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E-Book

Kurier der Erinnerung

Das Leben des Jan Karski

AutorMarta Kijowska
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl382 Seiten
ISBN9783406660740
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Jan Karski war einer der wichtigsten Kuriere der polnischen Untergrundbewegung im Zweiten Weltkrieg. 1942/43 versorgte er die Alliierten mit detaillierten Informationen über das Schicksal der Juden in Polen. Doch seine Hoffnung, sie zu einem Eingreifen zu bewegen, erfüllte sich nicht. 2011 erschien sein noch im Krieg verfasster 'Bericht an die Welt' erstmals auf Deutsch und erregte großes Interesse. Jetzt legt Marta Kijowska die erste deutschsprachige Biografie vor, die sein ganzes Leben erzählt, auch die frühen Jahre und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Jan Karski wurde 1914 in Lodz geboren und hatte eine Diplomatenkarriere vor sich, als die Wehrmacht Polen überfiel. Unter der deutschen Okkupation wurde er zu einem der aktivsten Mitglieder der polnischen Untergrundbewegung und zu einem ihrer wichtigsten Kuriere. Im Herbst 1942 wurde er auf einer speziellen Mission in den Westen geschickt. Er sollte die polnische Exilregierung und die Alliierten über die Arbeit des Untergrunds, aber auch über das Schicksal der polnischen Juden informieren. Um einen möglichst glaubwürdigen Bericht zu liefern, ließ er sich vorher ins Warschauer Ghetto und in ein Transitlager im Osten Polens einschleusen. Doch seine Versuche, die Welt zu alarmieren, blieben ohne Wirkung: Er wurde zwar in London u.a. von Außenminister Anthony Eden und in Washington sogar von Präsident Franklin D. Roosevelt empfangen, doch entweder schenkte man seinem Bericht keinen Glauben oder man blieb gleichgültig. Schockiert und enttäuscht, wollte Karski über seine Erlebnisse nie wieder sprechen. Er ließ sich in Washington nieder, wo er viele Jahre an der Georgetown University lehrte. Erst Ende der 70er Jahre gelingt es Claude Lanzmann ihn für seinen Dokumentarfilm 'Shoah' vor die Kamera zu holen. Erneut betätigt Karski sich als Kurier, diesmal als Kurier der Erinnerung.

Marta Kijowska, geboren 1955 in Krakau, lebt seit Jahren in München. Sie studierte Germanistik, war Redakteurin von 'Kindlers Literatur Lexikon', arbeitet als Journalistin für Zeitungen und Hörfunk und als Übersetzerin aus dem Polnischen. Sie veröffentlichte u.a. die Biographien Andrzej Szczypiorskis (Der letzte Gerechte, 2003) und Stanislaw Lec' (Die Tinte ist ein Zündstoff, 2009) sowie den Essayband Krakau. Spaziergang durch eine Dichterstadt (2005).

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Leseprobe

2


NACH LEMBERG


1931–1936


Lemberg ist immer eine Reise wert: Dieser Meinung ist man in Polen heute, und umso mehr war man es damals, als die Stadt noch polnisch und nicht «mit der Asche sowjetischer Hässlichkeit bestreut» (Adam Zagajewski) war. Dieser Meinung war auch Jan, als er im September 1931, zusammen mit seiner Mutter, nach Lemberg zog, wo sein ältester Bruder Karriere machte. Marians politische Standhaftigkeit hatte sich gelohnt: Nachdem Józef Piłsudski infolge des Staatsstreichs von 1926 erneut Staatsoberhaupt geworden war – drei Jahre zuvor hatte er sich aus dem politischen Leben zurückgezogen –, legte er besonderen Wert darauf, Menschen um sich zu haben, denen er vertrauen konnte. Dies galt für alle Stufen der staatlichen Hierarchie, zumal es ihm bewusst war, dass seine Politik der Sanacja – einer grundlegenden Reformierung des Landes, die auch eine moralische «Sanierung» der Gesellschaft beinhalten sollte – nicht immer auf Zustimmung, geschweige denn auf Begeisterung stieß.

Mit gutem Grund: Die Proklamierung der Zweiten Polnischen Republik (1918) lag zwar schon einige Jahre zurück, doch von vollkommener Stabilität war das Land noch weit entfernt. Und Piłsudskis Visionen, die er mit sehr autoritärem Führungsstil durchzusetzen versuchte, entsprachen nicht immer der innenpolitischen Realität. Die Parteienlandschaft war zersplittert, die wirtschaftliche Situation schwierig und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung, die aus Polen, Litauern, Russen, Ukrainern, Weißrussen, Deutschen und Juden bestand, ließ alte Konflikte aufleben und neue Spannungen entstehen. Ein Unruheherd besonderer Art waren die östlichen Grenzgebiete, wo Marian Kozielewski nun mit polizeilichen Maßnahmen an der «Sanierung» des Landes mitwirken durfte – zunächst als Chef mehrerer Kommissariate in der Provinz und dann als Kommandant der Polizei des gesamten Lemberger Bezirks.

Marian Kozielewski um 1930

Als Jan also im Oktober 1931 sein Studium an der Lemberger Jan-Kazimierz-Universität antrat, waren es nicht nur seine Leistungen und sein gesellschaftliches Talent, die ihn bald aus der Menge der Studenten hervorhoben, sondern auch das Etikett «Bruder des Polizeichefs». An seinem eigenen Karrierewunsch hatte sich nichts geändert, und auch das machte die Lemberger Universität für ihn zu einem optimalen Studienort: Sie war soeben zu einer neuen Brutstelle der polnischen Diplomaten geworden. Zu Beginn des akademischen Jahres 1930/31 wurden dort nämlich an der juristischen Fakultät drei neue Studiengänge eröffnet, u.a. ein Studium der Diplomatie. Zugelassen waren alle Absolventen des allgemeinen Jurastudiums, aber auch diejenigen, die es, ab dem zweiten Studienjahr, als Parallelstudium zu Jura oder einem anderen Fach betreiben wollten. Jan wählte den zweiten Weg: 1931 wurde er Jurastudent, ein Jahr später schrieb er sich an der Diplomatenschule ein. Eine bessere Entscheidung hätte er kaum treffen können: Leiter der Schule war Professor Ludwik Ehrlich, ein international hochgeschätzter Spezialist für Völkerrecht. Unter den Lehrern waren viele Diplomaten und Politiker, die für eine natürliche Verbindung zu den Warschauer Regierungskreisen sorgten. Und die Tatsache, dass es die einzige Schule dieser Art in Polen und eine der wenigen in Europa war, gab ihr zusätzlich einen elitären Charakter.

Auch die Universität selbst genoss einen ausgezeichneten Ruf. Durch den ständigen Ausbau der einzelnen Fakultäten war sie damals nicht nur die drittgrößte (nach Warschau und Krakau), sondern auch eine der modernsten Universitäten des Landes. Zu ihrem Lehrkörper gehörten solche Berühmtheiten wie der Philosoph Roman Ingarden, der Kunsttheoretiker Leon Chwistek oder der Literaturwissenschaftler Juliusz Kleiner. Und die reizvolle Anlage des Universitätsgeländes – in Form eines Vierecks mit dem Botanischen Garten in der Mitte –, das imposante Hauptgebäude an der Marszałkowska-Straße (früher Sitz des galizischen Landesparlaments), das Labyrinth alter, verwinkelter Straßen, über die man es erreichte und dabei am Ossolinski Verlag mit der klassizistischen Fassade und der charakteristischen Kuppel vorbeilief: All das weckte bei den Absolventen noch Jahre später nostalgische Gefühle.

Lemberg war kleiner und gewiss ganz anders als die Industriestadt Lodz. Wenn es Jan in irgendeiner Weise an seinen Geburtsort erinnern konnte, dann wohl vor allem durch seinen vergleichbaren Vielvölkercharakter. Die Stadt zählte damals ca. 360.000 Einwohner, die sich zur Hälfte aus Polen, zu einem Drittel aus Juden und sonst aus Deutschen, Armeniern und Ukrainern zusammensetzten. Lemberg war aber auch anders als Warschau, wo sich nun das politische Leben konzentrierte, oder als Krakau, das sich nach wie vor als Hüter des nationalen Kulturerbes verstand. Lemberg galt vor allem als Synonym eines bestimmten, sehr reizvollen Lebensstils – einer Mischung aus Geschäftssinn, Kultiviertheit und Lebenslust. Nicht ohne historischen Grund: In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als es die Hauptstadt von Galizien war (und die Habsburger mit ihren galizischen Untertanen sehr freizügig umgingen), hatten viele Lemberger den Ehrgeiz, ein Abbild der Wiener zu werden. Kopiert wurde alles, von den architektonischen Details über die Mode bis zu den Verhaltensmustern und Alltagsgewohnheiten. Und unter den besser gestellten Stadtbewohnern kam es oft vor, dass sie in Wien einen Zweitwohnsitz besaßen, dort studiert hatten oder ihre Kinder zur Schule gehen ließen.

Als Hauptstadt Galiziens erlebte Lemberg auch eine enorme demographische Entwicklung, und diese ging mit einer Blütezeit der Kultur und Wissenschaft einher. Dafür sorgten zahlreiche Hochschulen, Theater, Museen, Bibliotheken, Verlage und Buchhandlungen sowie diverse Gesellschaften und Freundeskreise. Nach der Wiedererlangung der polnischen staatlichen Souveränität nahm die Bedeutung der Stadt zwar merklich ab, und viele namhafte Lemberger zogen nach Warschau oder gingen in die ehemals preußischen und russischen Teilungsgebiete, um bei deren Wiederaufbau zu helfen. Ein lebendiges Kulturzentrum, das sich eine gewisse Unbeschwertheit und Nonchalance habsburgischer Provenienz bewahrt hatte, war sie aber nach wie vor. Nach dem Empfinden vieler Polen war Lemberg überhaupt das Beste, was die gesamte Zweite Republik zu bieten hatte.

Die Reize des Lemberger Kulturlebens wird auch Jan gelegentlich genossen haben. Doch in welcher Form? Besuchte er manchmal die Vorstellungen des Lemberger Theaters? Seine drei Bühnen gaben damals eine Premiere nach der anderen. War er ein Liebhaber der Oper? Vielleicht hatte er das Glück, den «König der Tenöre» Jan Kiepura zu erleben, der hier 1931 einen Gastauftritt hatte. Oder ging er lieber ins Kino und lachte in Filmen wie Charlie Chaplins Moderne Zeiten mit? Es könnte aber auch sein, dass er am liebsten in einem der vielen Kaffeehäuser saß. Im «Schottischen Café» etwa, wo sich die Lemberger Mathematiker-Elite um Stefan Banach und Hugo Steinhaus versammelte? Natürlich nicht um ihnen bei der Lösung ihrer mathematischen Probleme zu helfen, die sie in ihrem berühmten Schottischen Buch notierten, sondern um beim Schachspielen zuzuschauen. Oder, mit einem seiner jüdischen Freunde, im Café «Wiedeńska», wo sich die wohlhabende, liberale jüdische Intelligenz Lembergs traf?

Doch was immer er in seiner Freizeit tat – er betrieb seine Studien mit größter Hingabe und durfte auch schon bald die ersten Berufserfahrungen sammeln: Während der Semesterferien 1933 absolvierte er sein erstes Auslandspraktikum – er wurde vom Außenministerium an das polnische Konsulat im rumänischen Czernowitz geschickt. Auch das verdankte er seinem Bruder, der nicht nur seine Pläne unterstützte und sein Studium finanzierte, sondern für ihn auch seine Kontakte zu den Regierungskreisen spielen ließ.

Walentyna Kozielewska Mitte der 1930er Jahre

Jadwiga Lenoch-Bukowska:   Ich glaube, ohne Marian wäre Jan gar nicht der geworden, der er war. Denn er war weder ein Abenteurertyp noch ein Draufgänger. Er war sehr begabt und überdurchschnittlich intelligent, ohne Zweifel. Deshalb gelang ihm auch alles. Aber Marian hatte ihm den Weg gezeigt und die ersten Kontakte ermöglicht. Wenn Jan nichts weiter als ein guter Student gewesen wäre, bezweifle ich, ob er so eine Karriere gemacht hätte.[1]

Als besonders nützlich sollte sich der Kontakt zu Tomir Drymmer, dem Direktor des Personalbüros im Außenministerium, erweisen. Er sorgte dafür, dass Jan für sein Praktikum in Czernowitz ein Stipendium bekam, er schickte ihn auch ein Jahr später zu einem weiteren, dreimonatigen Sommerpraktikum – diesmal nach Deutschland, an das polnische Konsulat in Oppeln. Weitere Beweise seiner Gunst sollten bald folgen.

Auch für Jan selbst hatten seine Berufspläne absolute Priorität, so dass er nichts tat, was sie gefährden konnte. Und wenn, dann nur mit Widerwillen. Das galt zum Beispiel für die Mitgliedschaft in der sogenannten Jugendlegion, der er Marian zuliebe gleich nach Studienbeginn beitrat. Es war eine Organisation, die aus jungen...

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