Wir schnuppern Heimatluft im Krieg
Im BERCHTESGADENER LAND tut sich was bei den Gebirgsjägern
BERCHTESGADEN
Dezember 1940 – Februar 1941
D as Gebirgsjägerregiment 100 hatte den Aufstellungsraum der 5. Gebirgsdivision im November/Dezember 1940 erreicht. Es war aus der 1. Gebirgsdivision, der es seit der Aufstellung der Gebirgstruppen der Wehrmacht angehörte, ausgegliedert worden, nachdem der Plan „Seelöwe“1 zur Eroberung ENGLANDS nicht zur Durchführung gekommen war. Unser Divisionskommandeur wurde Generalmajor RINGEL2, unser Abzeichen wurde der Kitzbüheler „Gamsbock“ und unser Schlachtruf: „Hurra, die Gams!“
Abb. 2: Verbandsabzeichen der (neuen) 5. Gebirgsdivision
Das I. Bataillon lag im Raum BRANNENBURG, das II. Bataillon im Raum BERCHTESGADEN und das III. Bataillon im Raum BAD REICHENHALL, ihren Friedensstandorten. Alle Einheiten des Regiments waren meist in den Ortschaften der Umgebung in Privatquartiere eingewiesen worden. Die Kaserne des II./GJR 100 in der STRUB3, die erst 1939 fertiggestellt worden war, blieb durch unser Bataillon unbenutzt. Der Stab und die 10. als Stabskompanie waren direkt in der Marktgemeinde BERCHTESGADEN untergekommen. Die 6. war in SCHELLENBERG4, die 7. in KÖNIGSSEE, die 8. in der SCHÖNAU und die 9. (schwere) Kompanie im Heimatort ihres Kompaniechefs, Hptm. DIETRICH, in der RAMSAU untergebracht worden. Der Granatwerferzug, Führer Leutnant Walter PRÖHL, war dabei in den Hotels und den wenigen Privatquartieren in HINTERSEE untergekommen, bis er am 5. Januar 1941 aufgelöst und gruppenweise den in den anderen Orten liegenden Jägerkompanien zugeteilt wurde.
Abb. 3: Dislozierung des Gebirgsjäger-Regiments 100 (Ende 1940)
Durch diese Umorganisation kam die Gruppe KÖNIGBAUER zur 7. Kompanie, die Gruppe NONEDER zur 8. und die 3. Gruppe WITTGENS/BIMMESLEHNER landete bei der 6./100. Während der hinter uns liegenden Feldzüge in POLEN und FRANKREICH waren die 8-cm-Granatwerfergruppen den Kompanien zugeteilt gewesen und hatten dadurch die sofortige, wirksame Bekämpfung feindlicher MG-Nester und Laufgräben durch ihr Steilfeuer aufnehmen können. Durch diese Unterstellung im Kampf hatte es manchesmal mit der Versorgung der Gruppen mit Verpflegung gehapert, weil sie ja eigentlich einer anderen Kompanie angehörten. Und nichts war für den Kampfeswillen der Soldaten schädlicher als Hunger. Die als verloren gemeldeten „eisernen Rationen“ 5, die erst nach drei Tagen Hunger auf Befehl des Kompaniechefs verzehrt werden durften, waren beim Granatwerferzug besonders hoch. Hauptfeldwebel EHGARTNER von der Neunten bekam dadurch seine ersten grauen Haare. Durch den „Einbau“ der Granatwerfer in die Kompanien war jetzt gewährleistet, dass die „eisernen Rationen“ unangetastet in den Rucksäcken blieben. Die 9. (schwere) Kompanie stieg zur 10. (schweren) mit Pionierzug, Infanteriegeschützzug und Nachrichtenzug auf, und die nunmehrige 9. erhielt weitere schwere Maschinengewehrzüge.
Wir waren alle mit unseren Quartieren zufrieden, wurden wir doch von den Einheimischen wie die eigenen Kinder behandelt. Wir waren in heimischer Umgebung in unseren geliebten Bergen. WATZMANN, UNTERSBERG, JENNER, das HOHE BRETT und der GÖLL sahen auf uns nieder. Und in Richtung REICHENHALL konnten wir das LATTENGEBIRGE erblicken. Alles in winterliche Schneepracht gehüllt. In BERCHTESGADEN hatte sich trotz des Krieges wenig geändert. Gewiss, die Fremden kamen nicht mehr in so großen Scharen, wie es noch in Friedenszeiten üblich gewesen war.
Geld, um jeden Tag ins Wirtshaus zu gehen, hatten weder die Oberjäger noch die Mannschaften. In den Privatquartieren setzte man sich mit den Quartiergebern in der „Stub’n“ zusammen, spielte Karten, trank Berchtesgadener Hofbräu des Hausherrn und scherzte und sang miteinander. Da es genug Nebenbuhler um die Gunst der Dirndln gab, passte einer auf den anderen auf, damit niemand sagen konnte, er hätte die Marie, das Annemirl, die Sofie oder die Hedwig busserln können. Es ist klar, wenn sich ein Haufen Männer um ein einzelnes Mädchen schart, ist es gut um ihre sittliche und ethische Moral bestellt. Außerdem waren die Mädels auch darauf aus, nicht bloß mit einem Jäger, Gefreiten oder Obergefreiten gesehen zu werden. Da kamen bei den anderen Heiratsfähigen eben Neidgefühle auf, die nicht so umschwänzelt wurden. Die Herren Oberjäger hatten es da schon leichter, die weibliche Gunst zu erringen. Ihr Lametta6 zog die Mädchen schon schneller an. Aber alle sorgten dafür, dass der Ruf eines Mädchens nicht zerstört wurde. Und da viele Ehemänner eingezogen waren, war es natürlich Ehrensache, solchen Frauen die ihnen zukommende Ehrerbietung zu erweisen, damit ihr Ruf unbefleckt blieb. (Je länger der Krieg dauerte, desto unbekümmerter wurde man in Bezug auf den Ruf. Man nahm es nicht mehr so pingelig! Denn: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert!“ Aber das war ein paar Jahre später . . .)
Um die Jahreswende 1940/41 achtete man noch mehr auf den Ruf, ehrsame Hausfrau zu sein. Der totale Krieg7 war noch nicht propagiert! Und auf Jungfräulichkeit wurde noch Wert gelegt, man versuchte den Anschein zu wahren und achtete auf die Zurückhaltung der Mädchen. Doch das war mehr Aushängeschild, sich spröde zu zeigen. In der Nacht herzte und küsste man sich trotzdem ganz ungeniert. Da Verdunkelung war, konnte sowieso niemand erkannt werden. In den Heustadeln wurde geseufzt und gestöhnt, die Jugend kam zu ihrem Recht und die Maderln zu ihrem Buam. Heiraten war nicht schwierig. Wenn alle Papiere, Geburtsurkunde, Staatsangehörigkeitszeugnis und eventuell der Ahnenpass8 beim Standesamt vorlagen, war man in kürzester Zeit Mann und Frau. Und . . . – ob ihr es glaubt oder nicht – viele Ehen, die damals geschlossen wurden, halten heute noch! Und falls sich Nachwuchs einstellte, während man im Feld war ohne verheiratet zu sein, konnte dieser durch Kriegstrauung legalisiert werden. Man gab im Kompaniegefechtsstand, der zu dem Zweck etwas aufgeräumt und geschmückt worden war, vor dem Kompaniechef der in der Heimat weilenden Braut das Jawort und war fortan ohne kirchliche Trauung im heiligen Stand der Ehe, denn die Flitterwochen hatte man schon vorher genossen. Viele meiner Kameraden haben durch ihren Tod ihren Nachwuchs nie gesehen. Aber durch die Trauung waren auf alle Fälle Mutter und Kind finanziell abgesichert.
Von uns Soldaten ging keiner auf den OBERSALZBERG9, es sei denn, er hatte dort sein Mädchen wohnen oder war dort beheimatet. Von der Waffen-SS, der Leibstandarte, Abkürzung: LAH10, kamen nur die Ordonnanzen, die dienstlich Post oder sonstige Botengänge zu erledigen hatten, tagsüber in die Marktgemeinde. Ansonsten war es der Leibstandarte – Offizieren wie Soldaten – verboten, solange die Gebirgsjäger im Standort waren, abends die von den Jägern bevölkerten Gaststätten aufzusuchen. Der Grund lag noch gar nicht so lange Zeit zurück.
Abb. 4: Der Berghof Adolf HITLERS, OBERSALZBERG
Bei ihrer Rückkehr nach dem FRANKREICH-Feldzug im November 1940 hatte die SS im Markt das Bild beherrscht. Vermutlich war es den Mädels egal, ob „er“ den grauen Rock mit dem Adler am Arm und den Runen auf den Kragenspiegeln oder den Adler an der Brust und das „Edelweiß“ am Arm hatte. Hauptsache, er war ein Mannsbild! Als nun die Gebirgsjäger tagsüber und auch abends zu sehen waren, schwenkten die Mädels um. Wir mit unseren geflickten Uniformhosen und ausgewaschenen Uniformröcken hatten auf einmal mehr Schlag beim weiblichen Teil der Bevölkerung. Außerdem sprachen die „Jaga“ den gleichen Dialekt, während sich die Leibstandarte vorwiegend aus „Preiß’n“ rekrutierte. Diese hatten wohl die vornehmeren Uniformen an – vor allem ungeflickte – und so setzte denn das Pokern um den Mädchencharme, um das Gewinnen weiblicher Begleitung zum Verschönern der dienstfreien Stunden ein.
Die Gebirgsjäger gewannen diesen Zweikampf.
Er wurde eines Tages beim Buhlen um die Gunst der Schönen mit Fäusten, Bierkrügen und Stuhlbeinen unter Zertrümmerung eines Lokals ausgetragen. Einige von uns hatten wohl „Veilchen“, aber die stärker Blessierten und vor allem in ihrer Ausgehuniform Derangierten waren die Leibstandartler. Unser Kommandeur, Major FRIEDMANN, wurde zum Berghof befohlen. Da er ein Weltkriegsmann aus Adolfs gleichem Regiment11 war, kamen wir mit drei Tagen Ausgangssperre davon. (Sie wurde nie eingehalten, denn Einsperren ließ sich ein Jäger nur ungern, und wer wollte denn schon kontrollieren, ob jeder nach Dienstschluss zu Hause im Quartier blieb?) Der LAH wurde jedoch verboten, in der Zeit während das Gebirgsjägerbataillon II./ 100 in seinem Standort lag, die...