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Künstlerisch-ästhetische Methoden in der Sozialen Arbeit

Kunst, Musik, Theater, Tanz und digitale Medien

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783170334212
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die künstlerisch-ästhetische Praxis hat in der Sozialen Arbeit eine lange Tradition und gewinnt in der Gegenwart zunehmend an Bedeutung. Ihre Methoden spielen in der Arbeit mit präventiver und kompensatorischer Ausrichtung sowie in der sozialen Bildungsarbeit und der Sozial- bzw. Kulturpädagogik eine große Rolle. Orientiert an den Bedürfnissen der Praxis vermitteln die Autorinnen und Autoren handlungsorientiert und anschaulich die theoretischen und praktischen Grundlagen für die künstlerisch-ästhetische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen sowie Seniorinnen und Senioren. Die vorgestellten Verfahren aus den Bereichen Kunst, Musik, Tanz, dem Theater und den digitalen Medien sind leicht zu variieren und auf die jeweilige Situation in der Sozialen Arbeit anzupassen.

Prof. Dr. Mona-Sabine Meis lehrt an der Hochschule Niederrhein im Fachbereich Sozialwesen mit den Schwerpunkten Kunst- und Kulturpädagogik. Prof. em. Dr. Georg-Achim Mies lehrte an der Hochschule Niederrhein im Fachbereich Sozialwesen mit den Schwerpunkten Interaktions- und Theaterpädagogik.

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Leseprobe

1          ÄSTHETISCHE BILDUNG


In nie vorher gekanntem Ausmaß wird heute die Bedeutung und Wirksamkeit der Ästhetischen Bildung propagiert. So ist in der Agenda der zweiten Unesco-Weltkonferenz zur Kulturellen Bildung zu lesen, dass Kulturelle Bildung als Grundlage einer ausgewogenen kreativen, kognitiven, emotionalen, ästhetischen und sozialen Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und lebenslangen Lernern begriffen werden muss (Unesco 2010). Auch die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ betont die Relevanz der kulturellen bzw. ästhetischen Bildung und legt in ihrem Abschlussbericht 2007 einen Katalog von konkreten Handlungsempfehlungen vor (Deutscher Bundestag 2007). 2017, also zehn Jahre nach Erscheinen des Enquete-Dokuments betont der Deutsche Kulturrat die Aktualität und Relevanz dieses Referenzdokumentes (kulturrat.de).

Künstlerisch-ästhetische Projekte mit gesellschaftlichen „Problem“-Gruppen werden gegenwärtig auch in den Medien bejubelt. An sie werden in diesem Zusammenhang hohe Erwartungen zur Lösung sozialer und kultureller Herausforderungen bis hin zu Heilszuschreibungen herangetragen. Die kulturelle Bildung soll Persönlichkeitsentwicklung, Empowerment und die Entwicklung von Kompetenzen und Kreativität fördern helfen. Außerdem soll sie die Zielgruppen zur Kooperation, Verantwortungsübernahme und zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe befähigen. Frühe Beispiele für medienwirksame Projekte sind das durch den Film „Rhythm is it“ (2004) bekannt gewordene Tanzprojekt unter Leitung des Choreografen Royston Maldoom und den Berliner Philharmonikern u. a. mit schulmüden Jugendlichen (vgl. Behrens/Tiedt, Teil II, 3), die Kunstaktionen der Künstlerinnen Christine & Irene Hohenbüchler mit gesellschaftlichen Randgruppen, der von Bob Cilman initiierte Seniorenchor (Verfilmung: „Young@ Heart“ 2007; vgl. Hartogh/Wickel, Teil II, 5) und das gigantische Kunst-Projekt des amerikanischen Künstlers Vik Muniz mit Catadores – Sammler/innen wiederverwertbaren Mülls – aus brasilianischen Favelas (Verfilmung als „Waste Land“ 2011). Ebenfalls bekannt und exemplarisch als Belege für die Popularität der ästhetischen Bildung zu nennen sind die Programme „Kulturrucksack“, „Kunst und Schule“, „JeKits“ (Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen), Musik-, Kunst- und Theaterklassen in Schulen, Sprachförderung in Kunstmuseen (u. a. „Bilder als Brücke zur Sprache“, Von der Heydt-Museum Wuppertal) sowie großzügige Finanzierungen von sogenannten Leuchtturmprojekten durch öffentliche Gelder, Stiftungen und Sponsoren.

In der Sozialen Arbeit sind künstlerisch-ästhetische Projekte mit Klient/innen meist weniger spektakulär – für die Zielgruppen jedoch höchst wertvoll und möglicherweise gewinnbringender als die großen, öffentlich beifallsheischenden Aktionen: Eine Senior/innengruppe besucht gemeinsam eine Theater-Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum, eine Rollstuhlfahrerin fährt in eine Picasso-Ausstellung, die Tonarbeiten einer Gruppe von Menschen mit seelischer Erkrankung werden auf einem Basar verkauft, eine Gruppe von Straßenkindern aus dem Kongo führt die Ergebnisse aus einem biografischen Theaterprojekt vor, traumatisierte Kriegswaisen verarbeiten ihre Erlebnisse in Bildern, Collagen von Migrantinnen dienen dem Austausch über ihre Herkunftsländer und ihre Situation, drogensüchtige Frauen gehen fotografisch auf Identitätssuche (vgl. Hoffmann et al. 2004; Jäger/Kuckhermann 2004; Hölzle/Jansen 2011; Grosse/Niederreiter/Skladny 2015).

In Anlehnung an Paul Watzlawick formulieren wir: „Ein Mensch kann sich nicht nicht ästhetisch verhalten.“ Damit verweisen wir auf die Tatsache, dass ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Verhalten nicht nur mit Kunst, Musik, Tanz und Theater verbunden sind, sondern auch in ganz alltäglichen Zusammenhängen „passieren“. Dies ist beispielsweise schon beim morgendlichen Frisieren und Ankleiden der Fall und setzt sich in der Wohnraum-, Arbeitsplatz- und Mahlzeiten-Gestaltung fort.

Doch trotz einer umfassenden Ästhetisierung unseres Alltags haben nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen und Ressourcen, sich künstlerisch-ästhetisch zu verhalten oder anregen zu lassen: Viele Menschen, mit denen die Sozialarbeit zu tun hat, gehen kaum in die Oper und ins Museum, besuchen weniger häufig Kurse an Jugendkunstschulen oder bekommen seltener Ballettunterricht als Mitglieder des so genannten Bildungsbürgertums. Wer hat schon die Möglichkeit, seine „Sinne zu verfeinern“? Gleichzeitig wird ästhetische Bildung und Verfeinerung der Sinne (oder ihr Gegenteil) jederzeit im Alltag sichtbar (Selbstinszenierung durch Kleidung etc., Wohnraumgestaltung, Teilhabe am kulturellen Leben …). Daraus ergibt sich ein Teufelskreis, mit dem die Soziale Arbeit umgehen muss: Wer weniger Chancen auf ästhetische Bildung hat, kann sie oft weniger genießen. Das wiederum wird auch durch das ästhetische Verhalten ausgedrückt, welches zu Hierarchien, zu Abwertungen und sozialer Deklassierung führen kann: Die Chancen auf Anerkennung und soziale und kulturelle Teilhabe werden erschwert (vgl. zu dieser Thematik auch Bourdieu 1982 und Corbin 1990). Ästhetische Bildung und die Arbeit mit künstlerisch-ästhetischen Verfahren, wie sie in diesem Buch vorgestellt wird, sollen einer möglichen Ausgrenzung auf vielen Ebenen entgegenwirken, zu einem Mehr an kultureller Teilhabe beitragen und somit die Klient/innen stärken (ermächtigen). Und obwohl im Zuge der zunehmenden Professionalisierung des Berufsstandes der Sozialen Arbeit eine Tendenz hin zu Verwaltungsaufgaben, neuen Steuerungsmodellen (Schilling 2016, 263–280) und verbal geprägten Techniken unübersehbar ist, konnte die gesicherte Stellung der „Angebote und Aktivitäten aus dem Bereich Kultur, Ästhetik, Medien“ in der Sozialen Arbeit nachgewiesen werden (Marquardt/Krieger 2007, 13). Künstlerisch-ästhetische Angebote bereichern die Soziale Arbeit in allen Handlungsfeldern und gehören in einigen vielfach – beispielsweise in der Arbeit mit Kindern und Senior/innen – sogar zu den „Basics“. Eine entsprechende Vor- und Ausbildung ist daher auch für potenzielle Arbeitgeber/innen von Interesse. Diese Tendenz wird sich vor dem oben skizzierten Hintergrund vermutlich weiter verstärken.

1.1       Die Begriffe künstlerisch und ästhetisch


Die Begriffe künstlerisch und ästhetisch werden teilweise als Synonyme, also mit gleicher Bedeutung verwandt. Beide verweisen dann auf Handlungen und Phänomene, die im weitesten Sinne mit den Künsten zu tun haben: auf künstlerisches Schaffen, künstlerische Werke oder ein künstlerisches Leben. Der Begriff ästhetisch ist jedoch offener und umfassender als der Begriff künstlerisch und bezieht sich nicht immer direkt auf künstlerische Phänomene, sondern verweist in seiner weiten Bedeutung auf das Sinnenhafte und auf das Schöne.

Ästhetik – eine wissenschaftliche Disziplin


Der Begriff Ästhetik geht zurück auf Aisthesis (griechisch): (sinnliche) Wahrnehmung. Ästhetisch heißt daher auch sinnenhaft, mit allen Sinnen.

Die Wissenschaft der Ästhetik ist die Disziplin, die „ein Wissen vom Sinnenhaften“ anstrebt (Welsch 2003) und dabei sowohl die Künste, das „Schöne“ als auch die Wirkung von Alltags und Naturphänomenen erforscht: Warum kann uns eine Blumenwiese betören und eine Schale Pommes verführen? Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit, von Schein und Sein, von Selbst- und Weltzugang und mit der Erkenntnis mit allen Sinnen.

Grundlegende Kategorien der Ästhetik sind das Schöne und das Hässliche, das Erhabene und die Negation, das Versprechen einer Alternative durch das Aufzeigen von andersartigen Möglichkeiten (vgl. Majetschak 2006 und Welsch 2017).

Umgangssprachlich werden die Begriffe Ästhet und ästhetisch oft im Sinne von feingeistig und feinfühlig und im Rahmen geschmacklicher Wertungen verwandt. Man sagt beispielsweise: Ein Ästhet (hier als Feingeist verstanden) weiß, was ästhetisch ist (hier als normativ schön verstanden), und richtet seine Wohnung ästhetisch (hier = geschmackvoll) ein.

Um Missverständnisse zu vermeiden, verweisen wir darauf, dass diesem Beitrag die davon zu unterscheidenden, nicht normativen wissenschaftlichen Bedeutungen zu Grunde liegen.

Ästhetisch...


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