Die im folgenden beschriebene prozessorientierte biographische Gruppenarbeit befasst sich als Aktivitätsangebot in der stationären Altenhilfe hauptsächlich damit, wie demente Menschen ihre Erinnerungen aus geragogischer Perspektive persönlich erfahren, verarbeiten und weitergeben können.
Durch die biographische Gruppenarbeit soll für dementielle Bewohner ein geschützter Raum geschaffen werden, in dem Verleugnungsstrategien aufgrund der ähnlichen Betroffenheit aller Gruppenmitglieder nicht mehr notwendig sind
( Prinzip der Universalität des Leidens in Gruppen ). Das Erleben von gemeinsamer Betroffenheit ist ein zentrales tragendes Element der Gruppe.[162] Dadurch eröffnen sich Freiräume, in denen eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben möglich wird.
Die Gruppenarbeit findet in einem vertrauensvollem Klima statt. Alle Mitarbeiter orientieren sich an den Prinzipien der humanistischen Psychologie von Carl Rogers und entwickeln eine Haltung, die von Einfühlsamkeit, Wertschätzung und Echtheit den Teilnehmern gegenüber geprägt ist. Spezifische Kommunikations-
und Betreuungsmethoden wie Integratives Validieren oder Basale Stimulation finden ihre Anwendung.
In der biographischen Gruppenarbeit wird nach den Inhalten der aktivierenden Pflege gearbeitet. Theoretische Grundlage dieses Pflegekonzeptes ist das Kompetenzmodell, welches Alter als eine eigenständige Entwicklungsphase ansieht. Dies heißt, dass im Alter auch Entwicklung möglich ist, wenn das Betreuungspersonal und die Institution die Vorraussetzungen dafür schaffen. Ziel der biographischen Gruppenarbeit ist es daher, dass Augenmerk auf die Ressourcen ( Fähigkeiten )[163] der Gruppenteilnehmer zu richten z.B. im Bereich des emotionalen Erlebens. Vorhandene Fähigkeiten werden trainiert und erhalten, um eine stärkere Abhängigkeit zu vermeiden.[164] Vorhandene Defizite ( Mängel ) sollten möglichst ausgeglichen werden, etwa das Defizit, sich selbst beschäftigen zu können.
Auf die Bedürfnisse der Teilnehmer soll individuell eingegangen werden. Es können gezielte Betreuungspläne gemeinsam mit ihnen entwickelt werden.[165] Dies kann aufgrund der ermittelten lebensgeschichtlichen Daten z.B. über den Umgang mit Erkrankungen, über die persönliche Einstellungen zu Sterben und Tod, über Eigenarten des sozialen Verhaltens, über entwickelte Leitbilder für das eigene Leben sowie über die im Alter eingesetzten Coping-Strategien geschehen
Der Gruppenteilnehmer hat die Möglichkeit, sich durch Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit Brüchen in der Lebensplanung, Schuldgefühlen und Zerwürfnissen mit sich und anderen und mit unerfüllten Wünschen ein Stück weit zu versöhnen und das eigene Leben anzunehmen. In einer Art Bilanz[166] kann dem
vergangenen Leben ein Sinn abgewonnen und manches eventuell in einem anderen Licht gesehen werden. Der Teilnehmer soll dadurch entlastet und sein subjektives Wohlbefinden gefördert werden. Problematisch kann es sein, wenn unangenehme Erlebnisse hochkommen, die nicht entsprechend verarbeitet wurden. In dieser Situation können menschliche Wärme, Einfühlungsvermögen, Anteilnahme und Zuhören für den Betroffenen hilfreich sein.
Desweiteren soll die biographische Gruppe als Möglichkeit gesehen werden, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen[167] der dementiellen Teilnehmer durch Würdigung der individuellen Lebensgeschichte zu stärken. Die Teilnehmer sollen allmählich an Sicherheit gewinnen, bekommen Mut, sich auf Neues einzulassen und werden neugierig auf Unbekanntes.
Im Laufe des Gruppenprozesses können aber auch die durch langjährige Berufstätigkeit oder familiäres Engagement verdrängten Hobbys, Interessen oder Talente aus der Jugend oder dem frühen Erwachsenenalter wiederentdeckt oder neu belebt werden.[168]
Der Gruppenteilnehmer soll Gefühle wie Lebenslust, Trauer, Ärger und Wut wiederentdecken und eine Möglichkeit haben, diese Gefühle zu äußern.[169] Er kann Spaß daran haben, zuzuhören und unterhalten zu werden und sich mit Freude positive Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufen. Biographische Gruppenarbeit kann depressive Stimmungen auflösen, Abwechslung in den Alltag bringen und die Teilnehmer fröhlicher stimmen. Durch Schaffung einer höheren emotionalen Ausgeglichenheit können auch Symptome wie Angst, Unruhe und Rastlosigkeit reduziert werden. Biographiearbeit ist jedoch keine Therapie. Sie kann nicht eingesetzt werden, um die Teilnehmer von Problemen zu heilen.[170]
Biographische Gruppenarbeit dient dazu, den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart zu spannen. Oft lässt die Diskussion erkennen, dass die „gute
alte Zeit“ gar nicht so schön war wie behauptet. Da ist von drakonischen Erziehungsmaßnahmen, von Elend, Not und Ausbeutung die Rede.
Die Kehrseite von solchen sogenannten Mythen ( etwa die schöne Kindheit, die Kameradschaft der Soldaten usw. ) zu erkennen und zuzugeben ist für einige sicher schmerzvoll, da diese eine schützende Wirkung entfalten.[171] Durch die Aufhebung extrem einseitiger Sichtweisen wird jedoch die eigene Weiterentwicklung unterstützt. Eingefahrene Verhaltensmuster, die heute
überflüssig und blockierend wirken, können entdeckt werden, obwohl diese früher vielleicht einmal sinnvoll waren ( z.B. im Berufsleben ).
Durch biographische Gruppenarbeit soll insbesondere eine Aktivierung der geistigen Fähigkeiten, vor allem des Langzeitgedächtnisses und der Konzentrationsfähigkeit, erfolgen.[172] Sich zu erinnern, mehr oder weniger zusammenhängend erzählen zu können und auch zuzuhören, erfordert komplexe Gedächtnisleistungen. Gruppengespräche wirken in diesem Sinne wie ein Gedächtnistraining.
Zu betonen ist, dass es immer wieder besonderer Anreize und einer moderaten
Gesprächsführung bedarf, um den Erinnerungsfluss zu aktivieren und am Laufen zu halten. Bei dementen Menschen kann nicht erwartet werden, dass dies ohne Vorbereitung und Planung quasi automatisch im Sinne einer eher beiläufig praktizierten alltagsnahen Biographieorientierung geschieht.[173] Die biographische Gruppenarbeit gibt daher gezielte Erinnerungsanstöße.
Die biographische Gruppenarbeit soll der Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit dienen. Biographische Gruppenarbeit nutzt den Umstand, dass es oft nur einer kleinen Anregung bedarf, um demente
Menschen zum Sprechen zu motivieren. Die meisten erinnern sich gern und haben das Gefühl, hier einen Beitrag leisten zu können. Gruppengespräche fördern so das Miteinander. Die Teilnehmer erfahren etwas von anderen
Mitgliedern, die sie bislang nur flüchtig kannten. Der Blick kann von der eigenen Erlebniswelt auf eine andere gerichtet werden.[174]
Auch der Abbau von Kommunikationsängsten wird angestrebt. Wenn ältere Menschen nicht miteinander sprechen, sind nicht immer Desinteresse oder Depressionen der Grund. Oft liegt dies an tiefverwurzelten Ängsten, andere zu langweilen, zu stören oder zurückgewiesen zu werden. Abhilfe schaffen hier Gesprächsregeln und eine Moderation, die eine angenehme und vertrauensvolle Atmosphäre erzielen kann.
Biographische Gruppenarbeit soll das gegenseitige Verständnis und die Akzeptanz fördern. Viele demente Menschen verspüren große Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation und sind sehr ungeduldig mit anderen, insbesondere wenn diese durch physische oder psychische Mängel verhaltensauffällig sind, etwa durch eine laute Stimme, unruhiges Benehmen usw.. In der Gruppe muss man sich zwangsläufig mit diesen Menschen auseinandersetzen und erkennen, welche Persönlichkeiten dahinterstecken: ihre Hoffnungen, ihre Leiden, Freuden und Enttäuschungen. Der Respekt der Gruppenteilnehmer wird vor der Geschichte und der Person des anderen gefördert.[175]
Durch biographische Gruppenarbeit kann die Übernahme einer Rolle innerhalb der Gruppe und die Entwicklung und Stärkung einer Teil-Identität gefördert werden,
denn durch die umfassende Vollversorgung im Heim kann der demente Mensch durch Rollenverlust und Funktionslosigkeit bedroht sein.[176] In der Gruppe haben ältere Menschen einen festen Platz und können durch ihre Mitarbeit anderen von Nutzen sein. Dadurch erleben sie Anerkennung und Bestätigung.
Die Gruppe bietet Raum für soziale Kontakte und stellt damit einen gewissen...