1 Einleitung: Warum und für wen entstand dieses Buch?
Die Humanmedizin ist eines der wissenschaftlichen/universitären Fachgebiete mit sehr langer Tradition. Zugleich ist die ärztliche Heilkunst einer der ältesten Lehrberufe der Welt. In dieser doppelten Tradition bewegen sich auch die heute ärztlich Tätigen in Krankenhaus, Ambulanz und Praxis jeden Tag. Die erste Phase der Ausbildung, das Medizinstudium, ist stark wissenschaftlich ausgerichtet. In manchen Untersuchungskursen und vor allem im Praktischen Jahr folgt dann eine langsame Einführung in die alltagspraktischen Themen und eine Heranführung an die dort notwendigen zusätzlichen Fähigkeiten und Kompetenzen. Im Idealfall lernt man dieses »praktische Rüstzeug« von erfahrenen Vorgesetzten, aber auch von den etwas älteren Kolleginnen und Kollegen, die gerade ein paar Schritte weiter sind und noch genau wissen, welche Fragen die Kolleginnen und Kollegen in Weiterbildung beschäftigen. Man kann die erforderlichen praktischen Kompetenzen auch aus Büchern lernen und die dort niedergelegten Erfahrungen anderer, kritisch reflektierend, aufnehmen und ggf. in die eigene Handlungsweise einbeziehen. Allerdings findet sich in den Erkenntnissen der Evidence based Medicine (EbM), die in der Welt des klinischen Alltags wissenschaftliche Orientierung gibt und an der sich unser fachliches Handeln ausrichtet, nur ein Teil des alltagsrelevanten klinischen Wissens. Viele wichtige Themen und medizinische Arbeitsbereiche erhalten dadurch keine ausreichende Fundierung.
Zu den Themen, mit der sich die international geprägte EbM bislang wenig beschäftigt hat, gehört die alltägliche Frage, wann denn eine Patientin oder ein Patient stationär aufgenommen werden sollte. Wohl gibt es Hinweise für eindeutige Zustandsbilder oder Extremfälle eines Krankheitsbildes. Diese sind auf den ersten Blick »evident« und in den entsprechenden Leitlinien erwähnt. Dennoch geben die Leitlinien häufig keine ausreichende Hilfe zur Entscheidung in den vielfältigen und vielgestaltigen Situationen des klinischen Alltags. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Der wahrscheinlich wichtigste Grund ist, dass die wissenschaftlichen Ausführungen, Lehrbücher und Leitlinien nur vereinzelt konkrete Empfehlungen für die Einschätzung der Erkrankungsschwere enthalten, dieser aber eine zentrale Bedeutung für die Entscheidung für oder gegen eine Aufnahme zukommt. Für das psychiatrische Fachgebiet können wir als Beispiel die S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression heranziehen (DGPPN 2009, AWMF-Registernummer nvl-005). Danach besteht eine Notfallindikation zur stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bei Vorliegen einer akuten suizidalen Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit sowie deutlichen psychotischen Symptomen. Dabei handelt es sich um den erstgenannten eindeutigen, auf den ersten Blick »evidenten« Fall. Darüber hinaus besteht laut Leitlinie meist eine Indikation zur psychiatrisch-psychotherapeutischen stationären Behandlung u. a. bei der Gefahr der depressionsbedingten Isolation und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren oder bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen oder bei so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen (DGPPN 2009, H 3.2.3 Schnittstellen in der Behandlung, S. 87). Nun zeigt sich das zentrale Problem im klinischen Alltag: Welche psychosozialen Faktoren sind so schwerwiegend und welche äußeren Lebensumstände sind so problematisch, dass sie den Therapieerfolg massiv behindern würden? Und wie sieht konkret der Schweregrad des Krankheitsbildes aus, für den die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen? Und wenn in diesen Fällen meist eine Indikation zur stationären Behandlung vorliegt, was entscheidet darüber, wann ausnahmsweise doch eine ambulante Behandlung versucht werden kann/sollte? Hier muss also der Kliniker bewerten, implizit quantifizieren und entscheiden, und dafür fehlt ihm ein präzises Messinstrument oder klinischer Algorithmus.
Darüber hinaus hängen Entscheidungen für eine stationäre Aufnahme von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Gesundheitssystems ab, das international stark differiert. Auch die Rahmenbedingungen in der sozialen Versorgung von Menschen in der Gesellschaft spielen eine wichtige Rolle (z. B. der Ausbau des Sozialversicherungssystems), ferner die verfügbaren Ressourcen vor Ort (z. B. die regionalen Facetten der Eingliederungshilfe oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten) und – ganz individuell – Aspekte, die das private Umfeld des Patienten, der Familie oder des Freundeskreises betreffen. Die Entscheidung hängt zudem von der Erfahrung, dem Sicherheitsbedürfnis und der persönlichen Einstellung des Arztes, der die Aufnahmeentscheidung trifft, ab. Nicht zuletzt gibt es relevante rechtliche Rahmenbedingungen (wie das Betreuungsrecht, das Patientenrechtegesetz oder die PsychKHGs mancher Bundesländer), die gerade in den letzten Jahren eine starke Modifikation erfahren haben.
Im Grundsatz betreffen die oben skizzierten Probleme des klinischen Alltags die gesamte Medizin. Im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie scheint aber die Entscheidung zur stationären Aufnahme zumindest auf den ersten Blick oft noch weniger klar operationalisierbar zu sein als in anderen medizinischen Fachgebieten.
Nun gibt es in der Psychiatrie/Psychotherapie seit Verabschiedung der Psychiatrie-Enquête 1975 unbestritten den Grundsatz: »ambulant vor stationär«. Dies bedeutet, soviel psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung, auch Akutbehandlung, ambulant oder teilstationär durchzuführen wie möglich, eine stationäre Aufnahme wenn möglich zu vermeiden – wo sie nötig ist, aber in guter Qualität anzubieten. Wo aber ist es nötig? Wie diese Entscheidung im Alltag getroffen werden kann, dazu gibt es im Bericht der Psychiatrie-Enquête wenig konkrete Hinweise.
In Diskussionen zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung bei Fachtagungen des Verbandes der leitenden Ärztinnen und Ärzte an psychiatrischen Fachkrankenhäusern, kurz »Bundesdirektorenkonferenz« (BDK), wurde diese Frage in den letzten Jahren wiederholt aufgeworfen und als wichtiges Thema erkannt. Bei einer ersten Recherche wurde rasch deutlich, dass es zur Frage, wie denn die Indikation für eine stationäre Behandlung in einer Klinik/Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie zu stellen sei, wenig schriftlich niedergelegte Empfehlungen oder Handreichungen gibt. Lehrbücher für Psychiatrie und Psychotherapie widmen sich diesem Thema am ehesten in Nebenbemerkungen oder kurzen Hinweisen. Auch in der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Literatur findet sich zur Indikationsstellung einer stationären Aufnahme in der Psychiatrie wenig. Dies hängt vermutlich mit den o. g. Unterschieden der Versorgungssysteme und grundsätzlichen methodischen Problemen zusammen. In Behandlungsleitlinien – wie den S3-Leitlinien unserer Fachgesellschaft DGPPN – werden, wie oben exemplarisch anhand der VersorgungsLeitlinie Depression dargestellt, dazu großenteils allgemeine Aussagen getroffen, die grundsätzliche Orientierung geben, im Einzelfall jedoch nur eingeschränkt hilfreich sind. Ein weiterer Grund für die eingeschränkte Verwendbarkeit der verfügbaren Leitlinien ist, dass die Entscheidung über eine stationäre Aufnahme oft schon getroffen werden muss, bevor die Diagnostik abgeschlossen wurde und eine sichere klinische Diagnose feststeht. Zudem sind im klinischen Alltag Mehrfachdiagnosen häufig, was die direkte Übertragbarkeit von Leitlinien in die klinischen Entscheidungsprozesse zusätzlich erschwert. Für eine Entscheidung über die stationäre Aufnahmenotwendigkeit sind die verfügbaren Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung einzelner Störungen letztlich weder erstellt worden noch geeignet.
Dieser Mangel an wissenschaftlicher Evidenz und umfassenden Empfehlungen kontrastiert mit der klinischen Relevanz der Fragestellung, die jährlich 100.000-fach beantwortet werden muss. Alle in Klinik, Ambulanz und Praxis tätigen Kolleginnen und Kollegen treffen diese Entscheidung täglich. Es ist anzunehmen, dass sie dies nicht willkürlich tun, sondern sich an bestimmten expliziten oder impliziten Grundsätzen, ergänzt bzw. geprägt durch die persönliche Erfahrung, orientieren. Es erscheint jedoch unbefriedigend, dass so wenig über die Art und Anwendung von Entscheidungsstrategien explizit verfügbar und bekannt ist. Sollte man nicht erwarten können, dass eine für den einzelnen...