter diesen Voraussetzungen stets zurückgeworfen auf ihre netzwerkartige Verknüpfung in das bedingende System. So auch die Wahrnehmungen des Menschen als Emergenzphänomene des Systems Gehirn.
Lebende Systeme bestehen aus einer Vielzahl von Elementen, die sich durch die von ihnen gebildete spezifische Systemstruktur auszeichnen. Die individuelle Gestalt des systemintern geknüpften Netzwerkes geht in der Organisationsform ihrer materialen Existenz auf und ist zugleich die Grundlage potentieller Emergenzphänomene. Die menschliche Systemstruktur ist durch die Epidermis klar von der umgebenden Umwelt abgetrennt. Sie begrenzt das menschliche System und verbindet es zugleich mit seiner Umgebung. Umweltreize, die aus dem umgebenden Milieu durch den sinnlichen Filter dieses strukturell vorgegebenen Koppelungsverhältnisses auf das System Mensch treffen, verursachen interne Strukturveränderung. 8 Maturana und Varela folgend stehen nur die konkreten Strukturen der von den einzelnen Elementen des Systems unterhaltenen netzwerkartigen Verbindungen in einem reaktiven Verhältnis mit der Umwelt, während die Organisationsform von dieser unberührt bleibt (vgl. Maturana/ Varela 1987). Im Rahmen der internen Strukturveränderungen findet ihrer Argumentation folgend kein externer Bestandteil Eingang in das menschliche System, sondern die als Perturbationen bezeichneten äußeren Einwirkungen erzeugen unspezifische Impulse zu systemimmanenten Veränderungsprozessen (vgl. ebd.). Eine These, die, wenn man sie von der allgemeinen Ebene lebender Systeme auf die spezielle Ebene der menschlichen Kognition zuspitzt, radikale Folgen nach sich zieht. Die Rezeptoren der Sinnesorgane bringen Nervenimpulse hervor, die das Gehirn nach eigenen Maßgaben verarbeitet. Die Produktion kognitiv verwertbarer Impulse ist ein Überführungsprozess, bei dem die Sinnesorgane das, „was in unserer Umwelt passiert, in die Sprache des Gehirns“ (Roth 1994a, S. 80) übersetzen. Der Übergang von der chemischen und physikalischen Umwelt zu den Wahrnehmungsgegenständen des Gehirns verläuft folglich in Form eines radikalen Umwandlungsprozesses, in dem die „Komplexität der Umwelt“ (Schmidt 1996, S. 155) zerlegt wird in „Erregungszustände von
Sinnesrezeptoren, aus denen das Gehirn durch komplexe Mechanismen die überlebensrelevante Komplexität der Umwelt erschließen muss“ (ebd.). Der Operationsmodus des Gehirns ist demnach informationell geschlossen. An dieser Stelle findet ein zentrales Argument der konstruktivistischen Erkenntnisauffassung seine neurophysiologische Grundlage, das Prinzip der undifferenzierten Codierung (vgl. v. Förster 2003). Den Darstellungen von Försters ist zu entnehmen, dass die Erregungszustände der Sinneszellen keinerlei Rückschlüsse auf die physikalische oder chemische Natur des Reizes zulassen, sondern lediglich unterschiedliche Reizintensitäten verzeichnen. Die Sinneszellen sind „sämtlich blind für die Qualität der Reize und sprechen lediglich auf deren Quantität an“ (v. Förster 2004, S. 44).
Die Signale, die über die Sinneszellen das Gehirn erreichen, beinhalten keine Hinweise auf die Eigenschaften des Reizerregers, sondern verweisen ausschließlich auf den gereizten Körperbereich und die Intensität des wahrgenommenen Reizes (v. Förster 2004, S. 44). Folgt man der These der undifferenzierten Codierung, vollzieht sich Wahrnehmung demnach innerhalb eines geschlossenen Systems, welches keinerlei Abbildung der in der Außenwelt befindlichen Objekte erzeugen kann, sondern bei der Hervorbringung von Wahrnehmung stets auf systemimmanente Kodierungen zurückgreifen muss. Neurologisch gesprochen wird die Welt unseres Erlebens in den Aktivitätsmustern der Nervenzellen und Nervenzellverbänden verkörpert.
Die jeweiligen Wahrnehmungszustände sind die Ergebnisse spezifischer neuronaler Zustände und ihrer äußerlich angeregten und intern vollzogenen Modifikation. Wie diese Modifikationen aus äußeren Reizen gebildet werden hängt, dabei nicht von der Beschaffenheit des Reizes ab, sondern vom strukturellen Zustand des Nervensystems. Im Wahrnehmungsprozess interagiert das Nervensystem folglich mit seinen eigenen Zuständen im Modus der funktionalen Selbstreferentialität.
Der Interaktionsprozess des Gehirns wird auf dieser Folie als ein dynamischer Systemvorgang begriffen, dessen Wahrnehmungsleistungen in der systemischen Verknüpfung ausgewählter Gehirnprozesse und -zustände bestehen, die ansonsten gleichzeitig und parallel verlaufen (vgl. Miller-Kipp 1995, S. 60f.) So gesehen kann man den Funktionsmodus des Gehirns beschreiben als ein Arbeiten in
„lokalen und parallelen neuronalen Operationen“ (ebd.), die in ihrer selbstreferentiellen Kombination zu selbsttätig vollzogenen geistigen Resultaten führen. Das Gehirn nimmt demnach an der eigenen Dynamik durch Selbstbezug teil und vollbringt durch aktive Kombinations- und Bewertungsleistungen systemimmanente Veränderungen der Systemstruktur, die in „Hervorhebungen von momentan korrelierten neuronalen Ereignissen aus dem allgemeinen Aktivitätszustand“ (Schnmidt 1996, S. 156), den Wahrnehmungen münden. Auf der Basis der neuronal vorliegenden Systemstruktur, wandeln sich so systeminterne Rekursionen zu Erkenntnissen. Der These der informationellen Geschlossenheit schließt sich hier die These der operationale Geschlossenheit an. Die aus den Wandlungsprozessen der Systemstruktur resultierende Wahrnehmung lässt sich dank bildgebender Verfahren in bestimmten Arealen des Gehirns nachweisen, während ihr Zustandekommen unsichtbar bleibt (vgl. Miller-Kipp 1995, S. 61f.). Die systematische Struktur des Gehirns scheint im Prozess der Wahrnehmung die Entstehung spontaner Qualitäten zu begünstigen, die nicht mit eindeutig identifizierbaren Hirnarealen in Verbindung gebracht werden können und sich letztlich auf unerklärlichen Wegen zu einem nachweisbaren Wahrnehmungsergebnis bündeln. Durch diese Grauzone im Produktionsprozess der Wahrnehmung lässt sich mit dem oben bereits eingeführten Begriff die Wahrnehmung selbst als Emergenzphänomen beschreiben. Die Tatsache, dass die Wahrnehmung als das Resultat struktureller Veränderungen gelten kann, die in ihren verknüpfenden Interaktionen offensichtlich mehr hervorbringt als die Summe ihrer Teile, vermag dies zu bestätigen. Die nicht näher spezifizierbare Verknüpfungsleistung des Gehirns verleitet zum Verlassen der analytischen Ebene neuronaler Materialität und verweist stattdessen auf die spekulative Ebene metaphysischer Annahmen.
Selbst für Konstruktivisten ist dies oft der einzige Ausweg aus den entstehenden Unschärfen einer empirischen Bezugswissenschaft im Kontext erkenntnistheoretischer Erklärungsansätze. 9
Das neurologische Interesse indes bleibt dem Empirischen verpflichtet und beschränkt sich auch jenseits offenkundiger Erklärungsnotstände auf das
Beschreibbare. Da sich kein Gehirnareal lokalisieren lässt, von dem eine differenzierende Funktion im Prozess der Verknüpfungen ausgeht, distanziert man sich von der Vorstellung eines angeborenen kognitiven Gesamtplans und nimmt an, dass die neuronale Hirnstruktur erst im Verlauf der spezifischen Entwicklungsgeschichte ausreift und sich in Folge dessen individuell unterscheidet. Das Gehirn fungiert damit nicht nur als Empfänger sinnlich erfahrener Eindrücke, sondern vollzieht im Rahmen individueller Ontogenese zudem die Zuschreibung spezifischer Bedeutungen. Diese
Bedeutungszuschreibung basiert auf dem Einfluss bereits individuell vorliegender Erfahrungen und vollzieht sich daher im Modus der semantischen Selbstreferentialität. Die individuell gewonnenen Erfahrungen werden nach nicht näher spezifizierbaren Kriterien im Gehirn abgelegt und anschließend als neuronaler Impuls zu einem organisierenden Faktor aller folgenden Verknüpfungen im Rahmen des Wahrnehmungsaktes bestimmt (vgl. ebd.). Die eigenständige Synchronisation der eingehenden Eindrücke vor dem Hintergrund der spezifischen Systemstruktur realisiert zudem die Entstehung von Erfahrungszusammenhängen, deren Einheit von den übrigen Erfahrungen unterscheidbar wird und ebenfalls organisierende Funktionen übernimmt. Der sich dabei vollziehende Wandlungsprozess der neuronalen Ausgangssituation im Prozess der Wahrnehmungen wird als natürliches Driften bezeichnet (vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 103).
Wenn sich auch das konkrete Zustandekommen der neuronalen Bewertungsgrundlage durch die Verbindung aller bisher vollzogenen Wahrnehmungen und der mit ihnen in direkter Verbindung stehenden Erfahrungen einer neurophysiologischen Beschreibung entzieht, so geht die zentrale Funktion des Gedächtnisses als erkenntnisvermittelnde...