Vergnügen und Zeitvertreib
1900–1918
Die Vergnügungskultur war im Kaiserreich vielfältig. Sie reichte von den traditionellen kirchlichen Festen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten bis zu privaten Feiern und öffentlichen Vergnügungen, die vor allem in den Großstädten ihr Publikum fanden. Während sich in Kleinstädten und auf dem Land die außerfamiliäre Freizeitgestaltung hauptsächlich auf den Besuch von Gaststätten und Kinos sowie die Mitgliedschaft in Vereinen beschränkte, etablierte sich in den Großstädten um die Jahrhundertwende eine Vergnügungskultur, deren Spektrum vom Tanzpalast über Kabaretts bis zum Vergnügungspark reichte. Tempo, Dynamik, Vielfalt, Reizüberflutung – das war der Rhythmus der Großstadt und in besonderem Maße der Berlins.
Berlin
Sedantag (2.9.) und Kaisers Geburtstag (27.1.) waren die wichtigsten Nationalfeiertage, die mit Festlichkeiten und Umzügen begangen wurden wie auch Denkmalsfeste wie z. B. am 18. Oktober 1913 die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. 1913 wurde auch das 25-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers in Stadt und Land gefeiert. »Die Reichshauptstadt bot den Anblick eines riesenhaften Volksfestes«, wie seine Tochter, Viktoria Luise, in ihren Lebenserinnerungen schreibt. Arbeiter hatten ihre eigenen Formen der Geselligkeit, wobei es zahlreiche Parallelen zur bürgerlichen Festkultur gab. Sie stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl anlässlich der jährlichen Feier am 1. Mai sowie auf ihren Gewerkschafts- und Arbeitervereinsfesten. Viele engagierten sich in Schützenvereinen, Turn-, Sport- und Gesangsvereinen, Lese- und Theatergruppen, Obst- und Kleintierzuchtvereinen sowie in Geschichts- und Arbeiterbildungsvereinen. Höhepunkt waren immer die Stiftungsfeste mit Umzügen, Reden, Musik, Tanz und reichlich Alkohol. Hier konnten sie von der Monotonie des harten Industriealltags Abwechslung finden. Denn Fabrikarbeit hieß um 1900, 61 Wochenstunden zu arbeiten; um 1913 waren es immer noch 55,5 Stunden. Darüber hinaus gab es eine berufsständische Arbeiterfestkultur. Hierzu gehörte z. B. das »Bergfest«, das die Bergleute zu Ehren der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, feierten. Auch für das Bürgertum fand ein großer Teil des geselligen Beisammenseins in Vereinen statt. Allein in Dortmund gab es 1908 über 400 Vereine, darunter Gesangs-, Turn-, Fecht- und Radfahrvereine sowie Schützengesellschaften.
Berlin war das Mekka der Vergnügungen. Hier entstand eine regelrechte Vergnügungsindustrie, die für jeden Geschmack etwas bot. George Grosz zufolge war die Zeit vor 1914 in Berlin »eine Zeit, in der man Feste feierte.« Es gab viele Bälle:
»einen Ball deutscher Illustratoren, einen Heinrich-Zille-Ball, eine Admiralspalast-Redoute, Künstlerbälle, Theaterbälle und unzählige Privatveranstaltungen. Immer wieder suchte man nach neuen und originellen Einfällen für Feste.«
Die literarische Intelligenz der Reichshauptstadt traf sich in Cafés, so z. B. im Café des Westens am Kurfürstendamm Ecke Joachimstaler Straße, wegen seiner exzentrischen Gäste auch Café Größenwahn genannt. Es war zusammen mit Romanischem Café gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Café Kranzler das Zentrum des literarischen Berlin. Dort trafen sich Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker wie Otto Dix, Edmund Edel, George Grosz, Leo von König, Oskar Kokoschka, Willy Jaeckel und Lesser Ury, außerdem Else Lasker-Schüler und ihr Ehemann, der Kunstkritiker Herwarth Walden, dazu Leonhard Frank, Erich Mühsam und René Schickele. Liebhaber des Kabaretts gingen ab 1901 in Berlin in das Überbrettl oder in Max Reinhardts Schall und Rauch. In München gab es von 1901 bis 1903/04 Die Elf Scharfrichter, das Schriftsteller wie Heinrich Lautensack und Frank Wedekind prägten.
Zum großstädtischen Leben gehörten auch Theater, Opern, Operetten und Konzerte. Sehr beliebt war zudem das neue Medium des Kinos, außerdem der Zirkus, Völkerschauen und der Zoo. Man ging in Varietés und Tanzcafés und zu Sportveranstaltungen wie z. B. Fußballspielen, Pferderennen, Polo, Turnen, Boxen und Radrennen, wo Angehörige mehrerer sozialer Schichten aufeinandertrafen.
Wer in Berlin um die Jahrhundertwende tanzen wollte, ging u. a. in das Alte Ballhaus in der Joachimstraße oder in den Palais de Danse in der Behrenstraße, um hier zu den Klängen eines Walzers oder einer Polka zu tanzen. Ab 1907 verbreitete sich der Tango in Europa. 1912 fand im Berliner Admiralspalast die erste deutsche Tango-Meisterschaft statt. Beliebt waren auch Maskenbälle. Im Berliner Wintergarten, einem bekannten Varieté im Central-Hotel, konnte man im April 1900 abends Ringkämpfen zusehen, deren »Ehrenschutzherr« der Bildhauer Reinhold Begas war, wie der Theaterkritiker Alfred Kerr berichtet:
»Die sechzehn muskulösesten Männer der Welt traten an die Rampe, in Tricots und Badehosen, eigens bestrahlt von elektrischen Sonnen. Alle Damen beugten sich nach vorn. An diesen prominenten Erscheinungen fesselte mancherlei den Blick.«
Zu den Massenveranstaltungen gehörte ab 1910 der auf der Hasenheide entstandene 10 Hektar große Lunapark, der als größter Vergnügungspark Europas galt. Eine der Attraktionen war die elektrische Gebirgsbahn, die mit 36 km/h vor einer 6000 qm großen Leinwand mit Landschaftsszenerien 10 Minuten unterwegs war. Wer wollte, bestieg die Zicksacktreppe, was allerdings schwierig war, da sie ständig wackelte. »Seitlich von ihr« erinnert sich der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz
»ist eine Windmaschine aufgestellt, die den Herren die Hüte vom Kopfe und den Damen die Röcke über die Knie bläst; besondere Finessen des Vergnügens, die wiederum ein vielstimmiges Qui[e]tschen und Kreischen auslösen.«
1912 eröffnete auch Dortmund seinen Lunapark, dessen Attraktionen sich an denen des Berliner Parks orientierten. Beliebt war u. a. die Wasserrutschbahn, auf der Boote aus 12 m Höhe in ein Wasserbassin sausten. Der 1914 in Hamburg eröffnete Vergnügungspark wartete sogar mit einem 33 m hohen Turm auf, von dem aus die Boote starteten.
Auch Flugwettbewerbe hatten ein großes Publikum: Konstrukteure begannen, ihre Flugzeuge auf Flugschauen im In- und Ausland persönlich vorzuführen, um Käufer zu gewinnen. Aus den sensationellen Vorführungen entwickelten sich Flugwettbewerbe, die die Unterstützung der Industrie fanden. Der Treffpunkt der deutschen Flugpioniere war der neue Berliner Flugplatz in Johannisthal, wo kurz nach der Eröffnung vom 26. September bis zum 3. Oktober 1909 die erste Große Berliner Flugwoche als internationaler Flugwettbewerb stattfand. Schon zuvor, von Juli bis Oktober 1909, veranstaltete man in Frankfurt am Main die erste Internationale Luftfahrt-Ausstellung (ILA). Flugartisten wie der Franzose Pégoud führten dort ihre Künste vor Tausenden von Zuschauern vor. Begeisterte Flieger schlossen sich in Luftsportvereinen zusammen. Daneben gab es auch Luftschifffahrtsvereine, deren Mitglieder Ballonfahrten unternahmen. Erst seit Ende der 1890er Jahre waren auch Frauen als Passagiere geduldet. Ab dem Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts durften auch sie die Lizenz zum Führen eines Ballons erwerben. Beliebt waren auch Fahrten mit dem Zeppelin. Hermann Hesse schreibt 1910 über eine Fahrt mit dem Zeppelin über die Alpen:
»und wir Passagiere saßen stolz und kühl in unsrer Kabine […]. Aber plötzlich stieg das Schiff empor […]. Die Menschenmenge wurde klein und komisch, die Stadt Friedrichshafen wurde erstaunlich übersichtlich und niedlich, auch die riesige Ballonhalle sank zu einem belanglosen Fleck zusammen. Dafür aber ging uns das Reich der Lüfte auf, und die Welt wurde erstaunlich groß und weit.«
Massenvergnügungen
Zu den jahreszeitlichen schichtenübergreifenden Massenvergnügungen gehörten Karneval, Fastnacht und Jahrmärkte. Carl Zuckmayer berichtet in seinen Lebenserinnerungen von der Mainzer »Meß«, der im Frühling und Herbst stattfand
»mit all seinen lockenden Buden, mit ›Ahua dem Fischweib‹, ›Lionel dem Löwenmenschen‹, ›Wallenda’s Wolfszirkus‹, ›Schichtl’s Zaubertheater‹, dem Kölner Hännesje, den Ringkämpfern und den tätowierten Schönheiten des Orients, mit dem Gewimmer der alten Drehorgel, dem Geschepper der...