Einleitung
In aller Eile, irgendwo aus der Sowjetunion, vermutlich in einem unbequemen Quartier sitzend, schrieb der deutsche Soldat Jakob B. im April 1943 seiner polnischen Freundin: »Mein liebes süßes Kind (…), mein herzgeliebtes Fränzlein, ich denke sehr oft an die schönen Minuten, die wir beide verlebt haben, und an Dich, dass Du von mir unglücklich geworden bist und ich Dir jetzt leider nicht helfen kann.«[1] Er malte seiner von ihm schwangeren Freundin Franciszka K. trotz aller Kriegswirren eine gemeinsame Zukunft aus. Kennengelernt hatten sich die beiden während seiner Stationierung im Landkreis Warschau im Vorjahr – und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem jeglicher gesellschaftliche und insbesondere sexuelle Verkehr zwischen deutschen Besatzern und einheimischen polnischen Frauen und Männern verboten war.
Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 regelten die unterschiedlichen Institutionen der Wehrmacht, der Polizei und der SS den intimen Umgang ihrer Angehörigen mit der Bevölkerung auf polnischem Territorium. Heinrich Himmler hatte in seiner Funktion als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei sogar Monate zuvor, am 19. April 1939, also nach der Einverleibung der Tschechoslowakei, in einem Sammelerlass verfügt, dass seinen Männern jeder Geschlechtsverkehr mit Frauen andersrassiger Bevölkerungen im »Osteinsatz« verboten sei.[2] Zivilbesatzern und Wehrmachtsangehörigen wurden gesellschaftliche und sexuelle Kontakte mit Polinnen und Polen ebenfalls untersagt.[3] Das Kontaktverbot mit Polen speiste sich aus ihrer niedrigen Wertigkeit in der nationalsozialistischen Rassenhierarchie – die Ideologen entwerteten Franciszka K. und ihre Landsleute als »Untermenschen«, die als Sexualpartner für die »arischen« Deutschen unerwünscht waren.[4]
Im »Dritten Reich« wurde das deutsche Volk im Allgemeinen als biologisch-rassische Einheit gedacht, als »Volkskörper«, der von fremden und als minderwertig erachteten rassischen Einflüssen freizuhalten sei. Seit der Machtübertragung 1933 unternahm die NSDAP zahlreiche Anstrengungen, ihr pervertiertes Ideal des rassisch reinen Deutschlands zu verwirklichen. Dies gipfelte in den antisemitischen Nürnberger Gesetzen von 1935, die jüdischen Deutschen den Geschlechtsverkehr und die Heirat mit nichtjüdischen Deutschen verboten und Zuwiderhandlungen unter strenge Strafen stellten.[5]
Sowohl im sogenannten Altreich, also in den Gebieten, die vor der seit 1938 betriebenen Expansionspolitik deutsches Territorium waren, als auch in den später annektierten und besetzten Gebieten Europas war die offensichtlichste Form der Sexualitätsregulierung eine Verbotspolitik. Aus diesem Grund dachten Historiker lange, dass für das besetzte Polen die Geschichte sexueller Kontakte schnell erzählt sei: Es habe das dezidierte Umgangsverbot gegeben – und das sei auch befolgt worden.[6] Doch die Kriegsbeziehung des Soldaten Jakob B. zu seinem »Fränzlein«, der Polin Franciszka K., fand trotz Verbot statt, genauso wie die intimen Kontakte zwischen Fritz R. und Anna Z., Ernst P. und Maria N. oder Walter O. und Olympia G., um nur einige Paare, die in den umfangreichen zeitgenössischen Polizei- und Justizakten dokumentiert sind, namentlich herauszugreifen. Auch der Schriftsteller Heinrich Böll, der zwischen 1939 und 1945 Soldat war, erwähnte Polinnen, als er einen seiner Protagonisten im Roman »Der Zug war pünktlich« (1947) über die Frauenkontakte der deutschen Landser im Zweiten Weltkrieg räsonieren ließ:
»da ist man durch Europa gezogen, hat da bei einer Französin gepennt und mit einer Rumänin gehurt und ist in Kiew hinter den Russinnen hergerannt; und wenn man in Urlaub fuhr und hatte Aufenthalt, da irgendwo in Warschau oder auch in Krakau, da konntest Du den schönen Polinnen auch nicht widerstehen.«[7]
Der Unterschied zwischen politischen Vorgaben und Besatzungsalltag war offenbar beträchtlich – doch wie ist er zu erklären? Wie reagierten die Behörden auf die Kriegsbeziehungen? Und was führte und hielt diese Paare zusammen, die unter großem Druck der deutschen Besatzungsmacht standen und zudem von zahlreichen polnischen Mitbürgern misstrauisch beäugt wurden, die intime Kontakte als Verstoß gegen die patriotische Bürgerpflicht sahen? In Polen, eine Besonderheit unter den europäischen Ländern, agierte während der gesamten Besatzungszeit ein komplexer Untergrundstaat, der von der polnischen Exilregierung in London angeleitet wurde. Zu ihm gehörte ein militärischer Flügel, die Armia Krajowa (Heimatarmee), aber auch eine eigene Gerichtsbarkeit sowie eine rege Untergrundpresse, die aus zahlreichen, oft kurzlebigen Blättern bestand. All diese Organe sowie weitere, ideologisch anders orientierte Widerstandsbewegungen versuchten der durch die brutale Besatzungspolitik demoralisierten polnischen Gesellschaft Halt zu geben, indem sie an den Patriotismus appellierten, aber auch Strafmaßnahmen gegenüber Kollaborateuren anwandten. Aus Sicht der patriotischen Mehrheit waren mehr oder minder freiwillige Kriegsbeziehungen polnischer Frauen mit deutschen Männern eine Schande, und die betroffenen Frauen, die nach Besatzungsende im Land blieben, verinnerlichten diese Sichtweise durchaus und schämten sich entsprechend – oder hatten einfach Angst: Angst vor den neuen kommunistischen Machthabern, die nach Kriegsende Sondergerichte zur Verurteilung von Kollaborateuren installierten, und Angst vor sozialer Ausgrenzung in der Familie und im Bekanntenkreis. Die Frauen vernichteten die Erinnerungsstücke aus ihren Beziehungen, sie verbrannten Briefe und zerrissen Fotos ihrer ehemaligen Bekannten. Unter welchen Umständen waren die Frauen aber zu Geliebten der Besatzer geworden? Und was trieb die deutschen Männer an, die Kontakte zu polnischen Frauen pflegten?
Die Geschichten dieser Paare und vor allem der oft geschmähten Frauen möchte ich in diesem Buch erzählen, nicht als naive Liebesgeschichten, sondern als Spiegel der Besatzungszeit und der damaligen Machtverhältnisse. Macht ist »Bestandteil der kleinsten und intimsten menschlichen Beziehungen«,[8] und die deutschen Männer hatten qua Besatzungsstatus viel Macht. Ein Merkmal des deutschen Besatzungsregimes in allen Teilen des besetzten Polens war die Einführung einer rassisch begründeten Hierarchie, die die reichsdeutschen Besatzer an die Spitze stellte und ihnen umfassende Privilegien verlieh. Mit den Volksdeutschen der verschiedenen Gruppen schufen die Besatzungsbehörden neue Führungs- und Zwischenschichten bei gleichzeitiger Entrechtung der katholischen Polen. Noch weiter unten standen die polnischen Juden, die – entrechtet und beraubt – systematisch verfolgt und ermordet wurden. Die neue Ordnung in den besetzten Gebieten veränderte so bestehende soziale Hierarchien, darunter die etablierten Geschlechterhierarchien. Während für reichsdeutsche Frauen der Osteinsatz als Wehrmachtshelferin oder Lehrerin oft einen beruflichen und finanziellen Aufstieg darstellte, durch den sie zudem in der Hierarchie über den polnischen und jüdischen Männern standen,[9] befanden sich jüdische Frauen am Ende dieser Rangordnung.
Was diese Hierarchien für die sexuellen Begegnungen zwischen deutschen Besatzern und polnischen Frauen – jüdischer und nichtjüdischer Herkunft – bedeuteten, ist ein zentrales Thema dieses Buches. Denn das Studium der zeitgenössischen Akten und der Erinnerungsliteratur zeigt schnell, dass die Kriegskontakte zwischen den Besatzern und den Einheimischen mal mehr und mal weniger freiwillig waren. Neben den im Großen und Ganzen konsensualen Kontakten, wie Franciszka K. und Jakob B. sie pflegten, kam es auch zu sexueller Gewalt – zum einen in organisierter Form innerhalb des Prostitutionssystems der Besatzer, zum anderen in Form von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen durch einzelne oder in Gruppen handelnde deutsche Männer.
Obwohl sich die deutsch-, polnisch- und englischsprachigen Forschungen seit Jahrzehnten mit Repressionen und Verbrechen in den besetzten polnischen Gebieten auseinandersetzen, blieben Vergewaltigungen und Nötigungen, also erzwungene Kontakte, eigentümliche Leerstellen. Wie kann man das erklären? In Polen hatte das Schweigen vor 1989 auch geschichtspolitische Gründe, da sexuelle Gewalt der Deutschen ausgespart bleiben sollte, um zu vermeiden, dass damit zugleich an Vergewaltigungen der sowjetischen Soldaten erinnert wurde. Auf ihrem Weg nach Westen vergewaltigten Sowjetsoldaten Frauen der späteren »Brudervölker«. Für Ungarn, den Verbündeten Nazi-Deutschlands, liegen mit den Arbeiten der Historikerin Andrea Pető Untersuchungen zur sexuellen Gewalt von Seiten der Rotarmisten vor, die nicht zuletzt das nach 1945 ideologisch bedingte Schweigen herausarbeiten.[10] In anderen postkommunistischen Ländern harren diese Taten noch einer detaillierten geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung, so auch in Polen. Arbeiten über die Zwangsaussiedlung der Deutschen weisen aber zunehmend darauf hin, dass von den Rotarmisten nicht nur Deutsche vergewaltigt wurden, sondern ebenfalls die sogenannten Autochthonen, also Schlesierinnen und Kaschubinnen sowie »ethnische« Polinnen.[11] Das Schweigen hatte also (geschichts-)politische Gründe, spiegelte aber auch eine...