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Kränkungen (Fachratgeber Klett-Cotta)

Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien

AutorFrank-M. Staemmler
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl203 Seiten
ISBN9783608109658
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Warum treffen uns Kränkungen in intimen und anderen nahen Beziehungen oft so tief? Der Autor untersucht Entstehungsbedingungen und Dynamik dieser seelischen Verletzungen, analysiert die typischen Reaktionsmuster und zeigt bessere Verhaltensalternativen auf. Sie sind so alltäglich wie schmerzhaft: Kränkungen unter Paaren, engen Freunden und im Berufsleben. Warum verwunden uns ein Vorwurf, eine unbedachte Kritik, zu wenig Rücksichtnahme oder Aufmerksamkeit manchmal so tief, dass wir glauben, aggressiv zurückschlagen oder gleich die Beziehung in Frage stellen zu müssen? Der Autor untersucht die Dynamik von Kränkungen und die dahinter stehenden Denkmuster, denen wir aufgrund unserer kulturellen Prägung meist automatisch verfallen. Sie zwingen uns in einen Kreislauf von schmerzlichen Gefühlen, beleidigtem Rückzug und Racheimpulsen. Das Buch zeigt, wie wir mit einem tieferen Verständnis das geläufige Täter-Opfer-Schema hinterfragen, besser einordnen und auf konstruktive Weise überwinden können. Partnerschaften wachsen daran ebenso wie andere nahe Beziehungen. - Emotionspsychologische Hintergründe werden gut nachvollziehbar erläutert - Mit Fallbeispielen aus der Praxis Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Auch für Interessierte und Betroffene geeignet

Dr. Frank-M. Staemmler, Diplom-Psychologe, ist Psychologischer Psychotherapeut, Gestalttherapeut und Supervisor; er ist in der Ausbildung von PsychotherapeutInnen tätig, Autor zahlreicher Bücher und Herausgeber internationaler Fachzeitschriften Weitere Informationen zu Frank Staemmler finden Sie auf seiner >> Website.

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Leseprobe

1 Vorbemerkung


Vom Einfluss der Kultur, der Opfermentalität und der Suche nach Würde

»Entschuldigung«, sagte ein Fisch aus dem Ozean zu einem anderen. »Du bist älter und erfahrener als ich und kannst mir wahrscheinlich helfen. Sag mir doch, wo kann ich die Sache finden, die man Ozean nennt? Ich habe vergeblich überall danach gesucht.« »Der Ozean«, sagte der ältere Fisch, »ist das, worin du jetzt gerade schwimmst.« – »Das? Aber das ist ja nur Wasser. Ich suche den Ozean«, sagte der jüngere Fisch enttäuscht und schwamm davon, um anderswo zu suchen. (de Mello 2013, 213)

In der psychotherapeutischen Arbeit lernt man seine Klientinnen und Klienten1 sehr genau kennen. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie stark viele von ihnen in ihren Beziehungen von sozialen Ängsten, Schamgefühlen und erlebten Kränkungen beeinträchtigt sind. Das gilt sowohl für Partnerschaften und Ehen als auch für andere familiäre Beziehungen, aber auch für Freundschaften sowie für Beziehungen zu Kolleginnen und Vorgesetzten am Arbeitsplatz. Im Berufsleben, wo Probleme wie Burn-out oder Mobbing immer häufiger auftreten bzw. thematisiert werden, spielen Kränkungen eine große Rolle.

Weil man in der Arbeit mit Paaren beide Seiten des Problems unmittelbar miterleben kann, zeigen sich hier die Entstehungsbedingungen von Kränkungen in allen Einzelheiten und mit besonderer Deutlichkeit. Außerdem kann man hier sehen, wie frühere und aktuelle Kränkungen es den Beteiligten schwer machen, ihre Verbundenheit und Liebe zueinander deutlich zu spüren und zu genießen. Trotz vielfältiger Bemühungen gelingt es ihnen seltener, als ich es ihnen wünschen würde, aus dem Kreislauf von leidvollen Gefühlen, beleidigtem Rückzug und aggressiven Vorwürfen auszusteigen, sich einander wieder anzunähern und – vor allem – wieder anzuvertrauen. Das hat sowohl erhebliche Auswirkungen auf das seelische Wohlbefinden und die Qualität der Beziehungen zwischen den Betroffenen als auch auf deren körperliche Gesundheit und Lebenserwartung (vgl. Holt-Lunstad, Smith & Layton 2010).

Nach meinem Eindruck sind die Schwierigkeiten im Umgang mit Kränkungen nicht nur – bzw. nur zu einem Teil – auf die persönlichen Schwächen und Empfindlichkeiten der Beteiligten zurückzuführen, sondern überwiegend darauf, dass die in unserer Kultur gängigen Denkmodelle den Entstehungsbedingungen und der Dynamik von Kränkungen kaum gerecht werden. Aber die in einer Kultur üblichen Denkmuster sind sehr mächtig. Sie schlagen sich, von den Betroffenen oft unbemerkt, im Denken und Erleben der Menschen nieder, die in dieser Kultur aufwachsen und leben, und haben einen starken Einfluss darauf, wie diese Menschen sich dann fühlen und verhalten. Die Wirkungen solcher Denkmuster zeigen sich nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen, um die es mir hier geht, sondern z. B. auch auf den Ebenen politischer und internationaler Konflikte.

Eine Kultur ist für den Menschen ungefähr das, was für einen Fisch der Ozean ist: Weil die Kultur den gesamten Lebensraum umfasst, ist in vieler Hinsicht kaum noch zu erkennen, wie umfassend ihr Einfluss ist und in wie vielfältigen Formen sich ihre Wirkungen bis in die kleinsten Nischen unseres Lebens hinein erstrecken. Mein Kollege Gordon Wheeler hat das einmal sehr schön formuliert, als er sagte,

dass all jene Muster in unserer Erfahrung, die am tiefsten kulturell geprägt sind, zugleich meistens jene sind, derer wir uns am wenigsten bewusst sind. … Die tiefste Ebene der Kultur ist daher die ›Realität‹ selbst: alle die Dinge, die ich nicht für kulturell halte, weil ich meine, dass die Welt nun einmal so sei. (2005, 94)

Zwischenbemerkung 1: In vieler Hinsicht ist die Art und Weise, wie Menschen eine Situation erleben, folglich bereits mit kulturellen Einstellungen ›imprägniert‹. Es gibt nicht zuerst eine ›natürliche‹ Erfahrung, die dann erst nachträglich interpretiert würde: »Kulturell geprägte Annahmen, Wertvorstellungen und Einstellungen sind kein konzeptueller Überzug, den wir nach Belieben unserer Erfahrung überstülpen können oder auch nicht. Es wäre korrekter zu sagen, daß alle Erfahrung durch und durch kulturabhängig ist, daß wir unsere ›Welt‹ in einer Weise erfahren, derzufolge die Erfahrung selbst unsere Kultur schon in sich trägt.« (Lakoff & Johnson 1998, 71 – vgl. auch Bruner 1997)

Was das Verständnis von Kränkungen betrifft, so herrscht in unserer Kultur meist das auffällig simple Täter-Opfer-Schema vor. In diese Schablone werden die vielschichtigen Interaktionen gepresst, die eine Rolle dabei spielen, dass ein Mensch sich durch einen anderen gekränkt fühlt; und im Rahmen dieses Schemas spielen sich dann die – leider meistens unbefriedigenden – Versuche ab, mit Kränkungen fertig zu werden. Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen all das sicher aus eigener Erfahrung und werden sich vermutlich in manchen Beispielen, die ich im Weiteren gebe, wiedererkennen.

Vielleicht werden Sie auch bemerken, dass es nicht immer leicht ist, sich von solchen Schablonen frei zu machen; sie sind in unserer Kultur einfach zu allgegenwärtig: Wir sind mit ihnen aufgewachsen, und sie werden uns in den Medien und vielen menschlichen Begegnungen immer wieder vorgeführt. Wir gewinnen dabei manchmal den Eindruck, die Welt bzw. die Menschen seien nun einmal so, wie das Denkschema es suggeriert. Und dann wehren wir uns sogar gelegentlich dagegen, wenn es infrage gestellt wird; ja, wir halten bisweilen lieber an etwas Gewohntem fest, selbst wenn es Nachteile mit sich bringt, als uns für Neues zu öffnen.

Von daher wird Ihnen die eine oder andere meiner Überlegungen vielleicht zunächst ›gegen den Strich‹ gehen, besonders wenn ich über Verantwortungen und Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Erlebnisse spreche, denen gegenüber Sie sich bisher machtlos und ausgeliefert gefühlt haben. Möglicherweise empfinden Sie meinen Ansatz, Kränkungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, auch als anspruchsvoll; gemessen an der tiefen Verwurzelung unserer kulturellen Denkmuster ist er das auch. Selbst wenn es mir gelingen sollte, Sie von meinen Ansichten zu überzeugen, wird es Ihnen deswegen nicht auf Anhieb und durchgängig gelingen, das gewohnte Denken und Fühlen durch ein neues zu ersetzen. Ich empfehle Ihnen daher, sich darauf einzurichten, dass die alten Muster sich gelegentlich wieder bemerkbar machen; Gewohnheiten sind mächtig. Lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen! Begegnen Sie solchen Déjà-vu-Erlebnissen mit Freundlichkeit und Geduld und experimentieren Sie weiterhin mit den neuen Möglichkeiten – bis auch diese zur Gewohnheit werden und Ihnen als Alternative zuverlässig zur Verfügung stehen.

Ich möchte Ihnen die folgenden Überlegungen ungeachtet solcher zu erwartenden Schwierigkeiten zumuten, weil ich der Ansicht bin und Ihnen zutraue, dass Sie letztlich davon profitieren werden. Denn obwohl das Täter-Opfer-Schema so weit verbreitet ist, ist es nach meiner Erfahrung nicht geeignet zu verstehen, was bei Kränkungen geschieht; es ist bedauerlicherweise noch viel weniger geeignet, den Betroffenen dabei zu helfen, Kränkungen auf konstruktive Weise zu verarbeiten und so ihre Beziehungen wieder auf einen tragfähigen Boden zu stellen. Im Gegenteil: »Die Opfer-Mentalität führt zur Reduktion der menschlichen Erfahrung und der Komplexität sozialer Beziehungen auf eine einzige, monotone Weltanschauung« (Sykes 1992, 19). Die zur Rolle des Opfers komplementäre Täterrolle (und manchmal auch die des Retters) gehört unausweichlich zu dieser Weltanschauung dazu.

Diese bei uns übliche Art, Kränkungen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, verschärft nach meinem Eindruck das mit ihnen verbundene Leid eher noch und erschwert oder verzögert eine baldige Erholung davon. Das ist deswegen von so großer Tragweite, weil sich Kränkungen in jeder zwischenmenschlichen Beziehung und ganz besonders in nahen und intimen Beziehungen ereignen können. Dabei geht es aus meiner Sicht letztlich um die Frage, ob es den an einem Kränkungsgeschehen Beteiligten gelingt, ihre gemeinsame Situation mit Würde und in Verbundenheit zu bewältigen.

Diese Frage lässt sich in mehrere Teilfragen unterteilen, und zwar erstens die Frage, wie ich selbst den Anderen behandele; respektiere ich dabei seine Würde? Damit hängt die zweite Frage eng zusammen: Wie wirkt mein Verhalten gegenüber dem Anderen auf meine eigene Würde zurück? Und das führt zur dritten Frage: »Welche Art, mich selbst zu...

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