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E-Book

In langer Reihe über das Haff

Die Flucht der Trakehner aus Ostpreußen

AutorPatricia Clough
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641135362
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Eine dramatische Geschichte, lebendig und eindrücklich erzählt
Am 16. Oktober 1944 flohen vom ostpreußischen Gut Trakehnen Pferde und Menschen über das zugefrorene Frische Haff nach Westen. Das 200 Jahre alte, weltberühmte Gestüt musste sich vor der Roten Armee retten. Tausende von Pferde legten ohne Futter und Wasser Hunderte von Kilometern zurück, viele von ihnen verendeten. Sie brachten ihre Lasten durch bittere Kälte, Eis und Schnee, durch Feuer und Bombenhagel. Die Pferde bewahrten die Ostpreußen schließlich vor Tod, Vergewaltigung, Gefangennahme, Deportation und Zwangsarbeit. Und die Ostpreußen retteten ein großes Kulturgut: ihre Pferde.

Patricia Clough, 1938 in England geboren, hat viele Jahre als Korrespondentin für große britische Tageszeitungen wie die Times und den Independent aus Deutschland berichtet. Bei DVA erschienen von ihr: Hannelore Kohl. Zwei Leben (2002), In langer Reihe über das Haff. Die Flucht der Trakehner aus Ostpreußen (2004) und zuletzt Aachen - Berlin - Königsberg. Eine Zeitreise entlang der alten Reichsstraße 1 (2007).

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Leseprobe

1

Donnergrollen aus dem Osten

Was war das?

Ein Geräusch von fernem Donner brach in den Sommertag ein.

Da war es wieder, vom Wind über die sonnigen Wiesen und Wälder getragen. Die Pferde auf den Koppeln bäumten sich auf und jagten mit geblähten Nüstern nervös umher, die dunklen Augen furchtsam geweitet. Auf den Feldern und bei den Ställen hörten es auch die Landarbeiter, die Lehrjungen und die uniformierten Gestütwärter. Ängstlich versuchten sie die Entfernung zu schätzen. Dreißig, vierzig Kilometer vielleicht, noch auf der anderen Seite der Grenze, aber dennoch erschreckend nahe.

Ihre Sorge stand unter Strafe. Immer wieder war ihnen versichert worden, daß die Rote Armee keinen Fuß auf deutschen Boden setzen würde. Sie sollten sich auf das militärische Genie ihres Führers verlassen, der Deutschland zum Endsieg führen würde. Der Führer verfüge über »Wunderwaffen«, die er zu gegebener Zeit einsetzen würde, um den Feind zu vernichten. Es war verboten, über ein Weggehen zu sprechen – das sei defätistisch. Jeder, der zu flüchten versuchte, galt als Saboteur. Darauf stand die Todesstrafe.

Die meisten Ostpreußen akzeptierten, was die Autoritäten sagten. Wenige wußten, was tatsächlich vor sich ging. Sie hatten Hitler und seinen Gefolgsleuten vertraut. Gleichwohl fanden sie manches zutiefst beunruhigend, was sie mit eigenen Augen sahen und mit eigenen Ohren hörten. So nahm mit der Zeit die Anzahl derjenigen, die immer noch glaubten und vertrauten, rapide ab. Zu Hause packten die Frauen heimlich noch eine Kiste und verstauten noch einen Schinken als Proviant für ihre Reise. »Wann fahren wir?« fragten sie immer wieder. Aber die Antwort war wieder einmal Schweigen.

Dr. Ernst Ehlert hatte das Geräusch auch gehört. Es bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Er trug eine große Verantwortung, und doch waren ihm die Hände gebunden. Als Landstallmeister von Trakehnen, dem ältesten, berühmtesten und renommiertesten staatlichen Gestüt in Deutschland, waren ihm 1200 der herrlichsten Pferde der Welt anvertraut. Einen Steinwurf entfernt von dem weiß verputzten, einem Schloß ähnelnden Landstallmeisterhaus, seinem offiziellen Wohn- und Amtssitz, grasten auf den Koppeln Pferde, so weit das Auge reichte, wundervolle Erben einer mehr als zweihundert Jahre alten, hochqualifizierten, zielgerichteten Zucht. Geschmeidige, elegante Tiere, die Zähigkeit, Schnelligkeit, Intelligenz und Ausdauer mit erstaunlicher Anmut und Schönheit verbanden. Die Trakehner waren der Traum eines jeden Reiters, vollendete Kavalleriepferde und für Kenner wie Ehlert ein unvergleichlicher Gen-Pool. Dieser Kernbestand der Rasse war vielleicht der größte Vermögenswert, den Ostpreußen besaß, eine Hauptquelle seines Ruhmes, seiner Einkünfte und seines Stolzes. Und doch wurde ihr Leben, wie das der 3400 Menschen, die sich um sie kümmerten, mit wahnwitziger Leichtfertigkeit aufs Spiel gesetzt.

Die ganzen Monate Juni und Juli 1944 über hatte die Rote Armee ihre Kräfte an der anderen Seite der Grenze zusammengezogen und den Einmarsch nach Ostpreußen vorbereitet. Es war beängstigend genug, daß Trakehnen so dicht an der Grenze lag. Doch kürzlich hatte die Luftwaffe noch zwei Feldflugplätze auf dem ausgedehnten Gestütgelände angelegt, einen davon unmittelbar neben der Paradekoppel. Der Lärm der Jagdmaschinen verschreckte die Tiere, und nicht nur das: Die Flugzeuge machten das gesamte Gebiet zu einem Hauptangriffsziel der sowjetischen Bomber. Nach aller Vernunft mußten Pferde und Personal flüchten, je schneller, desto besser. Doch diejenigen, die die Entscheidungen trafen, waren Vernunftgründen nicht zugänglich.

Pläne zu einer Evakuierung Trakehnens im Kriegsfalle existierten bereits. Ehlert hatte sie selbst nach seinem Dienstantritt 1931 zusammen mit den örtlichen Behörden und dem Landwirtschaftsministerium entworfen, obwohl damals ein Krieg in weiter Ferne lag. Die Pferde sollten nach Westen gebracht werden, in das als sicher geltende »Heilsberger Dreieck«, eine stark befestigte Region um die ostpreußische Hauptstadt Königsberg und den Hafen Pillau. Doch diese Pläne schlummerten in einem Safe in Berlin. Wer würde es wagen, sie hervorzuholen? Das wäre gleichbedeutend mit Hochverrat. Darüber dachte Ehlert lieber nicht nach. Er hatte bei seinen Vorgesetzten im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft immer wieder angefragt, welche Vorbereitungen für die Evakuierung getroffen würden. Bislang hatte er noch keine Antwort erhalten. So konnte er nur im geheimen Überlegungen anstellen, alles andere war gefährlich. Die Gestapo ließ das Gestüt nicht aus den Augen, und potentielle Informanten gab es überall.

Ernst Ehlert war nicht der einzige, der sich sorgte. In ganz Ostpreußen befürchteten Privatzüchter, ein paar Dutzend Großgrundbesitzer und über zehntausend Kleinbauern Schlimmes nicht nur für ihre Familien und ihren Besitz, sondern auch für die edlen Tiere, die einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sicherten. Denn Ostpreußen war das Land der Pferde. In diesem schönen, sanfthügeligen Landstrich zwischen der Ostsee im Westen und Litauen im Osten, der Memel im Norden und Polen im Süden war Zucht und Aufzucht der Pferde einer der wichtigsten Erwerbszweige. Die Ostpreußen deckten zum guten Teil den Bedarf des Heeres, ihre Pferde hatten unzählige internationale Wettbewerbe in ganz Europa gewonnen, unter anderem drei Goldmedaillen und eine Silbermedaille bei den Olympischen Spielen von 1936, und viele tausend Tiere wurden jedes Jahr in die ganze Welt exportiert. Hier waren Pferde kein Statussymbol und kein Hobby der Reichen – sie waren ein Teil des Lebens.

Ostpreußische Bauern, Landarbeiter und Züchter lernten schon in früher Kindheit, mit Pferden umzugehen. Wie Franz Scharffetter, Sohn eines angesehenen Züchters, der noch ein Kleinkind war, als er vor seinem Vater im Sattel saß. Peter Elxnat, Sproß einer der ältesten Züchterdynastien, konnte ohne Sattel reiten, noch bevor er in die Schule kam. Brigitte Pflaumbaum lief von der Schule gleich in den Stall, um ihrem Vater zu helfen. So lernte sie noch als Kind, Pferde zu beurteilen, und konnte ihrem Vater stundenlang zuhören, wenn er von den Erlebnissen mit seiner intelligenten Stute Akurate erzählte.

Anders als in ähnlichen Zuchtregionen in den Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion gab es in Ostpreußen wenige Gegenden, in denen Tierherden frei umherschweifen konnten, denn abgesehen von den Wäldern und den Seen war die Gegend durchgehend kultiviert. So spannten die Bauern ihre eleganten Stuten vor Pflüge und Heuwagen und bearbeiteten den Boden, während nicht selten die Fohlen neben ihren Müttern hertrotteten. Die ostpreußischen Bauern besaßen fünfzig Prozent mehr Pferde als die Bauern in Westeuropa, denn hier waren die Winter länger und kälter, und die Vegetationszeit war sechs Wochen kürzer. Hier brauchte man schnelle und ausdauernde Gespanne, damit sie in der kurzen Zeit Pflügen, Aussaat und die Ernte bewältigten. Einmal im Jahr brachten viele ostpreußische Züchter ihre Stuten zur nächstgelegenen staatlichen Deckstation, um sie von einem sorgfältig ausgewählten Hengst decken zu lassen, und verkauften später das Fohlen für eine ordentliche Summe, um die Einkünfte aus der Landwirtschaft aufzubessern.

Trakehnen war zwar der Mittelpunkt der ostpreußischen Pferdezucht, hier wurde die Rasse beständig verbessert, veredelt und an die Erfordernisse der Zeit angepaßt, doch es war umgeben von zahlreichen privaten Gestüten und Bauernhöfen, in denen ebenfalls hervorragende Nachkommen von Trakehner-Zuchthengsten geboren wurden.

Es gab einige wenige sehr große Gestüte, wie Weedern am Ufer der Angerapp. Weedern wurde von Anna von Zitzewitz geleitet, der Witwe des berühmten Züchters Eberhard von Zitzewitz, der eine erstklassige Fuchsherde aufgebaut hatte. Anna, eine attraktive, geistreiche und energische Brünette, hatte sechzehn Kilometer entfernt in Kleszowen ihr eigenes renommiertes Gestüt geleitet, als sie von Zitzewitz heiratete. Nach seinem Tod im Jahre 1934 übernahm sie beide Anwesen mit insgesamt fünfhundert Pferden.

Am weitesten westlich lagen die weitläufigen Ländereien der von Kuenheims in Juditten, berühmt für ihre Braunen, und die von Alexander Fürst zu Dohna in Schlobitten und Prökelwitz, die die Fürstin, Tochter eines Züchters und Rennpferdbesitzers, mit züchterischem Gespür leitete. Sie hatte Ehlert dazu gebracht, ihr in einem Tauschgeschäft gegen den späteren Hauptbeschäler Polarstern den schwarzen Indra zu überlassen, und dieser hatte eine lange Reihe großartiger Söhne und Töchter hervorgebracht. Sie ritt am liebsten im Damensitz, wie sie es in ihrer Jugend von dem Sattelmeister des Kaiserlichen Marstalls gelernt hatte.

Zahlreiche Züchter waren Nachfahren der Protestanten aus Salzburg, die hier in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesiedelt worden waren. Zu ihnen gehörte auch Franz Scharffetter. Franz war der Sohn Johann Scharffetters, eines Mannes, dessen enormer Leibesumfang, Walroßbart und exzentrisches Wesen in der gesamten Provinz ebenso bekannt waren wie seine Vorliebe für das Nationalgetränk der Ostpreußen, das ihm den Spitznamen »Grogkönig« eingebracht hatte. Johann hatte 1895 das abgewirtschaftete Gut Kallwischken nahe Insterburg übernommen und es in eines der besten Privatgestüte Ostpreußens verwandelt. 1929 übergab er es seinem Sohn Franz, der mit seinen Stuten viele Preise gewann und Hengste züchtete, die eine wichtige Rolle in der ostpreußischen...

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