Fängt nicht überall das Beste mit Krankheit an?
Novalis
Der Wille zur Schachtel
Eine einfache Erwägung zeigt, daß alle Klassifikationen, die der Mensch jemals gemacht hat, willkürlich, künstlich und falsch sind. Aber eine ebenso einfache Erwägung zeigt, daß diese Klassifikationen nützlich und unentbehrlich und vor allem unvermeidlich sind, weil sie einer eingeborenen Tendenz unseres Denkens entspringen. Denn im Menschen lebt ein tiefer Wille zur Einteilung, er hat einen heftigen, ja leidenschaftlichen Hang, die Dinge abzugrenzen, einzufrieden, zu etikettieren. Das Lieblingsspielzeug vieler Kinder ist die Schachtel. Aber auch der Erwachsene trägt immer ein unsichtbares Quadratnetz mit sich herum. Die einfache und lichte Anordnung der meisten Naturprodukte: die deutliche und bestimmte Segmentierung des Tierkörpers, die regelmäßigen Knoten des Blumenstengels, gleichsam dessen Stockwerke, die scharf geschnittenen Flächen und Winkel des Kristalls: all das ist für uns ein eigentümlich erfrischender Anblick. Wir verlangen, daß ein Gedicht Strophen, ein Drama Akte, eine Symphonie Sätze, ein Buch Absätze habe, sonst fühlen wir uns sonderbar gequält, befremdet und ermüdet. Ein Antlitz, dessen Teile sich nicht kräftig und ausdrücklich gegeneinander abheben, erscheint uns unschön oder nichtssagend. Wir verehren Menschen und Völker nach dem Grade ihrer Kunst, zu stufen, zu gliedern, zu scheiden: ja das, was wir Kunst nennen, ist fast identisch mit dieser Fähigkeit. Die griechischen Architekten und Bildhauer sind die Lehrer der Jahrtausende geworden, weil sie Meister der Einteilung, der Proportion waren; der Dichterruhm Dantes beruht zum Teil darauf, daß er die geheimnisvolle Welt des Jenseits durchsichtig und faßbar gemacht hat, indem er sie in klare Kreise zerlegte. Und die Aufgabe aller Wissenschaft hat ja niemals in etwas anderem bestanden als in der übersichtlichen Parzellierung und Gruppierung der Wirklichkeit: durch künstliche Trennung und Aufreihung macht sie die Fülle des Tatsächlichen handlich und begreiflich. Es heißt freilich: die Natur macht keine Sprünge. Aber es scheint, daß ihr die Zwischenformen, durch die sie hindurch muß, nicht das Wichtigste sind, denn sie hat keine einzige von ihnen aufbewahrt, sie benutzt sie offenbar nur als Hilfslinien und Notbrücken, um zu ihrem eigentlichen Ziele zu gelangen: den scharf gesonderten Gruppen und Reichen; was sie will, sind die markanten Unterschiede und nicht die verwaschenen Übergänge. Oder sagen wir lieber: wir vermögen es jedenfalls nicht anders zu sehen. Was uns bei der Betrachtung eines Entwicklungsganges reizt und bewegt, ist immer jener geheinmisvolle Sprung, der fast niemals fehlt; in jeder Biographie sind es die plötzlichen Erhellungen und Verdunklungen, Wandlungen und Wendungen, Taillen und Zäsuren, die unsere Teilnahme fesseln: das, was den Einschnitt, die Epoche macht. Kurz: wir fühlen uns nur glücklich in einer artikulierten, gestuften, interpungierten Welt.
Das Recht auf Periodisierung
Dies gilt ganz besonders von allem, was einen Zeitablauf hat. Die Zeit ist vielleicht von allen Schrecklichkeiten, die den Menschen umgeben, die schrecklichste: flüchtig und unheimlich, gestaltlos und unergründlich, ein Schnittpunkt zwischen zwei drohenden Ungewißheiten: einer Vergangenheit, die nicht mehr ist und trotzdem noch immer bedrückend in unser Jetzt hineinragt, und einer Zukunft, die noch nicht ist und dennoch bereits beängstigend auf unserem Heute lastet; die Gegenwart aber fassen wir nie. Die Zeit also, unsere vornehmste und wertvollste Mitgift, gehört uns nicht. Wir wollen sie besitzen, und statt dessen sind wir von ihr besessen, rastlos vorwärts gehetzt nach einem Phantom, das wir "morgen" nennen und das wir niemals erreichen werden. Aber gerade darum ist der Mensch unermüdlich bemüht, die Zeit zu dividieren, einzuteilen, in immer kleinere und regelmäßigere Portionen zu zerlegen: er nimmt Luft und Sand, Wasser und Licht, alle Elemente zu Hilfe, um dieses Ziel immer vollkommener zu erreichen. Seine stärkste Sehnsucht, sein ewiger Traum ist: Chronologie in die Welt zu bringen. Haben wir die Zeit nämlich einmal schematisch und überschaubar, meßbar und berechenbar gemacht, so entsteht in uns die Illusion, daß wir sie beherrschen, daß sie uns gehört. Schon der Wilde hat dafür seine rohen einfachen Methoden. Dem antiken Menschen, der erdiger und weniger vergrübelt war als der christliche, genügte der Schatten der Sonne, aber schon das Mittelalter erlebte die Erfindung der Uhr, und wir Heutigen, in unserer nie schweigenden Lebensangst und faustischen Unrast, haben Apparate, die den vierhunderttausendsten Teil einer Sekunde notieren. Und ebenso verhält es sich, wenn wir das Zeitmikroskop mit dem Zeitteleskop vertauschen und auf die weite Geschichte unseres Geschlechts blicken: auch hier genügt uns nicht mehr die naive und sinnbildliche Einteilung der Alten in goldene, silberne, eiserne Zeitalter, sondern wir begehren Genaueres, Schärferes, Umfassenderes. Es ist natürlich leicht, gegen alle Arten von Periodisierungen zu polemisieren und etwa zu sagen: es ist alles ein einziger großer Fluß, in langen Räumen sich vorbereitend, in langen Räumen sich auswirkend, unbegrenzbar nach beiden Richtungen wie jeder andere Fluß: man könnte ebensogut den Ozean in einzelne Abschnitte zerlegen. Aber tun wir dies nicht in der Tat sogar mit dem Ozean, indem wir Meridiane und Parallelkreise ziehen? Immer wieder wird uns versichert, es gebe überall in Natur und Leben nur schrittweise Übergänge, Grade und Differentiale. Aber wir hören diese subtilen Einwände, geben ihnen recht und glauben sie nicht. Denn es gibt auf dem Grunde unseres Denkens ein Wissen, das positiver und ursprünglicher ist als alle wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dieses angeborene gesunde und gradlinige Wissen, das dem gemeinen Mann ebenso eigen ist wie dem echten Gelehrten, schiebt derlei posthume Weisheiten von sich und beharrt auf der Forderung, daß jeder Verlauf seinen Anfang und sein Ende, seine Ouvertüre und sein Finale haben müsse. Blicken wir auf das Leben des Individuums, das sich leichter überschauen läßt als der Werdegang der Gesamtheit, so bemerken wir, daß hier die verschwimmenden Übergänge keineswegs die Regel sind, daß vielmehr der Eintritt in ein neues Lebensalter sich meist abrupt, unvermittelt, explosiv vollzieht. Plötzlich, "über Nacht" sagt das Volk, ist die Pubertät, ist die Senilität da. "Vorbereitet" ist sie natürlich stets, aber in die Wirklichkeit tritt sie meist in der Form eines überraschenden physiologischen Rucks; oft ist die Auslösung auch irgendein tiefgehendes seelisches Erlebnis. Wir pflegen dann zu sagen: "Du bist ja auf einmal ein Mann geworden", und (dies meist nur hinter dem Rücken): "Er ist ja auf einmal ein Greis geworden". In seinem sehr bedeutenden Werk "Der Ablauf des Lebens" sagt Wilhelm Fließ: "Plötzlichkeit eignet allen Lebensvorgängen. Sie ist fundamental ... Das Kind ist plötzlich im Besitz einer neuen Artikulation ... Ebenso sicher ist es, daß das Kind plötzlich die ersten Schritte macht." Geheimnisvoll wächst der Mensch im Mutterleibe, ist Wurm, Fisch, Lurch, Säugetier, und doch hat ein jeder seinen bestimmten Geburtstag, ja seine Geburtsminute. Und so kann man denn auch von der Geschichte unseres ganzen Geschlechts sagen: es gibt bestimmte Zeitpunkte, wo eine neue Art Mensch geboren wird, nicht Tage, aber vielleicht Jahre oder doch Jahrzehnte.
Die Konzeption des neuen Menschen
Aber indem wir diese Analogie etwas näher ins Auge fassen, bemerken wir sogleich einen Punkt, wo sich das Bedürfnis nach einer Korrektur geltend macht. Wann "beginnt" ein Menschenleben? Offenbar nicht im Augenblick der Geburt, sondern im Augenblick der Konzeption. Die verblüffenden und höchst aufschlußreichen Untersuchungen, die sich in den letzten Jahrzehnten, wiederum im Anschluß an Fließ, mit dem geheimnisvollen Phänomen der Periodizität beschäftigt haben, lassen denn auch ihre Berechnungen immer etwa neun Monate vor der Geburt einsetzen, dasselbe tun die Astrologen bei der Bestimmung der Nativität. Der Anfang eines neuen Geschichtsabschnitts ist also in jenen Zeitpunkt zu setzen, wo der neue Mensch konzipiert wird: das Wort in seiner doppelten Bedeutung genommen. Eine neue Ära beginnt nicht, wenn ein großer Krieg anhebt oder aufhört, eine starke politische Umwälzung stattfindet, eine einschneidende territoriale Veränderung sich durchsetzt, sondern in dem Moment, wo eine neue Varietät der Spezies Mensch auf den Plan tritt. Denn in der Geschichte zählen nur die inneren Erlebnisse der Menschheit. Aber der unmittelbare Anstoß wird doch sehr oft von irgendeinem erschütternden äußeren Ereignis, einer allgemeinen Katastrophe ausgehen: einer großen Epidemie, einer tiefgreifenden Umlagerung der sozialen Schichtung, weit ausgebreiteten Invasionen, plötzlichen wirtschaftlichen Umwertungen. Den Anfang macht also meistens irgendein großes Trauma, ein Choc: zum Beispiel die Dorische Wanderung, die Völkerwanderung, die Französische Revolution, der Dreißigjährige Krieg, der Weltkrieg. Diesem folgt eine traumatische Neurose, die der eigentliche Brutherd des Neuen ist: durch sie wird alles umgeworfelt, "zerrüttet", in einen labilen, anarchischen, chaotischen Zustand gebracht, die Vorstellungsmassen geraten in Fluß, werden sozusagen mobilisiert. Erst später bildet sich das, was die Psychiater den "psychomotorischen Überbau" nennen: jenes System von zerebralen Regulierungen, Hemmungen, Sicherungen, das einen...