Einleitung: Auf dem Weg von Kadesh nach Aleppo – Nachdenken über den Krieg
Krieg hat heute meist keine gute Presse – zu offensichtlich sind die Verwüstungen und das menschliche Leiden, die er hervorbringt. Aber lange Zeit galt Krieg entweder als normal, als selbstverständlich, oder er wurde gar gepriesen – von Heraklit als »Vater aller Dinge«, also als schöpferisch und kreativ. Krieg erschien als moralische und körperliche Herausforderung, an der man sich zu bewähren habe. Stärke, Männlichkeit und Heldentum seien kriegsentscheidende Charakterzüge – und würden durch den Krieg erzeugt. Der Krieg forme den Charakter, mache aus blassen Jünglingen richtige Männer. Krieg erzeuge auch Identität, schweiße Gesellschaften zu Gemeinschaften zusammen, die ihren historischen Aufgaben gerecht würden. Krieg schaffe – so diese Sicht – Sinn in einem oft banalen und sinnentleerten Leben. Und er trenne die Spreu vom Weizen: Die Schwächlichen und Verzagten würden überwunden oder zur Seite geschoben, die Starken und Mutigen den Sieg erringen. In diesem Sinne diene Krieg der Reinigung, Verjüngung und Stärkung der Gesellschaft, ja, der ganzen »menschlichen Rasse«.
Solche Sichtweisen entsprangen zum Teil vormodernen Zeiten, zumindest der Zeit vor der Industrialisierung, als man sich noch als »Krieger« empfinden konnte und als Soldat nicht nur das kleine Rädchen eines bürokratischen Gewaltapparates war. Das positive und gefühlvolle Bild vom Krieg funktioniert nur so lange, wie man sich einzureden vermag, dass er persönliche und kollektive Tapferkeit und Heldenmut fördere, und diese schließlich über Sieg und Niederlage entschieden. In den Schützengräben des Ersten Weltkrieges lernten viele Soldaten, dass dies zu einem naiven Kinderglauben geworden war. Bewegungs- und hilflos dem industriellen Dauerbombardement ausgesetzt, zu Recht vor Angst zitternd, von Giftgasschwaden überzogen, viel mehr von der Logistik und dem Zufall abhängig als von der eigenen »Tapferkeit« und immer mehr von der vollständigen Sinnlosigkeit des allgemeinen Schlachtens überzeugt – so verlor der Krieg seinen Glanz, seine Heroik, seine positive Rolle in der Gesellschaft, seine Anziehungskraft. Der »Krieger«, der »Held«, das kämpfende Individuum wurden bedeutungslos, die Organisation, die Waffentechnik und die Produktionskapazität der Rüstungsindustrie entscheidend. Einzelne Intellektuelle schafften es, sich gegen diese Entzauberung des Krieges zu immunisieren, indem sie dem Krieg nun als Kampf einer kleinen Gemeinschaft von »Kameraden« einen Sinn gaben, den er insgesamt verloren hatte. So suchten sie das identitätsstiftende »Kriegserlebnis« zu retten. Aber als der Zweite Weltkrieg begann, war von der Kriegsbegeisterung des Ersten außer bei kleinen Minderheiten keine Rede mehr. Und als er nach seinen Massenverbrechen, Massakern, Völkermord und mehr als 50 Millionen Toten endete, konnte man ihn zwar politisch als notwendig akzeptieren – der Faschismus war zerschlagen – aber auch ein notwendiges Übel blieb ein Übel. Die schwärmerische Begeisterung für den Krieg, die Inthronisierung des Krieges als gesellschaftliches Leitbild – solche Vorstellungen schienen überholt. Nur im Rechtsextremismus konnten sich die Idealisierung des Krieges im Allgemeinen und die der eigenen Kriegserfahrung halten. Zumindest schien dies einige Jahrzehnte so. Im beginnenden »Kalten Krieg« kam hinzu, dass die Vorstellung von Krieg nunmehr unter einem nuklearen Schatten stand. Was in einem Atomkrieg denn »Tapferkeit« und »Heldentum« bedeuten sollten oder wie er »der Vater aller Dinge« sein könne, ließ sich nicht mehr beantworten. Krieg konnte nun auf die gegenseitige Vernichtung hinauslaufen, die »mutually assured destruction« (MAD). Im Extremfall würde Krieg nun das Ende der Menschheit bedeuten, im besten Fall noch Völkermord mit vielen Millionen von Toten.
Heute denken wir selten an den großen, vielleicht letzten Krieg, sondern – wenn überhaupt – an verschiedene »kleine« Kriege. Diese können hunderttausende oder Millionen Tote kosten, aber da sie nicht bei uns oder vor unserer Haustüre stattfinden, erscheinen sie uns kleiner als sie sind. Häufig wirken sie so fern, dass wir sie übersehen. Nehmen wir den Krieg im Kongo.
»Der große Kongokrieg von 1998–2003 war der tödlichste auf allen Kontinenten in der Lebensspanne der meisten Menschen. An ihm waren Soldaten aus acht Ländern beteiligt. Massenvergewaltigungen wurden zur Routine. Niemand weiß, wie viele Menschen an Machetenwunden, Hunger und Krankheiten starben. Schätzungen reichen von 1 bis über 5 Millionen.«1
Trotz der großen Opferzahl, deren Unbestimmtheit ein Indiz für das geringe Interesse darstellt, wurde dieser Krieg in Europa kaum zur Kenntnis genommen. Wer heute auf der Straße Passanten nach den größten Kriegen der letzten Jahrzehnte fragt, der hört oft vom Syrienkrieg, von Afghanistan, manchmal auch von Bosnien oder dem Kosovo. Auch die Ukraine wird genannt, trotz einer vergleichsweise niedrigen Opferzahl von vielleicht 10.000 Toten – aber die bis zu 5 Millionen Toten im Kongo entgingen jeder Aufmerksamkeit.
Krieg erscheint uns heute meist im Plural, er scheint fern und oft exotisch oder zumindest unbegreiflich. Er scheint aus ethnischem Hass, religiösem Fanatismus, vormodernen Stammeskonflikten, insgesamt aus Irrationalität zu entspringen. Das ist bedrohlich, weil fremd und unverständlich – aber auch beruhigend, weil das alles scheinbar nichts mit uns zu tun hat. Wir sind zivilisiert und rational, so glauben wir, wir sind keine unberechenbaren Killer. Kriegerische Gewalt bleibt uns fremd und äußerlich. Wenn wir – »der Westen« – sie selbst anwenden, dann erscheint das therapeutisch, so wie ein Arzt oder Chirurg dem Patienten gegenüber. Früher führten europäische Länder Kriege prinzipiell gegen Gleiche, gegen andere europäische Staaten, so zumindest unsere Wahrnehmung. Heute ist ihr Krieg im eigenen Verständnis die quasi-polizeiliche Maßnahme der Ordnung gegen politische Triebtäter, der Zwang des Irrenarztes gegen den Wahnsinnigen. Das schafft im Westen ein gutes Gefühl und enthemmt seine Gewaltbereitschaft. Es bedeutet auch, dass Krieg nicht mehr gegen Gleiche, sondern gegen Andere geführt wird, gegen Kräfte, die nicht sind wie wir, sondern gegen das Böse, gegen das Fremde und gegen den Wahnsinn – gegen Saddam Hussein, Muammar Gaddafi, gegen die Taliban, oder gar gegen »den Terrorismus«. Subjektiv verliert der Krieg dann oft seinen Kriegscharakter, wird zu einem Akt des Altruismus, der Zivilisierung oder der Humanität. Er scheint auch seinen politischen Charakter zu verlieren, gibt sich nicht länger als gewaltsame Interessenswahrnehmung zu erkennen, sondern erscheint therapeutisch. Dem Krieg gegenüber aus gutem Grund misstrauisch, lieben wir es, ihn uns als Demokratisierung, als Maßnahme der Beseitigung von Massenvernichtungswaffen, als humanitäre Intervention oder als die Verteidigung der eigenen Werte schönzureden. In Deutschland sind wir hierbei besonders anspruchsvoll: Wir ziehen es vor, dass unsere Kriege gar nicht mehr mit diesem Begriff bezeichnet werden, sondern »Hilfsoperation«, »Friedenserzwingung« oder »Stabilisierungsmaßnahme« heißen. Das wärmt das Herz, zweifellos, aber es macht das klare Denken über den Krieg unmöglich.
Es ist paradox. Trotz der gefühlshaften Entsorgung des Krieges ins entweder Therapeutische oder Irrationale wird das Denken über Krieg weiterhin überwiegend von den Kriegen zwischen Staaten oder Monarchen bestimmt, wie sie sich in der Zeit des europäischen Absolutismus herausbildeten und dann, im 19. und 20. Jahrhundert, in moderne Massenkriege transformiert wurden. In der Anfangszeit bestimmten Streitkräfte aus (oft ausländischen) Söldnern, meist der Zeit entsprechend gut ausgebildet und relativ diszipliniert, das Bild. Die Herrscher verbannten die eigene Bevölkerung (»Untertanen«) soweit möglich vom Krieg und übten die völlige oder weitgehende Kontrolle über ihr Militär aus – zumindest solange sie dies angemessen bezahlen konnten. Kriege waren – gemessen an den Zeiten davor und danach – leicht zu beginnen, relativ leicht zu führen, und leicht zu beenden. Ihre operativen Ziele waren bescheiden: Es galt, die feindlichen Streitkräfte auszumanövrieren, in eine unhaltbare Position zu drängen oder notfalls kampfunfähig zu machen – immer unter der Voraussetzung, die eigenen keinem zu hohen Risiko auszusetzen. Neue Truppen zu rekrutieren war unangemessen teuer und nicht immer möglich. Vor dem und noch im 30-jährigen Krieg war diese Kontrolle der Herrscher über die Krieger nicht immer gegeben. Eigenständig operierende Kriegsherren und noch davor persönlich abhängige Vasallen mit oft begrenzten militärischen Pflichten operierten unter nur mäßiger und oft unsicherer Kontrolle des Landesherrn. Staatlichkeit war noch schwach, ein Gewaltmonopol des Staates noch selten, die Kriegführung entsprechend wenig zentralisiert. In der Periode des Absolutismus hatte sich dies weitgehend geändert, Kriege wurden zur Angelegenheit der Kabinette und Monarchen, die ihre Staaten um ihr Militär herum aufbauten.
Später löste sich diese Einfachheit der Kriegführung durch gesellschaftliche und technologische Entwicklungen und die Ausweitung der geographischen und funktionalen Reichweite der Kriege immer mehr auf. Auch die seit den französischen Revolutions- und den Napoleonischen Kriegen erfolgte Einbeziehung der Bevölkerung in den Krieg durch Freiwilligenheere und – später – die allgemeine Wehrpflicht veränderte seinen Charakter. Insgesamt wurden Kriege zwar komplexer, weil eine vervielfachte Truppenstärke schwerer zu führen und zu versorgen und weil der...